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Im Schwarm – allein!

Zu Silvester hatte Herzogin Anna Amalia ihre Freunde und Getreuen nach ihrem am nördlichen Gebirgshang hinter Weimar gelegenen Lustschloß Ettersburg entboten.

Alle, wohl an die fünfzig, waren dieser Einladung gefolgt, und in dem im vornehmsten Zeitgeschmack ausgestatteten Prunksaal herrschte fröhliches Gewimmel. Hinter den hohen Flügeltüren, die auf eine kleine, von gewundenen Treppenzügen eingefaßte Estrade führten, senkte sich, von schirmenden Waldungen eingefaßt, eine breite Wiesenschicht hinab, den Blick in fernste Fernen ziehend. Jetzt lag überall dicke Schneeschicht, und die leuchtete von unten her als breite, gelagerte Masse herauf, von zartem Mondsilber geisterhaft umflossen. Wer ans Fenster trat, um von dort hinabzuschauen, wurde von dem herrlichen Anblick alsbald gefesselt und vermochte sich, während das höfische Gewühl hinter ihm säuselte und surrte, nur schwer von diesem Naturpanorama loszureißen.

Die Herzogin zeigte sich heute in ungewohntem Maße freigebig. In einem Nebenraum war ein kaltes Büfett aufgeschlagen, das außer Salaten, Braten und Torten auch wohlzubereitete Limonaden und köstliche Weine enthielt; während für die späteren Abendstunden eine mächtige Punschbowle in Vorbereitung war. Diese Nacht sollte nur der Freude gewidmet sein und da durfte es nicht karg zugehen. Hatte der junge Herzog vor seiner Mutter mitunter über die »verfluchte Sparsamkeit« gewettert: in der Silvesternacht sollte er zu derlei Klagen keinen Anlaß haben und mochte sich in Gottes Namen mit seinem ganzen Hofstaat nach Lust und Laune vergnügen und, wenns not tat, sogar – besaufen! Madame Mère würde schon ein Auge dazu zudrücken.

Trotzdem blieb in den ersten Stunden die Tonart noch höfisch-gedämpft, und die »geistreichen Leute« hatten Gelegenheit, sich zur Geltung zu bringen. Wieland vor allem schwamm in einer Woge von Wohlgelauntheit und Beliebtheit. Er hatte einen Kreis, zumal von älteren Herrschaften, um sich versammelt, denen er Bonmots und witzreiche Aperçus zum besten gab. Goethe liebte es nicht, sich derart in Parade zu werfen. Er war gewiß auch sprudelnd und lebhaft, schlenderte aber von einem zum andern und vermied es, Cercle abzuhalten. Dafür ließ er um so mehr seine Augen beobachtend umhergehen. Auf allen Gesichtern las er den Grad innerer Bewegtheit, jedes einzelne war gleichsam für ihn ein Kelch, aus dem er trank. Er kannte sie alle, und manche von ihnen hatte er liebgewonnen. Von der Herzogin-Mutter angefangen bis zu ihrem jüngeren Sohne, dem Prinzen Konstantin, gab es mehr als ein Dutzend guter Freunde. Einige waren ihm direkt ans Herz gewachsen. Und zwei davon ganz nahe: Karl August und – – die Eine! Sie war heute mit ihrem heimgekehrten Gatten erschienen und, vielleicht aus diesem Grunde noch stiller als sonst. Goethe sprach sie nur flüchtig, doch ließ er sie kaum aus den Augen. Sein Herz schlug ihm so warm, im bloßen Gedanken an sie.

Nach einiger Zeit zog er sich aus dem Gewühl in eine Nische zurück, wo er sich mit einem neuen Ankömmling bei Hofe, einem Freiherrn Sigmund von Seckendorff, in ein enggeführtes Gespräch einließ. Herr von Seckendorff, »sardinischer Oberstleutnant«, war ihm nicht bloß deshalb interessant, weil dieser seinen »Werther« ins Französische übertragen hatte, sondern vornehmlich darum, weil er, ein paar Jahre im Lebensalter ihm voraus, aus ausgedehnten Reisen in südlichen Ländern reiche Lebens- und Gesellschaftserfahrungen gesammelt hatte, die er gedankenreich auszuspinnen wußte. Er hatte vollendete Lebensmanieren, war in Musik und Künsten wohlbeschlagen und hatte über alles ein treffendes Urteil. Über den gegenwärtigen Weimarer Hofton sprach er mit unverhohlener Enttäuschung. Hier schienen Säbel und Hetzpeitsche mehr zu regieren als musische Kultur, deretwegen dieser Fürstenhof doch so gepriesen wurde. Goethe fühlte sich ein wenig mitbetroffen, nahm aber mit desto größerer Lebhaftigkeit seinen Herzog in Schutz, dessen Jugend einen gewissen Braus nicht zu entbehren vermöge; der aber voll edelster Gaben und hoher Pläne für sein Land sei. Seckendorff hörte höflich zu, konnte aber seine Zweifel nicht ganz unterdrücken.

