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35

Sonntagsstille am nächsten Vormittag. Ganz von weitem das tiefe Summen der Kirchenglocken.

Ilselott ... Ilselott ...

Werner Wiebeking stand am offenen Fenster im Erdgeschoß des Elternhauses. Feiertäglich leer drüben der Asphalt. Rot, braun, gelb starb dahinten im Tiergarten der Altweibersommer. Blaßblau darüber der Himmel. Fern das Läuten:

Ilselott ... Ilselott ...

Er trat unmutig zurück und drückte auf den Klingelknopf.

»Leopold! Sagen Sie dem Kriminalkommissar Dürisch, der da durch den Garten kommt, mein Vater sei in Pommern!«

Aber der schnurrbärtige, biedere Mann in dunklem Sonntagsanzug unten hatte ihn schon gesehen. Er lüftete eilig den Schlapphut und winkte geschäftig mit der Hand.

»Morjen, Herr Doktor! Ich muß Sie sofort sprechen! Ja: Sie!«

Er nahm im Arbeitskabinett des Geheimrats gegenüber dem Sohn des Hauses Platz. Sein rundes Gesicht war nicht so ausdruckslos wie sonst. Verhaltene Aufregung zuckte unter dem gemütlichen Lächeln.

»Es horcht doch keiner?« Er sprang auf und äugte in die Fensterecke. »Was hockt denn da? ... Ach so ... nee! Gerollte Kartons ...«

»Mein Vater hat sich die Grundrisse zu den Bankgewölben im Hauptgeschäft kommen lassen!«

»Kann mir schon denken, warum! Na – da kann ich mich ja wieder setzen ... So ... Tja ...« Der Besucher rieb sich die Hände. »Ich bin, wie Sie wissen, auf dem Kriegspfad, Herr Doktor ...«

»Ich finde hauptsächlich, daß Sie mich beobachten lassen!« sagte der junge Mann kühl.

Die treuherzigen Augen ihm gegenüber waren die Unschuld selbst.

»Aber, Herr Doktor ...«

»Warum allerdings ...«

»Herr Doktor ...« Der joviale Herr legte die Hand aufs Herz. »Sie tun mir bitter unrecht!«

»Was verschafft mir also das Vergnügen – wenn Sie mich nicht für diesen Ale halten?«

»Herr Doktor: Seit zwei Stunden bin ich dem Ale auf der Spur!«

Der junge Mann hob rasch den Kopf und sah den andern schweigend und gespannt an.

»Herr Doktor – Sie waren gestern abend auf dem Gartenfest von Frau Hüsgen ...«

»Sehen Sie: das wissen Sie auch schon von mir!«

Der Kommissar Dürisch überhörte es.

»Herr Doktor – es gibt einen gewissen Arthur T. Harris ...«

»Den hab' ich gestern dort kennengelernt!«

»Haben Sie nicht!«

»Herrgott – wenn ich Ihnen doch sage ...«

»Und wenn ich Ihnen sage, daß ich gestern nachmittag an das Bankhaus Harris und Kompanie in Chicago gekabelt habe ... ein Mordsbankhaus ...«

»In der ganzen Welt bekannt!«

»Heute morgen die Drahtantwort! Bitte! Darf ich Ihnen vorlesen?« Die Finger der Kommissars zitterten über dem Papier. Er räusperte sich erregt.

»Mr. Harris junior hält sich beständig in Paris auf – Stop – wo er gestern mittag mit Freunden bei Ritz lunchte – Stop – und von vielen Leuten gesehen wurde – Stop.«

Der Kommissar Dürisch ließ das Blatt sinken.

