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40

Leer, im leeren Haus, der Berliner Sonntagnachmittag ... Ilselott ... Ilselott ...

Wer ist denn da? Ach so – der Diener Leopold! Er flüstert sorgenvoll, ob Herr Doktor noch Befehle haben? Er hat heute Ausgang.

»Zu Ihrer Brüdergemeinde, Leopold?«

»Jawohl, Herr Doktor! Es ist Familien-Erbauungsabend!« Der Stille im Lande zieht sich geräuschlos zurück. Er besitzt eine besondere Gabe, mit dem Rücken gegen die Türe den Ausweg zu finden, so als hätte er hinten Augen.

Sonntag ... draußen vor den Fenstern die spießigen Spaziergänger. Ilselott ... Ilselott ... Du machst einen ungerecht gegen die Mühsamen und Beladenen, die da Erholung suchen ...

Ilselott ... Man denkt an dich. An sich. Statt an die Menschen, denen man helfen möchte. Allmählich vertröpfeln sie draußen im Dämmern. Der Abend kommt ...

Auf ein Klingelzeichen, statt des Leopold, die bebrillte, ältliche Jungfer.

»Elise – was macht denn das Mädel?«

»Sie sitzt hinten in ihrer Kammer, Herr Doktor!«

»... und freut sich wohl unbändig auf die Reise nach Ostpreußen morgen?«

»Ich weiß nicht, Herr Doktor! Sie ist sehr still. Gedrückt – möcht' man sagen ... Man kriegt kaum ein Wort aus ihr heraus. Gegessen hat sie jetzt eben zu Abend fast nichts!«

»Ja – was fehlt dem Balg denn nu wieder?«

»Wahrscheinlich tut's ihr leid, und sie kriegt's mit dem Heimweh nach ihrer Kaschemme. Glauben Sie mir, Herr Doktor, solch Volk zieht's immer wieder in seine Welt zurück!«

»Sie soll sich zeitig schlafen legen – das ist das Gescheiteste – und Kräfte für morgen sammeln!«

»Ich schick' sie jetzt zu Bett, Herr Doktor!«

Werner Wiebeking war wieder allein. Er ging unruhig im Zimmer auf und ab. Er sah auf die Uhr. Er lächelte vor sich hin. Er trat zum Tischtelephon und ließ sich verbinden. Er neigte stehend den rotblonden Stoppelkopf zum Hörer. Seine Augen lachten. Sein frisches Gesicht verklärte sich.

»Sind Sie selbst am Apparat, liebe Freundin?«

Ein paar leise Worte durch den Draht. Er lachte ein wenig verlegen.

»Ach so, ja ... warum ich Sie wieder anrufe? Ach Gott – furchtbar einfach – weil ich's nicht ausgehalten hab'! Ich mußte noch einmal Ihre Stimme hören ...«

Er lauschte auf das weiche Flüstern im Apparat. Er versetzte schuldbewußt:

»Ihnen macht es doch so wenig Mühe, mir guten Abend zu sagen, und mir so 'ne Riesenfreude ... ja – jetzt lachen Sie! Ich auch! ... Aber im Ernst: Ich habe zu melden, daß ich im Begriff bin, Ihren Auftrag zu vollziehen. Ich suche Ihren Bruder Lüttchen in seinem Hauptquartier am Kurfürstendamm auf ...«

Wieder aus der Ferne die sanfte Stimme. Er nickte.

»Ich werde die Augen offen halten! Die Sache interessiert mich selbst! Wie? ... Ach – aus einem bestimmten Grund ... Man kann das nicht gut am Telephon ... Ich erstatte Ihnen morgen Rapport über meine Eindrücke ...«

Und ganz schnell, schon im Abhängen, auf der Flucht vor einer Abwehr drüben:

»Gute Nacht, Ilselott!«

Lüttchen ... Lüttchen im Smoking mit Gardenie im Knopfloch und weißer Weste ... Lüttchen – großohrig, spitznasig, dürftig, mit abendlich belebten Eulenaugen ... Lüttchen, von der Bar der Flamingo-Diele aus matt das Jazzgequäke und Lockschuhgeschurr im kleinen, runden Tanzsaal nebenan beobachtend, Lüttchen, eigenhändig und sorgenvoll sich auf der Marmorplatte seinen Drink mixend.

