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8

Der Garagenschlosser Werner betrat am nächsten Morgen, tief im Herzen Berlins, das Büro rechts vom Eingang der engbrüstigen, alten Hausfront, über der ›Feuerstakes Hotel‹ stand.

Da drinnen telephonierte Herr Lungwitz, die Seele des Betriebs, rechnete, notierte, hüstelte in seinen schütteren Spitzbart, äugte durch den Hornzwicker am schwarzen Band.

»Tja – Herr Werner – wo hier ganz in der Nähe eine solide Unterkunft auf ein, zwei Tage für ein durchreisendes Fräulein zu haben wäre? ... 'Augenblick ... die Leute bimmeln einem die Seele aus dem Leib!« Das Ohr am Hörer: »Der Sowieso? Na – ich möcht' nich gerade 'n silberner Löffel sein, wenn der Mann in die Stube tritt! Aber sonst 'n netter Mensch! Bitte!«

»Also – bei uns hier soll das Fräulein nicht wohnen? Verstehe! Verstehe! Wie? Was wünscht der Herr? Nee – Herr Feinstein wohnt hier nicht! ... Tja – Herr Werner ... Fragen Sie doch mal gerad' dort, zehn Häuser weiter, in dem Südfruchtkram nach!«

Eine kleine Farbeninsel drüben, im lärmenden Grau des Alltags – Orangengold, Dattelbraun, Zitronengelb, Traubenblau, Immergrün. Ebenso freundlich leuchtete der bloße, warm blauäugige, rötlich-blonde Stoppelkopf des Monteurs Werner in der Sonne, wie er, in seiner schwarzen Fahrerjoppe, die Zigarette schief in dem vergnüglichen Mundwinkel, auf das Lädchen zubummelte, schmalschulterig, mittelgroß, aber sehnig-straff gewachsen, ein junger Mann, den die Mädchen mit ihren Marktkörben auf dem Bürgersteig seelenvoll und seitlings mit sanften Blicken sengten.

Er trat in die Kühle des von den Wohlgerüchen Italiens durchdufteten, kleinen Raums. Im Hintergrund beugte sich ein unordentlicher, brauner Haarschopf, eine Hand an der Schläfe, weltversunken über ein Buch. Dann, auf das Räuspern an der Schwelle, hoben sich zwei verlorene braune Augen in einem regelmäßigen, jungen Gesicht und fanden sich allmählich in diese Welt zurück. Das Mädchen stand auf, schmächtig, schmal, in schwarzem Kleid und weißer Schürze. Sie strich sich mit der Hand über den Wirrkopf. Aber es blieb etwas Phantastisches – auch um den melancholischen Mund.

»Der Herr wünschen?« frug sie mechanisch.

»Entschuldigen Sie, Fräulein, daß ich störe!« Der Schlosser Werner trat lachend näher. »Was lesen Sie denn da Schönes?«

»Der Herr wünschen?«

»Sie lesen wohl riesig gern?«

Das Mädchen schaute ihn an. Er kannte dieses plötzliche, träumerische Interesse. Er wußte: dann wirkte etwas in seinem Wesen auf das kurzhaarige Geschlecht. Übrigens – sie war recht hübsch, wie sie da immer noch ein wenig geistesabwesend stand, in der Linken eine halb abgebissene, faulig gefleckte Banane.

»Lesen ist doch ein Ersatz für Leben!« sagte sie.

»Sie leben doch! Gott sei Dank!«

Das Mädchen schaute sich in ihrer kleinen Obstkammer um, als wollte sie antworten: ›Aber wie?‹ Dann wiederholte sie ihr Sprüchlein:

»Der Herr wünschen?«

Werner, der Chauffeur, warf sein glimmendes Rauchkraut weg, nahm ihr die Banane aus der Hand, biß am andern Ende ein Stück ab und gab sie ihr zurück.

»So – nun Sie wieder drüben! Und dann wieder ich! In der Mitte kommen wir zusammen! Die Menschen sollten mehr zusammenkommen! Das ist das ganze Unglück!«

Das Mädchen mußte lachen. Sie sah auf einmal sehr niedlich und jung aus, mit ihrem schmalen, eigensinnigen Gesicht und den lebhaften, dunkelbraunen Augen. Sie hatte kleine, weiße, dichte Zähne. Mit denen knabberte sie ab und warf den Rest in den Abfallkorb zur Seite.

