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»Sie müssen mir heute noch den Ale zeigen, sobald ich die Geschichte mit der Fränze bei dem Doktor Schraubt in seinem Sprechzimmer da drinnen geordnet hab'!« sagte zu gleicher Zeit draußen im Norden Berlins Werner Wiebeking zu der Hilde Lüders. »Oder – da Sie wieder Ihre eigensinnigen Naslöcher aufsetzen – den Mann zeigen, den Sie gestern in der Pionierstraße gesehen haben!«

»Das sowieso!« sprach das Obstfräulein träumerisch vor sich hin lächelnd.

»Herr Doktor Schraubt ist nur noch einen Augenblick beschäftigt!« Eine alte Haushälterin schlurfte aus dem Nebenzimmer, in der Hand die Karte, die ihr der Dr.-Ing. Wiebeking wortlos, etwas abseits von der Hilde Lüders, gegeben. Der junge Mann nickte. Er sah sich in dem kahlen, weißgetünchten Raum voll hoher, offener Büchergestelle um. Er stand auf und las die nächsten Titel: Archive für Kriminalwissenschaft in drei, vier Sprachen – Polizei-Fahndungsblätter – Zeitschrift für produktive Strafentlassenen-Fürsorge, herausgegeben von Dr. Josef Schraubt – es dünstete aus der Bibliothek dieselbe Stickluft von Gerichtssälen und Gefängniszellen, die als Armeleutegeruch in dem saalartigen, leeren Warteraum brütete.

Werner Wiebeking trat an das Fenster. Rund um das alte, düstere Haus, das der Sonderling mit seiner Wirtschafterin allein zu bewohnen schien, dehnte sich jene seltsame, einsame, menschenleere Gegend des Berliner Nordens, in der die Weltstadt sich in ein weitläufiges, stilles Gewirr von Krankenhäusern, Wäldchenstücken, Kirchen, Lagerplätzen, Friedhöfen, Museen auflöste. Es war, als sei man gar nicht mehr in Berlin.

Der Dr.-Ing. Wiebeking fuhr aus seinen Gedanken auf und drehte sich hastig um.

»Um diesen Ale zu ermitteln, Hilde ...«

»Das wird lange dauern, bis ich die vier Millionen Berliner alle besichtigt hab'!« sagte das Obstfräulein ironisch.

»... dafür gibt es einen Weg! Der große Unbekannte hat vor nicht langer Zeit an einem Gartenfest in einer Villa im Grunewald teilgenommen. Ich war auch dort!«

»Das glaub' ich, Herr Werner!«

»Unter den paar Dutzend glattrasierten, jüngeren Herren, die damals in der Villa Hüsgen waren, muß er sich befunden haben!«

»Ganz gewiß!«

»... und mit diesen Leuten muß ich Sie der Reihe nach unauffällig zusammenbringen – und dadurch auch einmal mit dem Ale selber ...«

»Sie sind ja schon dabei!« Die Hilde lachte.

»Nun versprechen Sie mir eines: Wenn Sie irgendwie plötzlich den bewußten Mann von gestern erkennen ...«

»Ja.«

»... dann geben Sie mir ein unmerkliches Zeichen! Tun Sie, als sei Ihnen etwas ins Auge gekommen, und fahren Sie sich rasch einige Male mit dem Zeigefinger über die Lider ...«

»Gern.«

»Lächeln Sie nicht immer so wahnsinnig! Es macht einen ganz nervös!«

»Es ist zu komisch, wie Sie hinter sich selber her sind!« Das Obstfräulein sah träumerisch zur Decke.

»Es ist wahrhaftig nichts Komisches an dieser Jagd hinter einem unsichtbaren Menschen, der zwischen uns herumgeht ...«

»Uns, Herr Werner?«

»Nein – ich meine ... in Kreisen herumgeht, in denen jeder Verdacht geradezu lächerlich wäre! Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: der Doktor Schraubt da drinnen war an jenem Abend auch unter den Gästen ...«

»Herr Doktor läßt bitten!« meldete die Haushälterin.

Eine entlassene, junge, freche Lasterfratze schob sich aus dem Nebenzimmer über die Schwelle und an den beiden vorbei. Innen erhob sich die massige Gestalt des Privatgelehrten hinter einem riesigen Arbeitstisch. Die Sonne schien hell auf den mächtigen, kurz behaarten Rundschädel mit den großen Ohren. Die groben Züge blickten klug und finster. Eine platzanweisende Bewegung der breiten, flaumbedeckten Hand.

»Dies Fräulein hier, Herr Doktor, soll Ihnen berichten, wie sie gestern unsere Schutzbefohlene wiedergefunden hat!«

Die Hilde Lüders saß dem Menschenfreund gegenüber. Sie sah ihm frei ins Gesicht. Sie hielt die Hände im Schoß verschlungen. Sie rührte sich nicht, während sie erzählte. Als sie geendet, folgte drüben ein beifälliges Nicken. Eine dumpfe Stimme.

»Danke sehr, Fräulein! Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Doktor ...«

... Herr Doktor ... Das Obstfräulein hörte es und schaute rasch nach Werner Wiebeling hinüber und verbiß ein Lachen.

»... daß wir die Fränze Häselich umgehend nach Ostpreußen bringen! Ich werde sofort suchen, sie auf ihrem Spreekahn zu ermitteln und halte Sie über die Angelegenheit auf dem laufenden! Guten Morgen, meine Herrschaften!«

»Da ist nun schon einer aus der schwarzen Liste ausgeschaltet, in der sich der, den Sie gestern in der Pionierstraße gesehen haben, befindet!« sagte lachend auf der Treppe der junge Mann zu der Hilde Lüders, und die schüttelte energisch den Kopf.

»Nein – der Herr da oben – der war es ganz bestimmt nicht!«


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