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19

Die paar Stunden vor dem ersten Hahnenschrei und Morgendämmern – da liegen die Straßen weithin, endlos, leer. Die Hupen schweigen. Die Räder ruhen. Die Schienen. Die Schellen. Man hört beinahe unheimlich die Stille. Berlin schläft.

Berlin schläft nicht, da, vom Alexanderplatz bis zum Bahnhof Börse. Da ist, die Nacht hindurch, die Nacht laut von Stimmen, hell von Lichtern, bewegt von Gestalten, voll von Wagen und Waren.

Bald wird er knurren – der Magen Berlins. Am Alexanderplatz rollt es heran. Da karrt es. Da schleppt es. Fische aus Fluß und See. Kreatur aus Feld und Stall. Früchte aus Nord und Süd. Grünkost und was tausend Hühnerställe geben, und Molkereien und Kartoffeläcker und Gärtnerbeete. Es türmt sich zu bunten Gebirgen, es ordnet sich zu farbigen Paletten unter den weiten, niederen, verglasten Gewölben. Bald wird er es schlucken – der Magen Berlins.

Es war schon spät, nach der Wanduhr der Zentralmarkthalle, zwischen sieben und acht Uhr morgens, als sich der Schlosser Werner eilig seinen Weg durch das Schlaraffenland bahnte. Aber noch stauten sich in den Gassen zwischen der Dircksen- und der Neuen Friedrichstraße die Wagen- und Karrenburgen. Noch standen die offenen Güterwaggons neben den offenen Schuppen. Hundert Hände hantierten auf freier Straße. Kisten stapelten sich auf den Bürgersteigen. Packpapierfetzen, Gemüseabfälle, Strohwische, Roßäpfel deckten die Fahrbahnen. Ein Geruch von Orangen, Käse, blutigem Fleisch, Blumen kämpfte in der staubgrauen Luft.

Zwischen den Händlern, den Helfern, den Hausfrauen, den Gastwirten, den Kutschern lief die Gontardstraße entlang die Hilde Lüders, unfrisiert, bleich, übernächtig, mit fiebernden hellbraunen Augen. Sie blieb stehen. Sie legte die Hand aufs Herz. Sie holte Atem.

»Na, endlich ...«

»Ja. Ich hab' nämlich verschlafen!« sagte der junge Mann vor ihr heiter. »Aber da bin ich ja nun – noch vor Toresschluß!«

Es zuckte ihm gutmütig und amüsiert um die Mundwinkel, wie er dem blassen Obstfräulein in die verwirrten und aufgeregten Züge sah.

»Na – Sie Räuberbraut ...? ... Ich glaube, Räuberbraut wären Sie am liebsten! ... den guten Menschen ein Schnippchen schlagen ... Romantik – und wenn's Katzen hagelt ...«

»Ach – ich bin in solcher Angst ...«

»Haben Sie heute nacht tüchtig von Verbrechern und Verbrecherkellern geträumt?«

»Ich hab' nicht viel Zeit zum Träumen ...« Die Worte fielen dem Obstfräulein abgerissen, verstört von den blutleeren Lippen. »Ich muß jeden Morgen um vier Uhr 'raus und in der Halle einkaufen. Das wird nachher schon in den Laden gebracht. Ich bin jetzt frei. Kommen Sie da lang! Ich muß mit Ihnen reden!«

Und im Weitergehen mit erstickter Stimme:

»Ich hab' Sie doch gestern abend schon gewarnt! Sie sind doch in Gefahr! Sie können doch hier nicht bleiben! Die Polizei muß Sie ja finden!«

»Na, wenn schon!«

»Sie müssen fort! Sie werden seit gestern abend beobachtet! Ich ja natürlich auch! Zwischen meinem Laden und Ihrem Hotel – da bummeln sie hin und her ... Die tun so, als wären sie Arbeitslose. Die haben sich von mir aussortierte Tiroler Äpfel schenken lassen. Den einen vom Revier – den kenn' ich schon – den mit dem schwarzen Vollbart!«

»Aha!«

»Ach – da ist nichts zu lachen! Vielleicht wartet der jetzt schon bei Feuerstake auf Sie! Deswegen hab' ich Sie ja hierher an die Markthalle bestellt, damit man uns nicht dort beisammen steht! Ich will Ihnen doch helfen!«

»Das ist nett von Ihnen!«

»Kommt Ihnen das wirklich komisch vor? Mir verschlägt's 'rein die Puste! ... Gotte doch: Ich seh' Sie ja schon Tüten kleben!«

»... oder Wolle zupfen ...«

»Ist denn das eine Beschäftigung für einen Mann wie Sie? Und wenn Ihnen selbst an Ihrem Leben nichts liegt, dann denken Sie doch an Ihre Leute! Sie bringen ja Ihre ganze Kolonne mit ins Schlamassel!«

