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52

Das war das Dämmern über dem breiten, grauen Spiegel der Spree. Das war schon die nahende Nacht über dem baufälligen Barackengewirr am Ufer. Das war Windgezischel hinter dem Plankenzaun der Ruinenflächen abgerissener Wanzenburgen. Seltsame Laute, mitten in der Weltstadt, aus den zum schwarzen Himmel gähnenden Kellergewölben – Hühnergegacker – Ziegengemecker ... das weltschmerzliche Gewieher eines Esels.

Stille ... Selten Tritte von Menschen ... Und was für Menschen ... Unser Herrgott hat viele Kostgänger hier in der dunklen Welt ... Der Hilde Lüders klopfte das Herz. Sie stand in der einsamen Gasse mit den paar spärlichen Laternen, deren gelbe Monde vom nahen Fluß her ein feuchter, weißlicher Nebel umbraute. Sie schaute sich um. Das war die Schlünzigstraße, von der ihr heute draußen in der Villa Wiebeking im Tiergarten der Chauffeur Werner gesprochen. Das war das Restaurant Krüger, aus dem er das Mädchen hatte holen wollen, als er auf der Bananenschale ausglitt.

Bananenschale ... sagte er ... Glauben tut's keiner! Die Augen der Hilde Lüders rollten, abenteuerlich, suchend, in der Nacht. Sie näherte sich wie auf dem Kriegspfad der Krügerschen Destille. Das windschiefe, alte Haus lag stumm und tot. Kein Licht hinter den Scheiben. Kein Laut. Und da – an der Glastüre – sie trat dicht heran und las.

Ein herausgerissenes Schreibheftblatt mit ungelenken, großen Bleistiftbuchstaben: ›Geschlossen!‹

»Da kannste nich 'rin!« flüsterte um die Ecke herum ein Pennbruder. »Wat Krüger is, den haben se heute nachmittag zu 'ne Landpartie uff'n Alex abjeholt. Der Dürisch war es! Det Aas kenn' ick!«

Die Hilde Lüders war angstvoll zehn Schritte geflohen. Von da beäugte sie wieder das Haus. Dem war nicht beizukommen. Es stand eingepreßt in einem Gewinkel ähnlicher morscher Fuchsbauten. Man ahnte nur dahinter enge Höfe, dunkle Schlupfe, Trümmerstätten bis hinunter zum schweigenden Schwarz der Spree.

Man machte sich verdächtig, wenn man so ziellos auf dem leeren Bürgersteig herumschlich ... Oder man wurde für so eine gehalten, wenn ein Mann die Straße nach Frauen abbummelte ...

Zögernd ging die Hilde Lüders weiter. Da drüben schlenderte wieder solch ein Mann – den hatte sie in der letzten halben Stunde schon ein paarmal gesehen – er kam ihr immer wieder über den Weg – oder sie ihm – so als suchte auch er etwas hier in der Nacht.

Ein junger Mann, der wie ein Spreeschiffer aussah – in hohen Stiefeln, Wollwams und Schirmkappe. Jetzt entfernte er sich wieder langsam, zuweilen stehenbleibend, in der Richtung nach dem Fluß. Der war eine Wasserratte. Der wußte wohl hier am Ufer Bescheid. Wenn man ihm unauffällig folgte, schlüpfte man hinter ihm vielleicht in das Labyrinth dieser alten Häuser hinein. Konnte irgendwie irgendwas von irgendwem erfahren ... ...

Aber der Schiffer machte kopfschüttelnd kehrt, kam zurück. Die Hilde Lüders ließ ihn im Dunkel vorübergehen. Sie war überzeugt, daß er sie nicht bemerkte. Sie heftete sich wieder an seine Fersen. Er wandelte die Schlünzigstraße hinauf. Machte plötzlich halt. Sah sich schnell um. Kam zu ihrem Schrecken gerade auf sie zu.

Sie fing an zu zittern. Dabei waren es, in dem Laternenschein, treuherzige Züge ihr gegenüber, tiefgebräunt, schnurrbärtig. Klare Augen. Breit und kräftig die Sprache.

»Wenn Sie für'n paar Groschen von den Kaschemmenbrüdern hinter mir her sind ...«

»Ich ...?«

»... dann bestellen Sie denen: noch einmal verhauen sie Paule Rädern nicht! Jetzt hält' er 'nen siebenschläfrigen Schießprügel im Sack! Für soviel Löcher im Leib langt's, als die Woche Tage hat!«

»Aber ich ...«

»... und ich ließe mich von der ganzen Chawrusse nicht abhalten, nach der Fränze zu suchen ...«

»... nach der Fränze Haselich?«

»Ja – wen dachten denn Sie?«

»Die such' ich ja auch!«

»Sie ...«

»Ja – wie 'ne Stecknadel ...«

»Warum denn?«

»Ich kenn' sie doch von früher so gut! ... Das ist doch die kleine Papiersortiererin bei dem Grünspan ...«

»Na freilich ...«

»Und nun auf einmal weg. Ich bin ganz außer mir ...«

»... und ich erst, Fräulein ...«

Die beiden Menschen in der Nacht sahen sich an. Voll instinktivem Berliner Mißtrauen ... Und doch wieder die Kameradschaft der dunkeln Nacht ... Zweifel ... Hoffnung auf Hilfe ... einer vom andern ...