»Die Prärie-Auster – eigentlich die einzige bleibende Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts ...« Er schüttete behutsam einen Teelöffel scharfe Worcestersauce über ein Eigelb und reichte dann sitzend dem eintretenden Dr.-Ing. Wiebeking die Hand.

»Edel von Ihnen, daß Sie gekommen sind!« Er tröpfelte Essig auf das Gemisch. »Was macht Ilselottchen? Aber nicht wahr: Ihr bleibt züchtig, Kinder?«

»Da möchte ich aber doch allen Ernstes bitten ...«

»Ich habe da strenge Grundsätze!« Das Nachtgeschöpf streute mit gerunzelter Stirne roten Paprika auf seine Mischung. Er schluckte und schnitt eine Grimasse. »Möchten Sie auch 'nen Pick me up? Nee? Na – dann wollen wir jetzt unser karges Abendbrot verzehren!«

Lüttchen über der Speisekarte. Seufzend: »O Gott – o Gott – das Leben ist doch schwer!« Weinerlich zu Werner Wiebeking: »Da gibt es noch weite Kreise in Berlin, die den Kaviar gesalzen essen! Hier: Malossol – silberkörnig – im Flugzeug von Moskau – das nenn' ich Kultur ...«

»Ich mache in Berlin seit Jahren meinen vollen Einfluß zugunsten der Ente à la Rouen geltend ...« Ein ganzer Kreis von Gents hatte sich allmählich um Lüttchen gesammelt. »Hinrichtung des Vogels durch den Schlag einer elektrischen Batterie! Blut bleibt in der Ente! Aber es ist ja kaum mehr möglich, in Berlin etwas Genießbares aufzutreiben!«

»Zur Arbeit ist es noch zu früh!« Ein Tausendmarkschein in Lüttchens zahlenden, abgezehrten Spielerfingern. »Machen wir unsern abendlichen Rundgang, ob am Kurfürstendamm auch alles in Ordnung ist!«

Taghell draußen die Stadt ohne Nacht zwischen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und Uhlandeck. Blaurote Riesenlettern. Farbige Lampenschnüre. Gelb zuckende Lichtbänder. Grellweiße Scheinwerfer. Leuchtend die Läden. Dielen. Cafés. Kabaretts. Kinos. Likörstuben. Weinhäuser. Getute. Geklingel. Gedränge. Nervöse Gesichter. Das Vergnügen mit der Uhr in der Hand ...

... Und grau, düster, vor Werner Wiebekings Augen, fern der Berliner Osten. Schweigen über dem schwarzen Spiegel der Spree. Spärliches Laternenzittern. Einzelne Lichtpunkte im Dunkel. Leben von Millionen ...

Bartriesen in Livree vor den Amüsierlokalen am Kurfürstendamm. Neger in Dreß. Aushänge: ›Wegen Überfüllung zeitweise geschlossen.‹ Zigeunergeigen. Balalaika-Geklimper. Lüttchen mit seinem Troß in einem Kaffeehaus. Langmähnige Bohémiens an den Tischen. Zigarren rauchende Frauen. Bürger mit Weib und Kind. Provinzialen. Verhältnisse. Unbestimmbare Kavaliere. Auch da kennt Lüttchen Gott und die Welt. Drückt Hände. Zeigt Geld ... Geld ...

