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34

Da draußen, jenseits des Fahrdamms, stand unter den dunkeln Bäumen, genau an der Stelle, wo der Dr.-Ing. Wiebeking sie vor einer halben Stunde verlassen hatte, die Fränze Häselich. Sie zitterte ohne Mantel und mit bloßem Kopf in der Herbstkühle. Sie glotzte dumpf vor sich hin. Ihr Gesichtsausdruck kam ihm verändert vor. Er trat frisch an sie heran.

»Na – Fränze – nu Kopf hoch!«

Es war, als hörte sie nicht. Er nickte ihr aufmunternd zu:

»Fränze – jetzt geht's um die Wurst!«

Die Kleine hatte den Mund offen und schwieg. Der junge Mann wurde ungeduldig.

»Kind – nun wachen Sie mal gefälligst auf!«

Das schmale, hübsche Gesicht blieb leblos. Es schien ihm blutleer bleich in dem Zwielicht. Er faßte die Fränze am Arm und führte sie ein paar Schritte weiter unter eine Laterne.

»Fränze – Schluß mit dem Stumpfsinn! ... Schauen Sie mich mal an!«

Die kessen, hellbraunen Berliner Augen der Fränze Häselich drehten sich ihm merkwürdig gläsern zu.

»Zum Kuckuck – was ist denn in Sie gefahren?«

Ein Schütteln des Kopfes. Mehr Abwehr als Antwort. Werner Wiebeking musterte ungewiß die Kleine. Er ging über die Straße zu seinem haltenden Wagen.

»Wietrich – haben Sie auf das Mädchen aufgepaßt, wie ich Ihnen gesagt habe?«

»Ich hab' sie dauernd im Auge behalten, Herr Doktor!«

»Ist etwas Besonderes in der Zwischenzeit mit ihr passiert?«

»Aber auch gar nichts! Sie hat mucksstill dagestanden wie 'ne Puppe im Schaufenster.«

»War jemand in ihrer Nähe? Hat jemand mit ihr gesprochen?«

»Keine Menschenseele, Herr Doktor! Hätt' ich ja sehen müssen!«

Der Dr.-Ing. Wiebeking kehrte zu dem schmalen, leise schlotternden Schatten unter den Bäumen zurück.

»Nu fix, Fränze!« sagte er, als sei nichts geschehen. »Sie kommen jetzt mit mir in die Villa – hinten in 'ne Ecke vom Saal – und zeigen mir den Ale!«

»Wenn ich ihn nur erkennen tu' ...«

Es war das erste, was die Fränze sprach. Es klang stumpf, matt, fast teilnahmlos. Er riß die lebhaften, blauen Augen auf.

»Was reden Sie da?«

»In das Haus sind doch so viele Herrschaften gegangen!«

»... und da war er doch mit darunter – haben Sie mir selbst gesagt!«

»Nu da einen 'rausfinden ...«

»Zum Donnerwetter! Sie haben ihn mir doch selbst beschrieben: Mittelgroß. Glattrasiert. In den Dreißig!«

»Gotte doch – So sehen doch so viele aus!«

»Was hat er denn für eine Haarfarbe?«

»Weiß ich nicht!« sagte das Mädchen müde.

»... wo Sie ihn so oft gesehen und gesprochen haben!«

»... wenn er doch immer den Hut auf hatte, Herr Doktor ...«

»Und was hat er für Augen? Blaue? Braune? Grüne?«

»Weiß ich auch nicht!« Es klang trübe, hoffnungslos.

»Das müssen Sie doch wissen – zum Kuckuck noch mal!«

»Ich hab' ihn doch immer im Dustern getroffen – an 'ner Straßenecke und so ...« Trotz erwachte in der erloschenen Stimme der Kleinen. »Da hab' ich ihm doch nich mit'm Zündholz vor den Augen 'rumfummeln können ... nich?«

»Fränze ...«

»Da hätt' ich was besehen ...« Nun klang weinerliche Angst in den Worten.

»Jetzt reißt mir aber bald die Geduld!«

»Vielleicht war er's auch gar nicht, der vorhin da 'reingegangen ist ... Das ging so schnell ... da vor der Villa ...«

»Das werden wir ja feststellen! Vorwärts!«

Die Fränze Häselich stand störrisch still. Ihre Stimme schleppte ins Leere hinaus.

»Nachher zeig' ich auf'n Falschen, und er ist's gar nicht, sondern einer von den ganz Hohen, und der läßt mich gleich auf die Polizei bringen ...«

»Dafür bin ich doch da!«

»Nee – nee ... dann krieg' ich's von allen Seiten! Und werde bei Ihnen 'rausgeschmissen! Und der Stiefvater schmeißt mich 'raus! Und dann muß ich in die Spree oder retour zum Dicken!«

»Der Dicke! ... natürlich der Dicke! Das ahnte ich doch!«

»... wenn mich der Dicke nicht auch totschlägt! Wenn der jesoffen hat ...«

»Kind – schlagen Sie sich doch das Schreckgespenst aus dem Kopf! Das ist ja unheimlich, was dieser Kerl sogar aus der Entfernung auf Sie für eine Macht hat!«

»Denken Sie mal nich an den Dicken, wenn man sich hier alleine nachts die längste Zeit die Beine in den Leib steht!«

Das Mädchen aus der Nacht sagte es tonlos, leidenschaftslos, unter fremdem Willen.