»Wen? ... Ach so: meine Spießgesellen? ... Ja – das ist die gefürchtete Höllenkolonne – wissen Sie ... die immer als Erkennungszeichen die blutige Hand an die Litfaßsäulen klatscht!«

»Und wenn Sie mich zehnmal veräppeln!« Das Obstfräulein rang mit Tränen. »Nach Ihnen soll sich der Staatsanwalt umsonst die Finger lecken!«

»Bravo!«

»Ich hab' heut' nacht – ich hab' natürlich nicht schlafen können ... Ich zappel' ja mit allen Nerven – da hab' ich mir überlegt: Bei mir, oben in der Kamurke, da kann ich Sie nicht verstecken! Das schnüffeln sie ja gleich heraus ...«

»Ja. Das sind dolle Burschen, die Detektivs, mit der Stummelpfeife und den hellseherischen Nasenlöchern. Das kenn' ich vom Kino! Sie sind wohl Stammgast im Kino, Hilde?«

»Aber da hab' ich 'ne Freundin. Die tippt. Draußen in der Frankfurter Allee!«

»Ist die auch so romantisch veranlagt wie Sie?«

»Die macht so was gleich mit! Begeistert! Die bringt Sie bei sich unter! Na – und dann helfen Ihnen doch Ihre Leute weiter – nachts im Auto – nicht wahr?«

»Freilich! Das ist eine verzweifelte Bande!«

»Geld habt ihr doch immer?«

»Na – wozu bricht der Mensch sonst ein?«

»Sonst ...« Die Hilde Lüders zögerte, mit einem warmen Schein auf den blassen Wangen. »Ich könnte ja auch von meinem Ersparten ...«

»Sie haben ein goldenes Herz, Hilde!« Der junge Mann blieb nachdenklich an einer Straßenbahnhaltestelle stehen. »Nun sagen Sie nur eines: Warum bestärken Sie mich in meinem sündhaften Lebenswandel? Ich hätte mir gedacht, Sie würden mir zureden, künftig ein guter Mensch zu werden!«

»Pah – was hat denn der Mensch davon, daß er gut ist?« Die Hilde Luders warf den wirren Braunkopf in den Nacken. »Ich leb' so bei der ollen Tante, wie's die Leute wollen! Ich lass' mir nichts zuschulden kommen! Na, und? Man verwelkt. Irgendwo draußen ist's Leben! Aber nicht für unsereinen. Keiner dankt's einem! Aber mein Herz wenigstens – das gehört euch!«

»Danke!« Der Schlosser Werner nahm die feinen, langen Finger des Obstfräuleins in seine braune Arbeitshand. »Ich danke Ihnen wirklich, Hilde! Sie meinen es gut mit so einem Fehlschuß der Schöpfung wie mir! Aber nun muß ich da in die Elektrische! Wohin? Na – auf meinen Arbeitsplatz! Machen Sie nicht so ein unglückliches, enttäuschtes Gesicht. Auf Wiedersehen! Ich komme gerade noch um acht Uhr zurecht!«

In der Reparaturwerkstatt standen die vierräderigen Kampfunfähigen vom Schlachtfeld der Straße. Geknickte Stoßstangen. Verbeulte Kotflügel. Tropfende Kühler. Luftlose Schläuche. Gesplitterte Scheiben. Schwerverwundete mit krankem Motor, gebrochenen Wellen. Gummischlangen am Boden. Benzingeruch. Dröhnender Hammertanz. Grünliches Flammenzischen. Wassergeplantsch. Ventilgeknatter. Durch den Lärm der Garagenmeister Zwickel:

»Die Frau Hüsgen hat ja nun ihren Wagen! Was will sie denn noch, Werner?«

»Ja – ich soll heute noch mal nachschauen!«

»Der Lambert Zwölf ist doch in Ordnung?«

»Na, völlig! ... Aber sie ...«

»Sie hat doch vorhin telefonieren lassen, daß sie sich darauf verläßt, daß wer kommt!« schrie der Tankwart Fritze von der sprudelnden Zapfsäule im Hof »... ›Aber derselbe Mann wie gestern!‹ hat die Anjestellte durch die Strippe gepiepst! ›Zu dem hat die jnädige Frau Zutrauen!‹ ...«

»Heirate ihr, Mensch!« rief der Lackierer Staubitz in einem regenbogenfarbenen Leinenmantel. Und der Monteur Nonnenmacher, die Flügelschrauben eines Rads festzwickend:

»Denn wirste Alpenfahrer –!«

»Die wird gerade auf Wernern warten!«

»Wat denn? Heutzutage is nischt unmöglich! Kesser Junge wie der! Der knickt die Herzen aus'm Handjelenk!« »Die is leider schon vergeben!« Der Schlosser Werner zog seine blaue Bluse an. »Also, Herr Zwickel: mittags trudel' ich 'raus zu Frau Hüsgen in den Grunewald!«


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