»Die Banane ist maukig«, sagte sie, »dann darf ich sie futtern. Immer, was übrigbleibt – das alte Zeug ...«

»Aber Sie sind jung!«

»Hier läßt man ja seine Jugend! Und wofür? Der Herr wünschen?«

»Sind Sie mit dem Leben nicht zufrieden?«

Ein träumerisches Schweigen.

»... wo Sie doch so 'nen netten Laden haben!«

»Der gehört meiner Tante! Ich bin Waise!«

»Aha!« Der junge Mann setzte sich. »Geben Sie mir mal die Hand! Gegen die Tante müssen wir beide jetzt Sturm laufen!«

Das Mädchen musterte ihn. Mißtrauisch. Ungewiß. Wohlgefällig. Sie mußte wieder lachen.

»Sind Sie immer so?«

»Immer Mensch unter Menschen, Fräulein!«

»Na – aber ein komischer Mensch ...« Sie schüttelte, zwei zähe, in sich verbissne Grübchen in den Wangen, den unordentlichen, braunen Scheitel. »Ich komm' gar nicht dazu, mich zu frisieren!« sagte sie plötzlich verwirrt. »Um Uhre viere muß ich frühmorgens schon drüben in der Markthalle sein! Und jetzt ist die Tante wieder hinaus auf das Grab von ihrem Seligen!« Sie unterbrach sich und legte die leer lächelnde Höflichkeitstünche des Ladenfräuleins über ihre unruhigen, jungen Züge.

»Der Herr ...«

»Der Herr – empfohlen durch Herrn Lungwitz ...«

»Gott – der ...«

»Der Herr wünschen eine bescheidene Unterkunft für ein, zwei Tage!«

»Für Sie?« frug sie unwillkürlich schnell.

»Leider nicht! Für ein junges Mädchen, auf der Durchreise, das aufs Land soll!«

»Ach so!« Sie zuckte verächtlich die Achseln, drehte sich auf dem Schuhabsatz und machte sich an einem Stapel Feigenkränze zu schaffen. »Haben wir nicht!«

»Haben Sie wohl! Sie wollen bloß nicht! Sehen Sie: das ist nicht recht von Ihnen! Die Menschen müssen einander helfen!«

»Was geht mich Ihre Braut an?«

»Braut – das ist 'ne optische Täuschung! Das ist ein unglückliches, kleines Ding, das ich aus seiner niederträchtigen Umgebung retten will! Himmelherrgottdonnerwetter – ich bin nun mal so! Wenn ich seh', ich kann jemand aus'm Dreck ziehen, dann tu' ich's – statt daß ich dasitz' und mit dem Schicksal maul' wie Sie!«

»Und wer kümmert sich denn um mich?«

»Ihnen geht's noch ganz gut! Da gibt es ganz anderes Elend in Berlin! Also – Fräulein – wie heißen Sie denn?«

»Hilde!«

»Weiter im Text!«

»Hilde Lüders.«

»Also – Hilde Luders!« Er legte der Obstverkäuferin kameradschaftlich die Hand auf die Schulter und näherte sein frisches, freundliches Gesicht ihrem kleinen Ohr mit dem widerspenstigen Haargeringel. »Wenn ich Sie bitte, können Sie doch nicht ›Nein‹ sagen! Sehe ich Ihnen doch an! Ja – schauen Sie nur weg! Also heute nachmittag bringe ich die Kleine!«

»Ich kann doch nichts ohne meine Tante abmachen! Die kommt jetzt gleich zurück!«

»Schön, Fräulein Hilde! Ich muß 'nen Wagen einfahren und abliefern! In einer Stunde komme ich mit dem Kasten hier vorbei und hol' mir das Einverständnis der ollen Dame! Recht so? Hand darauf! Wiedersehn!«

Das Obstfräulein Hilde Lüders sah lange und versonnen dem Schlosser Werner nach. Ihr Gesicht war weich geworden. Sie ging träumerisch in den Laden zurück. Sie setzte sich und schaute still vor sich hin ins Leere. Dann seufzte sie auf und griff wieder nach ihrem Buch und versank, den zerzausten Kopf auf Hohlhand und Ellbogen gestützt, wieder in ihre Kinowelt von Verbrechern, Detektivs, Unschuldsengeln, Bösewichten irgendwo da draußen ... da draußen ...


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