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30

Da, wo die Fränze Häselich aus dem Tunnel wieder in das Berlin unter den Nachthimmel hinaustrat, dehnte sich breit, menschenleer, düster die Gartenstraße, graue Häuser auf der einen Seite, auf der andern die hohe Böschung der Stettiner Bahn.

Sie schritt die dunkle Zeile des Berliner Nordens hinunter und weiter durch das Gassengewirr des innersten Berlin. Es war ein weiter Weg bis zur Spree. Die Straßenbahnwagen rollten vorbei. Sie stieg in keinen. Sie ging zu Fuß, immer langsamer, als könnte sie dadurch etwas, was kam, verzögern.

Sie versuchte stehenzubleiben und mußte doch weitergehen – nicht weil die Menschen im Gewühl des Molkenmarkts sie schoben, sondern weil ein verzweifelter, blinder Gehorsam sie trieb. Und da war schon das dunkle Land. Das dunkelste Berlin, in seinen versprengten, schwarzen Oasen zwischen dem Scheunenviertel und dem Schlesischen Tor.

Unheimlich, wie ein Filmgebilde, mit Ketten abgesperrt, die Wolfsschlucht des Krögel. Gleich dabei, schwarz, weit, lichtzitternd die Spree. Da, zum Fluß hinab, rechts die nachtverschwommene, einsame Ruinenwelt abgerissener Baracken, links windüberpfiffen, menschenleer die Schlünzigstraße. An der einen schiefen Hauswand eine Reihe rot erhellter, ebenerdiger Fenstervorhänge unter der verwitterten Tafel ›Krügers Restaurant‹.

Rauchblaue Glühluft, in die die Fränze eintrat. Geruch von Bier, ungewaschener Menschenhaut, Bratkartoffeln. ›Ich möcht' einmal wieder in Grinzing sein!‹ flennte mit Wiener Schmalz die Schallplatte. Wehmütige Weiberstimmen sangen, im Geschunkel, mit. Ihre Freunde, die Hüte auf dem Kopf, schauten zu. Die Fränze stand und starrte ratlos die Stammgäste ihres Stiefvaters an, verzweifelt, verängstigt, wie ein von den Hunden gestelltes Stück Wild: Den übernächtigen, eleganten Blaumüller. Den behäbigen Butterkopf. Den schwindsüchtigen Amtmann. Goldhäschen, den gelöckelten Riesen in Damenwäsche. Den Halbtoten. Den Länglich. Den Blitz-Ede. Den Feldprediger. Die ganze Kolonne.

Und dann saß drüben allein am Tisch einer – ein frischer, sportzäher, junger Mann, rotblond, blauäugig, bartlos das forsche, kluge Gesicht. Der sprang bei ihrem Anblick empor und trat mit unwillig gekrauster Stirne auf sie zu.

»Ja aber – Fränze! Vorhin hört' ich, Sie sitzen wieder, als wäre nichts geschehen, mit der ganzen Schwefelbande zusammen, und bin hierher, um mich selber zu überzeugen! Dazu hab' ich Sie doch weiß Gott nicht in das Haus meiner Eltern gebracht!«

»Ich hol' doch bloß meine Sachen, Herr Doktor! Die gnädige Frau hat's doch erlaubt!«

»Warum trödeln Sie denn dann hier seit Stunden herum?«

»Der Korb ist schon gepackt! Ich hol' ihn gleich 'runter ...«

»Und Ihre bisherigen Freunde lassen Sie wirklich damit ohne weiteres ausrücken?«

»Herr Doktor sehen's ja! ... Ach ... das sind ja ganz friedliche Menschen! Die haben nur so 'nen Ruf ...«

»Das ist ja 's Neueste ...«

»Sie treten ja Herrn Doktor auch nicht auf die Stiefelkappe!«

»Nee! Im Gegenteil! Ich genieße hier, scheint's, allgemeine Achtung! Warum – wissen die Götter ...«

Die Fränze zuckte zusammen. Sie stand mit hängendem Kopf traurig und stumm. Er nickte ihr jetzt wieder freundlich und aufmunternd zu.