»Wer sind Sie denn, Fräulein?«

»Gott – 'ne Verkäuferin – aus der Färberstraße drüben ...«

Sie gingen langsam, planlos wieder zum Fluß zurück. Der Schiffer schaute sich um.

»Da kraucht nämlich noch eine hinter mir her!« brummte er. Dann plötzlich hart, argwöhnisch:

»Sind Sie wirklich nicht von der Polizei?«

»Wenn die mich bloß im Geschäft in Ruhe läßt ...«

»Und auch nicht von der Kolonne?«

»Gott – sehen Sie mich doch an ...«

Die beiden blieben stehen und blickten nach den Stützbalken und Mauerrissen in der vornübergeneigten Hauswand mit der Tafel: ›Krügers Restaurant‹.

»Da drinnen ist sie sicher nicht mehr!« sagte der Schiffer Räder. »Det Rieselfeld hat die Polizei ausgemistet!«

»Aber wo ...?«

»Wenn Berlin man nich so groß wäre ...« Paul Räder spuckte aus und lugte die Straße entlang. »Da hinten is das andere Frauenzimmer wieder! ... Dreht die am Ende mit Ihnen hier zusammen die Mangel? ... Was habt ihr denn vor? Wo habt ihr denn eure Freunde? Sollen nur kommen ...«

»Ich suche nur die Fränze Häselich!«

»Pst! Nicht so laut! Die Kleine drüben hat das gehört ...«

»Nun kommt sie auf Sie zu ...«

»... als ob sie was zu sagen hätte ...«

»... und schaut sich dabei voller Angst um ...«

»Die kenn' ich doch! Gott – das Äppelröschen ...«

Zwei Kirchhofsrosen blühten noch heller rot als die Schminke auf den Backen des spitzigen, blutjungen Gesichts, Strohgelb gefärbt die Haare unter dem giftgrünen Topfhut. Ein spillriges Figürchen, dünngliedrig, flachbrüstig. Das Äppelröschen war noch ein halbes Kind. Sie trat dicht an den Spreeschiffer heran und zerrte ihn zehn Schritte seitwärts. Ein vertraulicher, aufgeregter Blick zu dem Mann empor.

»Räder – Sie halten's doch mit der Fränze?«

»Das weiß ganz Berlin ...«

Das Äppelröschen hielt die Kinderhand vor die hustenden, geschminkten Lippen. Ein Flüstern:

»Ich weiß, wo die Fränze is!«

»Herrgott ...«

»Ich bin doch immer auf der Straße unterwegens – Ist doch mal mein Beruf – nich? Und da seh ich die Leute. Und da sah ich den Dicken seit 'ner Woche vier-, fünfmal am Tag immer in dasselbe Haus gehen ...«

»Wo ...?«

»Drüben im Scheunenviertel«, sagte das verlorene Mädchen. »In der Pionierstraße. Nummer fünf, 'ne ganz olle Kabache. Unten is 'n Uhrenladen. Da schieben sie Ringe und Diamanten. Hat mal dabeigelegen! Lauter Tineff. Aber der Dicke steigt immer die Treppe in den ersten Stock hinauf!«

»Und da ist die Fränze?«

»Da muß sie sein! Vorgestern hat sich auch der Blaumüller mal verschnappt und zum Halbtoten was von der Pionierstraße gesagt, wie ich dabei war ... Gotte doch: Wenn der Blaumüller wüßte, daß ich Ihnen das sage ... Na – die Bimse ...« Wieder ein Husten des geschminkten Kindes. »Aber die Fränze tut mir zu leid ... die hat so was Propperes in sich – die steckt nich so mittenmang den Dreck wie ich ...«

»Denn man zu, Äppelröschen ...«

»Nee – nee – ich komm' nich mit!« Eine entsetzte Abwehr drüben. »Und Sie dürfen sich auch nicht selber zeigen, Räder – Sie kennen die schweren Jungens doch auch! Und schwören Sie mir beim Grab von Ihrer Mutter, daß ich Ihnen nichts gesagt hab' ...«

»Bei der Großmutter selig! Meine Mutter lebt noch – Gott sei Dank! Äppelröschen ... hören Sie mal ...«

Das Kind der Straße lief schon, von hinten klein und schmächtig wie eine Halbwüchsige, im spärlichen Laternenlicht davon, der nächsten Ecke zu. Berlin tat seinen Rachen auf und schluckte es wieder – das dunkelste Berlin. Der Schiffer Räder trat entschlossen zu der andern jungen Frauensperson, die wie ein langer, schmaler Schatten seitwärts in der Finsternis stand.

»Fräulein ... Es geht um die Fränze! ... Ich hab' keine Wahl nich! Ich muß mich auf Sie verlassen! Haben Sie Courage?«

»Für drei!« Ein schwärmerisches, verliebtes Leuchten auf den blassen Zügen des Obstfräuleins.

»Dann kommen Sie jetzt mal mit mir! 'nen Sprung 'rüber in die Pionierstraße!«


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