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17

»Sie fragen mich, was mein Sohn seit Monaten in Berlin O verloren hat«, sagte in seiner Villa im Tiergarten der Geheimrat Dr.h.c. Albert Wiebeking, bei der Verdauungshavanna nach dem Diner, zu den graubärtigen, bebrillten Wirtschaftsköpfen um ihn im Rund der Klubsessel. »Mein Gott: Er sucht als neuer Mensch die neue Zeit! Helfen kann ihm da keiner! Überlieferung gibt es ja bei uns nicht mehr!«

»Uns hier«, er lehnte mit einer unwirschen Handbewegung das Servierbrett des Dieners mit den verbotenen Likören ab, »war ja seinerzeit vom ersten Tage an unsere Weltanschauung mit einem blauen Schleifchen wie ein silberner Patenlöffel an die Wiege gebunden. Gegen unsere heutigen Dreißigjährigen sind die Amerikaner Menschen voll alter Überlieferung. Hinter einem jungen Mann aus New York stehen anderthalb Jahrhunderte. Hinter einem jungen Deutschen anderthalb Jahrzehnte. Und was für welche!«

»Deswegen war ich ganz dafür, daß mein Sohn sich ein paar Jahre in Amerika umgeschaut hat – sogar im wilden Westen. Und wenn er sich jetzt im wilden Berliner Osten umschaut, vielleicht kommt ihm auch da aus dem Osten die Erleuchtung. Es muß jeder selber wissen, wie er sich mit der Gegenwart auseinandersetzt! Wie? Wer will mich persönlich am Telephon ...?« Er drehte den bebrillten Elfenbeinschädel zum Diener. »Ach so ... der Kriminalkommissar Dürisch! Ich komme!«

»Heute abend noch?« Kurz die Worte aus dem grauen Vollbart in den Draht. »Wenn es so dringend ist – Sie finden mich daheim!«

»Gestern nachmittag zeigt die Fränze Häselich dem Schupo Peschke das monatelange Ziel meiner Sehnsucht – den glücklich wieder ausgekniffenen Nachtdoktor«, sagte in der durch den dunklen Tiergarten sausenden Autodroschke der Kommissar Dürisch zu dem Mann zu seiner Linken, der wie ein schnurrbärtiger Feldwebel von einst in Zivil aussah. »Die Häselich steht also mit der unheimlichsten Existenz von Berlin in irgendeiner nahen Verbindung!«

»Klar, Herr Kommissar!«

»Ein paar Stunden darauf hockt diese angehende Zuchthausblüte in einem niederträchtig beleumdeten Lokal in dicker Freundschaft mit Herrn Dr.-Ing. Wiebeking zusammen!«

»Auffallend, Herr Kommissar!«

»Heute früh macht derselbe Herr Dr.-Ing. Wiebeking der Rübe ein Geheimquartier bei dieser auch höchst verdächtigen Appelsinen-Jule! Gekommen ist er bisher dorthin noch nicht! Ehe er mir das Mädel, das für mich der Dietrich zu meinem unbekannten Freund Ale ist, völlig irgendwohin auf Nimmerwiedersehen verschiebt, lasse ich lieber die Häselich jetzt eben in der Budike ihres Stiefvaters, des Ganeffs – des ollen Krüger – verhaften!«

»Und der Herr Doktor Wiebeking?«

»Den Herrn und seinen merkwürdigen Verkehr muß ich sorgfältig im Auge behalten! Aber ihn finden? Er lebt offenbar unter einem falschen Namen als Chauffeur oder so was Gott weiß wo da draußen im Osten!«

»Deswegen fahren Herr Kommissar noch so spät abends zu dem Geheimrat Wiebeking?«

»Nur so eine harmlose, beiläufige Frage im Lauf des Gesprächs nach der gegenwärtigen Adresse des Herrn Filius. Der Alte muß doch wissen, wo der steckt. Erst heute vormittag war der Sohn ja noch in der Villa zu Besuch!«

Sie stiegen vor dem geschlossenen Einfahrtsgitter in der Güntherstraße 3 aus. Der Kommissar tastete im Halbdunkel nach dem Klingelknopf. Hielt inne und schaute über die Schulter. Es hupte dumpf aus der Finsternis des Tiergartens heraus auf dem Fahrdamm. Ein zweiter Taxameter rollte heran. Stoppte vor dem Portal.

