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5

Das junge Mädchen glitt, ein leichtfüßiger Schatten, ein Dutzend Schritte am Ufer hin. Da war ein Durchlaß in dem Bretterzaun. Eine schmale Steintreppe führte steil hinab zum Wasserspiegel. Über dem wölbten sich, reihenweise nebeneinander, in plumper, dämmernder Länge, die Verdecke der Spreezillen. Ein würziger Apfelgeruch stieg aus ihrer schlafenden Stille.

Die Kleine steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen gellen, kläglich trillernden Pfiff aus.

»So quieken doch die Ratten, wenn sie 'ne Holzpantine an'n Kopf kriegen! Das ist mein Signal mit dem Paule!« sagte sie und beugte sich spähend nach unten, wo schwere Schritte über schattenhafte Planken tappten. »Paule! Fahr' uns 'rüber!«

Unten im Zwielicht stand ein junger Spreeschiffer, hemdsärmelig, in hohen Stiefeln, mit einem freundlichen, wettergebräunten Gesicht. Er musterte schweigend den Schlosser, spuckte ins Wasser und stemmte stumm einen Kahn vom Ufer.

»Der Paule Räder ist mein Freund! Das ist ein anständiger Mensch!« raunte, zwischen den Ruderschlägen des Spreeschiffers, auf der Rückbank die Kleine zu dem Monteur. Der frug:

»Warum sollten wir denn nicht über die Brücke gehen?«

»Der Dicke ist imstand und lauert mir da irgendwo auf ...«

»Wer ist denn der Dicke?«

Das blasse, junge Ding zog krampfhaft die Schultern hoch, duckte sich in sich zusammen und antwortete nicht. Ein ganz leiser, weinerlicher Wehlaut der Angst verzitterte aus ihrem Mund in der kühlen, feuchten Luft über den gurgelnden schwarzen Wassertrichtern der Ruder.

»Ist das der, den Sie heute nachmittag dem Schupo haben anzeigen wollen?«

»Nein ...« Kurzatmig, in unterdrückter Angst: »Gotte doch! Der is hoch über dem Dicken! Der is draußen im Westen. Der is einer von den ganz Feinen! Der läßt sich doch hier bei Vätern nicht sehen!«

»Püppchen – was gehen denn Sie die beiden Kerle an?«

»Na – der Dicke schickt mich doch immer zu ihm!« Sie stieß es hervor ... »Damit die nicht merken, daß die Zwei was zusammen haben!«

»Wer soll's denn nicht merken?«

»Na – die Polizei ...«

Der Spreeschiffer vorn konnte, im Plätschern seiner Ruder, nicht hören, was die beiden sprachen. Er arbeitete stumm, mit kräftigen und heftigen Schlägen.

»Also was Verbotenes, Kind?« Die Stimme des Schlossers Werner klang sehr ernst.

»Sie merken aber auch alles!«

»Warum lassen Sie sich denn da schicken?«

Das junge Mädchen stöhnte leise vor sich hin, wie in einem Frostschauer aus der kühlen Flut heraus.

»Das hilft Ihnen gar nichts, daß Sie mich nicht ins Wasser gelassen haben und hier nach Hause bringen!« sagte sie plötzlich ganz ruhig. »Der Dicke macht mich jetzt doch kalt!«

Das andere Ufer rückte schattenhaft heran. Hohe alte Eichenpfähle ragten aus dem Wellengezitter. Drüben glommen nur vereinzelte Lichter. Undeutlich hob sich längs des Flusses ein Gewirr von windschiefen, niederen Häusern, Holzbuden, Ruinenplätzen. Das Boot landete an ein paar verwitterten Eichenstufen. Der Schlosser Werner hielt im Aussteigen ein Fünfzigpfennigstück zwischen den Fingerspitzen. Aber der Spreeschiffer schob die schroff zurück.

»Behalt' du man deinen Zaster!«

»Immer ist er eifersüchtig!« sagte das Mädchen. »Du kannst jetzt wieder türmen, Paule!«

Sie führte, während die zornigen Ruderschläge verhallten, den andern die brüchige Hühnerleiter empor. Oben stand er in tiefer, freier Nacht. Er fühlte unter den Stiefelsohlen Backsteinbrocken, Scherben, Grasbüschel. Er stieß mit dem Hut gegen eine ausgespannte, leere Wäscheleine. Allmählich erkannte er um sich im Dunkel wie Katakomben die Kellerwölbungen abgerissener Häuser. Aus den Trümmern glucksten Hühner im Schlaf. Irgendwoher, aus einem Holzverschlag, meckerte eine Ziege. Ihm war, als sei er gar nicht mehr in Berlin.

»Dufter is es hier ...« Die Kleine stieg ihm ortskundig voraus durch die Nacht. »Das is 'ne mulmige Gegend! Allein tät' ich Ihnen nicht raten, hier ... So ... da geht's 'rein ... Die richtige olle Achtgroschenbude – nich?«

Schattenhafte, schief vornübergeneigte, hundertjährige Häuschenwände, durch schräge Stemmbalken vor dem Einsturz bewahrt. Schmuddelige Höfe. Ein feuchter, dunkler Tordurchlaß. Fauliger Geruch. Eine einsame Laterne. Wieder ein Schmutzwinkel von Hof. Das Mädchen klinkte eine morsche Hinterpforte auf. In einem dämmerigen Flur standen Sauerkrautfässer, leere Biertonnen, Eimer mit Heringsköpfen und Kartoffelschalen. Sie wies auf eine Glastür, durch die ein Grammophon dudelte: ›Es war einmal ein blauer Husar‹ ...