»Also los! Aber machen Sie bißchen fix, Kind! Sie gehen ja wie 'ne alte Frau!«

Die Fränze sagte nichts. Sie schaute ihn nicht an. Sie schluckte schuldbewußt und schleppte sich widerwillig, die wirren Augen am Boden, die Treppe empor. Unter rief Werner Wiebeking:

»Bitte, Herr Wirt – zahlen!«

Aber der Säbelbeinige hinter dem Schrägen zwinkerte pfiffig und leutselig.

»Det Jlas kostet nischt, Herr!«

»Wie komme ich denn zu der Ehre?«

»Na – Jott – unter Jeschäftsfreunden!« Der kleine Kerl scheuerte verschmitzt mit seiner schmuddeligen Schürze die Rollmopsreste von einem Teller.

»Was machen mir denn für Geschäfte miteinander?«

»Na – hoffentlich jute!« ... Der rote Wurstfinger wies nach den Tischen. »Die Jungen drüben grienen ooch schon so hoffnungsvoll!«

»Gestern auf meinem Zimmer waren sie nicht so gemütlich!« sagte der junge Mann. »Bis dann so 'ne Art Preisboxer auf der Bildfläche erschien und ...«

»Der Dicke? Der is vorhin weg. Aber der Dicke is treu wie Jold! Auf den Dicken können Sie vierstöckige Häuser bauen!«

»Ich ...?«

»Na – es is doch dicke Luft um den Dicken!« Vertraulich, im Schäumen des Bierhahns: »Es liegt doch wat in der Luft. Aber ick halt' de Luft an! ... Immer! ... Neulich – bei 'ner Vernehmung uff'n Revier, ob ick nich mal jesprächsweise im Lokal wat von dem Nachtdoktor jehört hätte – da haben se gemeckert: ›Mensch – nu redense doch!‹ und ick: ›Bedauere! Der Brotladen is jeschlossen!‹ ...«

»›Ick bin kein Lautsprecher‹ – hab' ick jesagt ...« Der Kleine grinste. »›Det Lautsprechen‹ – hab' ick jesagt – ›überlass' ick vertrauensvoll dem Herrn Wachtmeister!‹ ... Sich ausschweigen in allen Lebenslagen – det 's immer jesund für die Brust! Na – det wissen Sie ja selber! ... Nu ...« der Glatzkopf schmunzelte schmierig-väterlich, »da kommt se ja ... unser Fränzchen ... mit's Jepäck ...«

»Ich werde gehen und sehen, wo ich hier 'ne Taxe auftreib'!« sagte der Dr.-Ing. Wiebeking. Der Pfiffikus hinter dem Schenktisch zwinkerte vertrauensselig mit den wässerigen Schnapsäugelein.

»Is schon von mir jefummelt! An der Ecke von der Schlünzigstraße hält eine! Wissense – so direktemang vor's Lokal hab' ick nich jern die Uffahrt von den Herrschaften! Ich bin 'n stiller, alter Mann!«

»Na – denn fassen Sie mal an, Fränze! Denn tragen wir den Korb zusammen hin!«

»Nee – lassen Sie man! Det können ja wir!« Zwei von den Kerlen an den Tischen sprangen auf. Sie schleppten diensteifrig die Habe der Fränze Häselich bis zur Droschke. Die ging hinterher. Sie spähte auf der totenstillen, spärlich nur laternenhellen Straße scheu nach einem Schrägbalken, der eine einsturznahe Hauswand stützte.

»Hinter dem Gerüste steht wieder 'n Spanner, Herr Doktor!« flüsterte sie. »Der Kommissar – das is 'n Hund! ... Der läßt mich egal beobachten!«

»Na – die Gestalt rührt sich ja gar nicht!«

Die Fränze atmete tief auf.