»Kommen Sie mal ein paar Schritte hier ins Düstere, Krause!« sagte der Kommissar Dürisch gedämpft. »Wir wollen 'nen Augenblick warten! Ich möchte nicht gerade mit andern Leuten zusammen ins Haus hineinschneien!« »Da steigt ein Herr aus und krabbelt unter der Laterne nach'm Fahrgeld!«

»Krause – Herrgott ja ...«

»Was denn, Herr Kommissar?«

»Da haben wir ihn ja!«

»Den Doktor Wiebeking?«

»Na und ob!«

»Nu entwickelt sich noch ein Fräulein aus der Droschke!«

»Himmel – hast du keine Flinte ...« Der Kommissar faßte in seiner Aufregung den Arm des Kriminalwachtmeisters. »Das ist ja die Häselich! Die Häselich selber!«

»... die jetzt schon im grünen Wagen sitzen sollte ...«

»Da steht sie in Lebensgröße! ... Nu fällt Ostern und Pfingsten auf einen Tag.« Ein Kopfschütteln des Kommissars. »Er schickt wahrhaftig die Taxe weg! Er ist imstand und bringt das Mädel seinen Eltern ins Haus!«

»Er sperrt das Gitter auf!«

»Sie tippelt hinter ihm durch den Garten!«

»Er öffnet das Haustor und schiebt sie 'rein!«

»Bibbern Sie nicht so, Kind!« sagte in der hellen Halle der Dr.-Ing. Werner Wiebeking zu dem blassen, zierlichen Ding mit dem schiefen roten Topfhut, dem schiefgeknöpften, grauen Kaninpelzmäntelchen, den schiefgetretenen gelben Halbschuhen. Er hatte auf die beiden Männer draußen nicht geachtet. »Hier frißt Sie keiner!« Er wandte sich zu dem Diener. »Ach – bitten Sie doch die gnädige Frau von mir aus, ob sie nicht einen Augenblick von den Gästen hier herauskommen könnte!«

Die kleine Geheimrätin Wiebeking trat, in ausgeschnittener, abendlicher, grauer Seide, aus dem Stimmengewirr innen unter die Palmen der Halle. Ihre feinen, noch von der Gesellschaft belebten Züge erstarrten unter dem silbernen Scheitel. Sie legte die schmalen, reich beringten Hände zusammen.

»Werner – was soll denn das bedeuten?«

»Ich sprach dir doch heute vormittag, Mama, von einem jungen Mädchen, dem wir helfen wollten ...«

»Doch nicht hier im Haus – um zehn Uhr nachts ...«

»Ihr habt mir versprochen ...«

»... sie bei uns in Pommern bei den Gärtnersleuten unterzubringen, wenn der Pastor dort ... Ehe nicht die Antwort aus Groß-Kietz da ist ...«

»Aber das Mädel kann doch nicht inzwischen hier vor die Hunde gehen ...«

»Ich bitte dich: mitten in Berlin!«

»Was wißt ihr hier von Berlin? Das arme Wurm ist verloren, wenn es jetzt wieder in die Nacht hinaus muß!«

Neben der Tür stand das Mädchen aus der Nacht, mit furchtsam hochgezogenen Schultern, angstvoll offen der Mund in dem schmalen, hübschen Gesicht, scheu an der Geheimrätin vorbeisehend die hellen, braunen Augen.