»Danke schön!« Sie hatte einen sonderbar starren Ausdruck in den hellen Berliner Augen, wie sie da, in ihrem verkehrt geknöpften Mäntelchen, den roten Topfhut immer noch schief auf dem blassen, hübschen, dunklen Köpfchen, bleich und jung sich aus dem Dunst und Moder hob. »Ich laß' Sie jetzt vorn durchs Lokal hinaus!«

»Nein! Ich setz' mich jetzt noch mit Ihnen da ein bißchen hin!«

»Kümmern Sie sich doch nicht um mich! Mit mir ist's ja doch alle!«

»Sie sollen mir noch was von sich erzählen!«

»Was interessiert denn Sie das?«

»Ich bin nun mal so, daß mich andere Menschen interessieren!«

Es klang weich und teilnehmend. Das junge Mädchen schien willenlos. Sie trat stumm in den Wirtsraum. Er folgte ihr und schaute sich um. Eine geräumige Destille, wie viele tausend in Berlin. An den Holztischen, spärlich da und dort, Leute aus dem Volk, wie man sie überall in Berlin in den Budiken sah. Plakate mit Maibock und altem Nordhäuser an den Wänden. Eine Anrichte mit Buletten, Soleiern, Rollmöpsen neben dem Schenkschragen.

Von dem her schlurfte, als die beiden sich gesetzt hatten, ein kleiner, gemütlicher Kerl mit pfiffigen Zwinkeraugen, Glatze und flott aufgedrehtem Schnurrbärtchen, eine bierfeuchte, einst weiße Schürze über den kurzen Säbelbeinen, in grünen Pantoffeln. Seine Kropfkehle krächzte.

»Na – wo steckste denn den janzen Abend, Fränze?«

»Du denkst wohl, das olle Zeug, das sortiert sich von alleine!« sagte das Mädchen feindselig, und dann zu dem Schlosser Werner: »Ich helf' doch dem Jakob Grünspan den Tag über in seinem Geschäft. Der kauft Altpapier auf. Aber heut' is er schon wieder um sechse weg!«

»Er is in der Dragonerstraße bei dem Lefkowitz, dem koscheren Geflügelhändler!« schrie es durch das Töpfegeklapper von nebenan. Ein unförmlich dickes, schlampiges Weib steckte den herdgeröteten Grauschädel mit dem Anflug eines schwarzen Schnurrbärtchens durch die offene Türe.

»Zusammen mit dem Scholem Gewürz!« ergänzte eine hagere, junge Frauensperson, die in der Ecke an einem Strohhalm saugte.

»Gott – die Jalizier!« Der säbelbeinige, kleine Destillenwirt beäugte neugierig den Monteur Werner. »Was haste denn da für 'nen Freier mitgebracht, Fränze?«

»Verstich deinen Bräutigam in der Matratze« riet im Hintergrund ein Frauenzimmer mit großem Federhut. Und die neben ihr, eine billige, weiße Pelzstola über dem schäbigen Mantel:

»Dat 's doch der Lustmörder von Johannistal!«

»Ich werd' mich gerade mit der Simili-Berta anlegen!« Die Fränze machte nur eine verächtliche Bewegung mit der mageren Schulter.

»Halt' die Schnauze, Ulanen-Guste!« Der Schmuddelfritze in der biernassen Schürze beugte sich diensteifrig vor. »Was soll's sein, Herr?«

»Der Herr trillert 'n Nordlicht. Und zwei Mollen!« sagte die Fränze. Sie stützte, während der Wirt weglatschte, das feine, schmale Gesichtchen auf Hohlhand und Ellbogen und starrte leer vor sich hin. Dann nach einer Weile:

»Dat's mein Stiefvater!«

»Und die Frau in der Küche Ihre Mutter?«

»Der olle Drachen? Nich in de Hand! Das is seine zweite Frau. Die verdient er. Meine Mutter is schon vor fünf Jahren gestorben. An dem da!«

»Ja – und Ihr Vater?«

»'n Vater soll ich auch noch haben?« Die Fränze lachte kurz auf. »Von dem weiß ich nichts. Als Kind angenommen hat mich der dort drüben auch nicht. Der hat selber drei Bollen. Wie Mutter tot war, bin ich hier so hängengeblieben ...«

Plötzlich reckte sie sich in den Schultern. Sie ballte verbissen die Hände.

»Aber ich will hier 'raus – und wenn's in die Spree ist! Ich halt' das Leben nicht mehr aus. Ich bin gar nicht so. Ich hab' in der Volksschule im Betragen immer »Gut« gehabt. Ich bin durch alle Klassen. Der Herr Pfarrer hat mich sauber konfirmiert ... ach ... das is mit mir schon ein Jammer ...«


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