»Also Worte helfen hier nichts! Das seh' ich!« Werner Wiebeking nahm ihre kleine, eiskalte Hand. »Seien Sie jetzt brau, Fränze, und lassen Sie sich ruhig von mir in das Haus führen!«

Aber die Fränze Häselich sträubte sich stumm und verbissen. Sie riß sich los. Sie witschte, an Raufereien mit Männern gewöhnt, schmächtig und behend unter Werner Wiebekings Arm durch, sprang mit ihren dünnen, flinken Beinen zehn Schritte zurück, streckte schützend den mageren, rechten Arm vor, stammelte:

»Ich gehe nicht, Herr Doktor!«

»Fränze – Sie können einen wahnsinnig machen ... mit Ihrer kindischen Angst vor dem Dicken!« Er stampfte mit dem Fuß.

»Es hat gar keinen Zweck nicht ...«

»... daß Sie mir den Ale ...«

»Es gibt gar keinen Ale ...«

»Das ist das Neueste ...«

»Das bildet ihr euch nur ein! – hier draußen mit dem Ale – weil ihr nichts von dem Geschäft versteht! Das ist immer nur der Dicke mit seiner Kolonne, der bei euch den Masematten ...«

»... wo Sie selbst fortwährend von dem Ale geredet haben ...«

»... wie unsereiner so quatscht, Herr Doktor! Bei Krügern nehmen sie sich so was von mir gar nicht erst an!«

Der junge Mann biß sich auf die Lippen. Er winkte den Chauffeur zu sich heran.

»Wietrich! Sie stehen mir dafür, daß sie nicht wegläuft! Ich muß noch einmal in die Villa!«

»Ich habe einen Fehler gemacht!« sagte er dort leise und schnell, wieder in der Säulengalerie am Ende des großen Saals, zu Ilselott Hüsgen. »Ich habe das Mädchen zu lange da draußen in der dunkeln Nacht mit sich und ihren Gedanken allein gelassen! Ich habe nicht bedacht, daß man bei solchen Wesen sofort die erste Aufwallung benutzen muß, sonst verfliegt die, wie sie gekommen ist!«

»Und jetzt ...«

»Jetzt ist sie wieder rückfällig! Ganz in der Furcht des Herrn! Ihres Herrn! Eines rüden Patrons im Osten! Ich kenn' ihn persönlich: Mehr Bulldogge als Mensch! Diese armen Dinger sind willenlos in ihrer Hörigkeit unter solchen Kerlen! Es ist wie ein Fluidum da draußen auf den Gassen und in den Kaschemmen ...«

Er schaute erbittert durch den Saal.

»Wenn man denkt, daß jetzt alles nur an einem Wort von dem Balg – an einem Fingerzeig hing ...«

»Ich bewundere Ihre Leichtgläubigkeit, Herr Doktor!« sagte die kleine, blonde Frau. »Mir als Frau scheint das viel einfacher! Das Mädchen draußen hat sich ein bißchen interessant machen wollen! Und jetzt, wo es Ernst damit wird, kriegt sie es mit der Angst! Das ist wirklich sehr naheliegend ...«

»... daß sie mich zum Besten hält?«

»Das will sie wahrscheinlich gar nicht. Sie folgt vielleicht nur einem plötzlichen Impuls. Womöglich hat sie in dem Augenblick selber daran geglaubt!«

»Ja – unberechenbar sind ja so Geschöpfe! Aber die Fränze schien mir doch was Besseres!«

»Oder sie hat es sich krampfhaft eingeredet! ... Gewiß sind viele solche unglückliche Mädchen von Haus aus hysterisch!« sagte die kleine Frau mitleidig. »Bringen Sie sie möglichst bald aus ihrer Umgebung und aus Berlin weg! Das ist das Beste!«

»Ja – das scheint mir auch!«

Unmutig trat der junge Mann wieder vor die Villa auf die Fränze Häselich zu. Da stand sie am selben Ort. Der Chauffeur neben ihr trollte sich auf einen Wink seines Dienstherrn zum Wagen.

»Fränze – nu mal ehrlich: War das am Ende alles Schwindel?«

Er sah im Halbdunkel, daß ihr bleiches Gesichtchen in Tränen schwamm. Ihre leise Stimme schluchzte.

»Ach – Herr Doktor ...«

»... 'raus mit der Wahrheit ...«

»Seien Herr Doktor nicht böse ... Ich hab' mich drüben in der Villa vom Herrn Doktor in meiner Kammer so gefürchtet, weil doch das ganze Haus leer war und ich bei jedem Geräusch gedacht hab', der Dicke kommt und holt mich! Da wollt' ich zum Herrn Doktor, daß er mich vor dem Dicken schützt – und da war auch gerade der Wagen ...«

»... und da?«

»... da mußt' ich dann doch etwas sagen, warum ich mitgefahren bin, und da hab' ich so dumm dahergeredet! Ich habe ja keine Bildung nicht und keinen Verstand! Herr Doktor müssen Mitleid mit mir haben!«

Der Dr.-Ing. Wiebeking maß die verheulte Kleine mit einem Blick, halb Arger, halb Mitgefühl. Er zuckte die Achseln.

»Also fahren Sie sie jetzt nach Hause, Wietrich, und kommen Sie dann wieder hierher!« rief er nach dem Wagen hin und kehrte in die Villa Hüsgen zurück.

Und dort sagte, im Lichterglanz über Menschen und Mumien, im Niggerjazz zwischen Griechengöttern, im Gelächter und Stimmengeschwirr unter Raffaels und farbigen Papierlaternen, ein paar Stunden später, der dicke Rösing zu der schönen, dunkeln Iris, die mit Dr. Josef Schraubt zusammenstand:

»Dauernde Schönwetterlage bei Ihrer Freundin! Ich beobachte es die ganze Zeit! Frau Ilselott und Herr Wiebeking junior ein Herz und eine Seele!«


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