»Sag' mir wenigstens, Werner, wo du die eigentlich aufgegabelt hast!«

»Ach – frag' lieber nicht! Sie ist nun mal da!«

»Aber mich interessiert das auch!« Der Geheimrat Wiebeking kam klein, rasch und straff aus den Gesellschaftsräumen, die Zigarre in der Hand. »Ich höre da eben, ... Werner: Ich halte doch hier kein Nachtasyl!«

»Aber das Mädchen braucht ein Asyl für die Nacht!«

»Er behauptet, sie sei von irgendwelchen Menschen verfolgt, Albert!« sagte die Geheimrätin schon etwas weicher.

»Na – dann telephonieren mir das Revier an! Die Polizei kann sie abholen! Auf der Wache passiert ihr für die Nacht nichts!«

Bei dem Worte ›Polizei‹ stieß die Kleine einen schwachen Angstlaut aus. Sie zitterte wieder heftig. Der Sohn des Hauses legte ihr die Hand auf die schmale Schulter.

»Ihr müßt doch nicht so sein!« sagte er vorwurfsvoll zu den Eltern. »Mensch ist doch Mensch!«

»Ja. Sie ist am Umfallen, Albert!«

»Wir sitzen hier als die Reichmeier von Berlin!« schrie der Sohn plötzlich heftig. »Und da kommt nun mal von draußen so'n Häufchen Unglück zu Besuch! Reichtum verpflichtet! Mich wenigstens!«

»Ich glaube, Albert, der Werner hat recht!«

»Habt doch ein wenig Vertrauen zu mir! Herrgott – ich weiß doch auch, was ich tu'!«

»Also tut, was ihr nicht lassen könnt! Ich muß wieder zu den Gästen, Anna!« Der Geheimrat ging. Seine Frau wandte sich zu der Jungfer im Hintergrund.

»Elise! Das junge Mädchen hier hat sich in der Dunkelheit im Tiergarten verirrt. Sie bleibt bis morgen früh hier im Hause!«

Die bebrillte Jungfer Elise sah den Gast an. Sie sagte nichts.

»Wir wollen sie in einer der leeren Kammern hinten unterbringen! Warten Sie! Ich gehe lieber selbst mit!«

Der Dr.-Ing. Wiebeking setzte sich und wartete. Er stützte den frischen, rotblonden Kopf auf die Hand. Er träumte. Die Fränze und ihre Welt versank. Er schaute still auf die große Standuhr.

Zehn Uhr abends ... Noch vierzehn Stunden ... Morgen mittag meldete sich der Monteur Werner wieder draußen in der Museumsvilla im Grunewald bei Frau Ilselott Hüsgen ... bei der süßen, kleinen Frau ... Er stand mit ihr noch einmal prüfend vor dem Wagen ... ganz dicht neben ihr ...

Vielleicht hatte sie heute schon mit ihrer Chauffiererei wieder irgendein Malheur in der Maschine angerichtet ...

Vielleicht hatte der Himmel ein Einsehen ... dann durfte man wiederkommen – als Reparaturschlosser – sie immer wieder sehen ... die süße kleine Frau ...

Er fuhr auf. Die Geheimrätin kehrte zurück. Sie zuckte die Achseln.

»Nichts aus dem Mädel 'rauszubringen, als daß sie die Stieftochter von einem Budiker aus dem Osten ist!« sagte sie. »Tee hat sie gekriegt. Ich habe sie selber mit Stullen gefüttert und ihren Wuschelkopf gestreichelt und ihr mütterlich zugeredet. Aber das Geschöpfchen ist ja ganz verprellt!«

»Sie hat Schweres hinter sich ...«

»›Nur fort aus Berlin‹ ... dabei klappern ihr die Zähne ... ›nur fort‹ ...«

»Das glaub' ich!« sagte der Sohn. »Mit dem Kerl, dessen Gewalt sie sich entziehen will – mit dem Kerl ist nicht zu spaßen!«


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