»Was sagen Sie dazu?«

»Mehr wie merkwürdig ...«

»Zu gleicher Zeit in Berlin und in Paris sein – das kriegt nicht einmal ein Amerikaner fertig. Also haben wir es hier in Berlin mit einem Kriegsersatz des eigentlichen Mr. Harris zu tun ...«

»Und dieser Gentleman«, die Stimme unter dem aufgedrehten Schnurrbart dämpfte sich, »ist von einem Haufen Spieler unzertrennlich. Geld verjuxen tun sie alle. Das weiß ich. Preisfrage: Womit setzen die jungen Herrn jede Nacht den Kurfürstendamm in Nahrung? Da ist ein Baron Sempt aus dem Osten ...«

»Der war gestern auch da.«

»Osten ist heute ein weiter Begriff – Baron auch – Da ist der junge Aster ...«

»Auch der verschönte den gestrigen Abend.«

»Schön! Ja! Film? Er filmt gar nicht. Er bummelt ... Weiber! Und solang' er bummelt, sperrt ihm der Papa alle seine mächtigen Moneten!«

»Und nun noch ...« Der Kommissar beugte sich besorgt vor. Seine Stimme wurde ganz leise »... gestern der Bruder der Frau des Hauses ...«

»Den Lüttchen nimmt doch niemand ernst!«

»Der Vater Staatsanwalt! Respekt! Aber wovon schmeißt der junge Herr Bankvolontär, den man nie mehr auf der Bank sieht, mit seinem Freund Harris das Geld mit vollen Händen auf den grünen Tisch und an die Barmaids und Balalaika-Primasse und Nachtkellner und was weiß ich?«

Der Kommissar brach erschöpft ab.

»Ich muß ja da unglaublich vorsichtig vorgehen!« sagte er dann. »Jeder falsche Schritt – na – ich danke – Können Sie sich ja vorstellen ...«

»Und wieso kann ich da ...«

»Herr Doktor!« Der schnurrbärtige Herr rückte vertraulich näher. »Es gibt einen Nachschlüssel zu der guten Stube voll schlechter Leute, die wir suchen! Einen lebendigen Dietrich – sozusagen! Das ist die Fränze Häselich. Daß das Mädel eng mit dem Nachtdoktor und seinem Volk zusammenhängt – na – denken Sie nur, wie sie den großen Unbekannten schon vorigen Mittwoch auf dem Ottoplatz dem Schupo verpfeifen wollte.«

»Herr Doktor!« Der Kommissar legte in seiner Erregung dem andern die Hand auf den Arm. »Sie haben sich dieses Mädels angenommen! Sie haben sie hier im Hause Ihrer Eltern untergebracht! Durch dies Haus hier geht die Brücke irgendwohin in die Unterwelt! Das Mädel ist doch noch hier im Haus?«

»Wahrscheinlich schläft sie noch! Ich habe noch nicht nach ihr gefragt! Ich habe mich gestern abend zu sehr über den Balg geärgert!«

»Herr Doktor!« Der Kriminalkommissar Dürisch erhob sich. Er wurde dienstlich. »Gestatten Sie, daß ich jetzt sofort die Häselich in ihrem Zimmer aufsuche!«

»Wollen Sie sie verhaften?«

»Da sei Gott vor! Nur jetzt nicht ihre schleierhaften Freunde warnen! Nein: Ich versuch's! Ich trete ein, peu à peu, wie's Donnerwetter! Ich sag' ihr auf den Kopf zu: ›Nu gesteh' oder ...‹ ...? Glauben Sie mir: Mit dem Hausmittel der Überrumpelung haben wir schon mehr als einen zur Strecke gebracht!«

»Sie handeln im Dienst! Ich darf Sie nicht hindern!« Werner Wiebeking klingelte. »Leopold: Ist die Häselich in ihrer Kammer? Gut! Ich führe Sie selbst hin, Herr Kommissar!«

»Und nicht wahr, verehrter Herr Doktor«, der Kommissar Dürisch blieb auf dem Weg durch die Vorderräume noch einmal stehen, »... Sie hegen nicht mehr den kränkenden Verdacht, als ob ich gegen Sie ... Ist ja absurd, Herr Doktor! Kam mir nie in den Sinn ...«

»Ich glaube: Ganz trauen Sie mir jetzt noch nicht!« sagte der junge Mann gleichmütig. »Na – bitte!«

Er ging mit dem Kommissar den Hinterflur entlang. Er pochte an eine Kammer.