Zahlt für alle im Kabarett. Hitze. Rauch. Die Menschen gepreßt wie die Sardinen. Der Ansager-Jüngling mit Monokel vorwurfsvoll zum Publikum: »Wer hat denn nu wieder Großmutter verkehrt auf den Nachtstuhl gesetzt?« Aufwiehern. Helles Aufkreischen von Frauenkehlen ... »Verehrte Steuerhinterzieher – ich meine es ernst ...«

Plötzlich ein Russenlokal. Rotkitteliger Bauerntanz an die Wände gemalt. Papyrossenwolken. Slawische Laute. Hier wird die Aloscha aufgefischt, die mongolisch häßlich-hübsche Frau des Baron Sempt, aus einem Schwarm Russinnen heraus – lauter frühere Fürstinnen – der Kellner mit den grauen Diplomaten-Bartstreifen ein Minister. Der Koch ein General ...

Und draußen wieder – ein tosendes, taghelles, viertelstündiges Lichtband – der Kurfürstendamm ... Köpfegewimmel ... Konzertmusik ... Palmenhaine mit Papageien ... hoch am Nachthimmel leuchtende Dachgärten – Geld spielt keine Rolle ... Woher hat Berlin das Geld? Woher hat Lüttchen das Geld? ...

Und Lüttchen, ernst, in der Mitte der Seinen, auf dem Bürgersteig:

»Kinder! Auch der Müßiggang hat seine Grenzen! Es wird Zeit, daß wir an den Ernst des Lebens denken!«

In einer stillen, dunkeln Querstraße, zwei Treppen hoch in einem bescheidenen, bürgerlichen Haus, wohnt der Ernst des Lebens. Er erschließt sich nur auf dreimaliges Klopfen am Haustor. Dann öffnet ein verstörter, vollbärtiger Bürger, der wie ein städtischer Lehrer oder mittlerer Beamter ausschaut. Man steht förmlich den Angstschweiß auf seiner Stirne. Lüttchens Stirne ist gewichtig hochgezogen.

»Ich lege nämlich seit heute das Ei des Kolumbus, Herr Wiebeking! Ich miete jede Nacht eine andere Wohnung, damit einem nicht wieder so 'n Staatsanwalt oder sonst 'n kleiner Beamter die kostbare Zeit stiehlt!«

Lüttchens Ernst des Lebens oben in der guten Stube einer kleinbürgerlichen Behausung. Eingerahmte Familienphotographieen auf der Blümchentapete. Paneelsofa mit Umbau und Troddeln. Eine Perlenstickerei darüber: ›Zufriedenheit das höchste Gut‹.

Aber in der Mitte, weißgedeckt, wie zu einem Fest, der lange Eßtisch. Nur Kerzen darauf. Karten. Chips. Lüttchen hält die Bank. Er verliert. Fort und fort. Mit leutseligem Grinsen.

»Seine gewohnte Pechsträhne ...« Eine Stimme neben dem Dr.-Ing. Wiebeking. Eine andere:

»Macht ihm scheint's gar nischt aus!«

Ja – wo hast du das Geld her, Lüttchen? Eine sonderbare Gesellschaft um ihn herum, vor Werner Wiebekings unauffällig musternden Augen – diese neue Notgemeinschaft der Obdachlosen – Herren – Damen – alte – junge – nicht zu erkennen, welcher Art.

Auch untereinander kennen sich lange nicht alle. Aber ein paar bekannte Gesichter sind doch da. Das finnige bleiche Antlitz des Barons Sempt – des Flüchtlings aus dem Osten ... Der hornbebrillte, weichlich-schöne Antinouskopf Oswald Asters. Arthur T. Harris, der Amerikaner. Fad blond. Glattrasiert. Ein Typ von tausend ... Alle sind sie da, die nicht säen und ernten – die Genossen Lüttchens – alle diese Vögel unter dem Himmel – unter dem im Widerschein fahlroten Nachthimmel des Goldenen Berliner Westens.

Stille unter den Spielern des Kurfürstendamms. Nur das Schnalzen der Karten. Lüttchen, der Bankhalter, saß sinnend, das Blatt in der Hand. Entschloß sich. Kaufte. Legte hin. Strahlte. Tot ...