»Gott sei Dank, daß ich ohne die Polizei bei Krügern 'raus bin! Gestern abend – da waren dort Zwei mit die blechernen Marken und haben nach mir gefragt! Ich möcht' schwören: die wollten mich gleich mitnehmen, und keine Laus hätte hier nach mir gepiept ...! Aber da war ich schon mit dem Herrn Doktor nach der Villa unterwegs! Vor so 'ner feinen Villa da draußen – da haben sie Manschetten!«

Der Halbtote und der Länglich hatten den Korb in der Droschke verstaut. Sie wiesen das Markstück in der Hand des jungen Mannes zurück.

»Wat denn? Wat denn? Es is ja jerne jeschehen! Uff Wiedersehen!«

»Nun geht's ins neue Leben, Fränze!« sagte Werner Wiebeking, während der Wagen dahinrollte. Der Schatten des Mädchens neben ihm blieb stumm.

»Ich hoffe, Fränze, daß Sie jetzt eben zum letztenmal bei Ihrem Stiefvater in dieser stänkerigen Bude waren! Sie müssen ein für allemal aus dieser Welt hier 'raus! Sie müssen einen Strich unter Ihr bisheriges Dasein ziehen! ... Warum zittern Sie denn so? Ich fühl' es an meinem Ellbogen!«

Es kam keine Antwort.

»Wir wollen einen ordentlichen, anständigen Menschen aus Ihnen machen! Sie haben das Zeug dazu! Aber Sie müssen auch den Willen dazu haben und das Vertrauen. Wir meinen es gut mit Ihnen ... deswegen brauchen Sie nicht zu weinen ...«

Ein banges, verbissenes Keuchen neben ihm.

»Ich weiß nicht, Fränze, warum Sie so angstvoll stöhnen! Es tut Ihnen ja niemand was!«

»... Herr Doktor ... hören Sie ... Herr Doktor ...«

»Wollten Sie was sagen, Fränze?«

Ein irres Kopfschütteln im Zwielicht des Droschkeninnern. Ein Schweigen.

»Leicht fiel mir's nicht, meine Eltern 'rumzukriegen, daß sie Sie in ihr Haus aufnahmen, Fränze!«

Ein ersticktes Atmen nur neben ihm. Draußen schon schwindend die Lichterhelle der Linden.

»Aber ich habe nun einmal Zutrauen zu Ihnen, Fränze! Ich hab' meinen Eltern gesagt: ›Für das Mädel steh' ich ein!‹«

»Herr Doktor ...«

»›Es ist ein armes, unglückliches Mädel! Aber sie hat das Herz auf dem rechten Fleck!‹«

»Herr Doktor! Bitte – lassen Sie halten!«

»Warum denn?«

»Lassen Sie mich aussteigen!«

»Wir sind ja mitten im Tiergarten!«

»Da ist die Spree nicht weit!«

»Was wollen Sie denn zum Kuckuck schon wieder mit der Spree?«

»Da such' ich mir eine Stelle – da hält mich nicht wieder einer, wenn ich ›reinspring‹!«

»Unsinn!« Werner Wiebeking drückte streng den schmächtigen, zitternden Schatten neben ihm an den Schultern auf den Sitz zurück. »Sie dürfen Ihren Nerven nicht so nachgeben, Kind! Köppchen hoch! Zum Donnerwetter!«

Er zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte und wartete.

»Natürlich wenn man kein vernünftiges Wort aus Ihnen 'rauskriegt ... Aber man darf mit Ihnen nicht rechten! Man darf nicht hart zu Ihnen sein, kleine Fränze! Sie haben Schweres hinter sich!«

»Herr Doktor ...«

»Was den?«

»Nichts!«

»Das ist nicht viel! Na – lassen wir's für heute!« Werner Wiebeking stieg vor der Villa seines Vaters aus der Droschke und zahlte. »Wollen Sie da drinnen sitzenbleiben, Kind? Krabbeln Sie doch endlich 'raus! Mein Gott – geht das langsam! ... So! ... Nun sagen Sie doch mal aus Herzensgrund: ›Uff!‹, wenn Sie jetzt bei uns eintreten! Hier in dieses Haus folgt Ihnen der Dicke und sein Troß nicht! Den sind wir nun los, Fränze!«


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