»Fränze! Ich bin's!«

Im Stübchen blieb es still. Der Dr.-Ing. Wiebeking wollte öffnen.

»Abgeriegelt!« sagte er. »Fränze – machen Sie auf!«

Es rührte sich drinnen nichts. Der junge Mann wandte sich ärgerlich zu dem versammelten Personal.

»Was heißt denn das? Habt ihr sie schlecht behandelt?«

»Die Minna ist schuld, Herr Doktor!« Die bebrillte Jungfer Elise wies auf das Küchenmädchen. »Wie der Leopold uns gesagt hat, der Herr Kommissar käme mit dem Herrn Doktor nach hinten, da ist die Minna an die Türe von dem Frauenz... von dem Fräulein gelaufen und hat gerufen: ›Nu kommen sie und holen dir uff die Polizei!‹ Da hat die Bolle innen einen Schrei getan und sich eingesperrt!«

»Fränze! Es tut Ihnen niemand was!«

»Die bockt, Herr Doktor!«

»Hol' mal jemand den Schürhaken aus der Küche!« Werner Wiebeking stemmte mit ein paar geübten Schlossergriffen die dünne Türe auf.

»Ich glaube, die hat sich vergiftet ...« Die Portiersfrau faltete andächtig die Hände vor dem Bauch.

»Nee! Det sind bloß die fliegenden Nerven!« Das herdfeuerrote Gesicht der Köchin lugte wie ein Vollmond über die Schultern der andern.

»Krämpfe hat sie!« Elise, die bebrillte Jungfer, füllte ein Glas aus der Wasserleitung.

Auf ihrem Bett lag die Fränze in wilden Zuckungen, den dunkeln Strubbelkopf in das blauweißgestreifte Kissen gewühlt, bis über die Ohren unter der Decke verkrochen. Sie klammerte sich mit den Fäusten an die Eisenstäbe der Bettstelle, um nicht herausgerissen zu werden. Sie keuchte abgerissene, bittende, wehe Töne eines geängstigten, kleinen Kindes in die Tapetenwand hinein. Werner Wiebeking beugte sich über das Bett.

»Fränze ...«

»Nehmen sich Herr Doktor in acht! Die strampelt mit die Spazierhölzer!«

»Dat's ein Theater!«

»Fränze ...«

Unter der leichten Schulterberührung fing die Fränze an zu schreien.

»Laßt mich! Laßt mich! Zu Hilfe!«

»Wenn man 'nen Arzt ...«

»Das macht's nur noch schlimmer, Herr Doktor!« sagte die Küchenmatrone. »So'n Anfall braucht seine Zeit! Sonst tritt er ins Geblüt! Die kann man jetzt nur in Ruhe lassen!«

»... ja ... ich fürchte auch, Herr Kommissar!« sagte Werner Wiebeking und zuckte die Achseln.

»Ich warte sehr ungern!« Der Kommissar Dürisch trat auf den Flur. »Aber vorläufig ist da ja nischt zu wollen!«

»Herr Doktor Schraudt sitzt vorn«, meldete leise und besorgt der Diener Leopold seinem Herrn.

»Kenn' ich! Kennt jeder bei uns vom Bau!« sagte der Kommissar. »Was will denn der hier?«

»Meine Mutter bat ihn, für das Mädel zu sorgen!«

»Wohltäter der Menschheit ... Na – die Menschheit, die sich Herr Doktor Schraudt nachts so um den Schlesischen Bahnhof 'rum zusammenklaubt ... Ich glaub' nicht an die Besserung von dem Gesindel! ... 'Mahlzeit, Herr Doktor!«


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