»Bist du denn verrückt, darauf zu laufen?«

»Verrückt nicht, aber pleite!« Lüttchen zahlte mit großartigen Handbewegungen an alle aus und erhob sich emsig. »Total ausgemistet! Wer nimmt inzwischen die Bank? Ich hol' mir nur eben fix von zu Haus Kleingeld ...«

»Aus welcher von deinen drei Wohnungen denn?«

»Ich hab' in jeder 'nen Notpfennig auf Lager. Weint nicht! In 'nem Stündchen bin ich wieder da!«

Der bleiche, rothaarige Baron Sempt setzte sich auf Lüttchens Platz. Mischte. Gab. Es fiel Werner Wiebeking auf, daß immer einer der Spieler wie zufällig hinter dem neuen Bankhalter stand. Dann bemerkte er, daß ein anderer untätig auf dem Kanapee an der Wand saß und schläfrig seine Blicke bald von dem Amerikaner Arthur T. Harris, bald von dem Oswald Aster zu dem Flüchtling aus dem Osten und zurück gleiten ließen.

Trauen euch eure eignen Nachtklubgenossen nicht? Steht ihr im Verdacht des Falschspiels? Ihr Sperlinge Gottes? Lebt ihr davon? Jetzt augenblicklich jedenfalls nicht. Die Einsätze gingen hin und her. Wurden mählich kleiner. Die Stimmung ebbte. Eine Wolke von stummem Stumpfsinn lagerte über dem Tisch. Lüttchen, das belebende Nachtgeschöpf, mit den sorgenvollen Eulenaugen und dem großen Portemonnaie, fehlte. Alles wartete auf seine Rückkehr. Niemand achtete darauf, daß der Dr.-Ing. Wiebeking nach einer halben Stunde leise das Zimmer verließ.

Er schritt auf den Fußspitzen den Gang entlang. Nahm Hut und Mantel vom Haken. Die Türe zum Schlafgemach nebenan war nur angelehnt. Er sah da drinnen den vollbärtigen, angstvollen Wohnungsinhaber, der unten das Tor aufgemacht – den städtischen Lehrer oder mittleren Beamten – und seine Frau.

Beide eng aneinandergedrückt, Hand in Hand, zitternd, hoffend. Wenn nur diese Nacht glücklich vorbeigeht, ohne daß etwas passiert – ohne daß plötzlich unten die Tschakos wimmeln und die Schupo pocht. Einmal die Todesangst und nie wieder!

Aber da auf dem Tisch liegt der große Versucher – der Tausendmarkschein! Und daneben der rote Baedeker, mit dem man so oft schon in Gedanken – nur in Gedanken – nach dem Lande Italien gefahren ist! Es hat nie dazu gelangt. Man wird allmählich alt und grau. Nur die Sehnsucht bleibt. Die deutsche Sehnsucht ...

Und da, auf dem Tisch mit dem Tausender, erfüllt sich die Sehnsucht eines Lebens: Rom. Der Golf von Neapel. Die Venus von Medici ... Lieber Gott – sei barmherzig – laß die Polizei nicht kommen ... Wir möchten doch so gern nach Italien – die Thekla und ich! Wir haben ja so wenig vom Dasein gehabt. Immer nur Müh' und Arbeit ...

Der Mann im Angstschweiß hatte den Dr.-Ing. Wiebeking geräuschlos auf die Straße gelassen. Werner Wiebeking stand vor dem stillen Haus. Er merkte sich die Nummer. Die Straße. Den seitlichen, geschlossenen Toreingang nach dem Hinterhof.

Und nickte in Gedanken: Wenn ich mir jetzt die Fränze lange und mich mit ihr in das Dunkel der Wölbung stelle – einmal tröpfeln, gegen Morgen, die da oben aus dem Haus! Bis dahin ist auch der Lüttchen längst wieder zurück und unter ihnen ...

Ich fahr' und hole die Fränze ... Er winkte seinem abseits haltenden Wagen ... Dann muß die mir zeigen, ob am Ende der Ale mitherauskommt ...


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