Er schien einigermaßen recht zu behalten, als sich, nach den ersten stattgehabten Figurentänzen, bei denen es nicht immer regelrecht zugegangen war, Friedrich von Einsiedel mit einem Poem zu Wort meldete, das er voll hochgezogenen Spottes vortrug. Er dachte sich darin in die Rolle eines »Politikers« hinein, das heißt eines in Hofkreisen besonders unbeliebten Menschen, der unablässig seinen Amtsschimmel reitet, alles nach Paragraphen und Regeln beurteilt und für naive Lebensfreude überhaupt kein Verständnis hat. Unter dieser Maske durfte er Peitschenhiebe nach Belieben austeilen und machte von diesem Rechte reichlich Gebrauch. Selbst der eigene Landesherr wurde derb gezaust: als Fürstensohn, der Geburt und Thron vergessen habe und mit lockeren Gesellen, die ihm »nicht mal den Fuchsschwanz streichen«, leichtfertig in den Tag hinein lebe. Etikette sei verbannt, Politik werde verhunzt, ja man treibe mit der heiligen Staatskunst schnöden Scherz – –

»Das ist ein Jammer anzusehn,
Wie alle Projekte ärschlings gehn.«

Mehr noch diese derbe Ausdrucksweise als die respektlosen Gedankengänge erregten bei den Herrschaften älterer Jahrgänge nicht geringen Anstoß und auch Herr von Seckendorff mußte sich höchlich über eine derartige Tonverwilderung wundern. Um so mehr, als Karl August selbst an diesen kecken Versen seinen allerhöchsten Spaß hatte und gerade bei den unverblümtesten Anspielungen sich vor Vergnügen unter Lachen auf die Oberschenkel hieb.

Wie hätte da Goethe die Anzapfung, die er über sich ergehen lassen mußte, übelnehmerisch aufnehmen sollen! Alles in allem fand er sich noch recht milde porträtiert:

»'s ist ein Genie von Geist und Kraft,
Wie's eben unser Herrgott zur Kurzweil schafft.
Meint, er könnt uns alle übersehn,
Täten um ihn rum auf Vieren gehn.
Wenn der Fratz so mit einem spricht,
Schaut er einem stier ins Angesicht,
Glaubt, er könnt's fein riechen an,
Was wäre hinter jedermann.«

Das war ja nun freilich seine Schwäche und Neigung, die Menschen durch und durch blicken zu wollen. Dagegen konnte weder er noch ein anderer etwas machen. Es gehörte sozusagen zu seinem Beruf. Also quittierte er die schnippische Abkonterfeiung mit fröhlichem Gelächter.

Die Stimmung war jetzt einigermaßen vorgerückt. Den Weinen wurde eifriger zugesprochen, und da, nach herzoglichem Ausspruch, » in vino veritas« ist, so gab man sich weiter keine Mühe, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Nicht wenige von den jüngeren Hofdamen gingen auf diese Redeweise mit Vergnügen ein und es konnte nicht fehlen, daß auch bei den Tänzen mehr Freiheiten genommen wurden, als es sonst bei Hofe üblich war. Herr von Seckendorff fand, man könne sich an ein Bauernfest erinnert fühlen, jedenfalls habe er dergleichen in Weimar nicht für möglich gehalten. Doch machte Anna Amalia duldsame Miene zum lockeren Spiel – wie sollte sie ihrem geliebten Ältesten die Freude verderben? – und so stieg die Ausgelassenheit sänftlich weiter an.

Goethe war nicht in der Stimmung, hierbei mitzutun. Mochten die Leutchen sich vergnügen, wie sie wollten – was ging's ihn an? Er selbst aber fühlte jetzt das Bedürfnis, sich aus dem Trubel herauszuziehen. Menschengewühl konnte er nur bis zu einem gewissen Grade und Zeitpunkt vertragen. Danach wurde es ihm lästig, ja bedrückte ihn. Er hatte Sehnsucht, mit sich allein zu sein. So suchte und fand er die Gelegenheit, sich unbemerkt hinauszuschleichen.

Ah, das tat wohl, nach der Hitze des Ballsaals in frische Winterluft zu treten!

Behaglich wickelte er sich in seinen weiten Mantel und schritt weiter vor ins Freie. Blinkende Mondnacht umfing ihn. Seine Schuhe knirschten auf festgestampftem Schnee. Die Wege waren gut gehalten, da die Frau Herzogin sie zu benutzen liebte. Die gärtnerischen Anlagen rasch durchschreitend, strebte Goethe dem Walde zu, der mit hohem, prächtigem Baumstand ihn an sich zog und bald domartig umfing. Milde Dämmerungen, hie und da von Mondschimmer durchglitten, woben ihre Geheimnisse.

Vom Schloß her summte, bald kaum noch hörbar, Stimmengemurmel herüber. Hie und da zirpte etwas Musik dazwischen. Doch allmählich verlor sich dies ganz. Heilige Nachtstille umflutete den Dahinschreitenden.

Den Freunden war er entflohen. Aufatmend machte er eine kurze Weile halt und schritt dann, verlangsamten Schrittes, gedankenvoll weiter. Ob man seine Abwesenheit bemerkte? Ob man ihm deshalb grollen würde? So lieb ihm dieser neugefundene Freundeskreis war – in dieser seltsam-feierlichen Stunde, da dieses merkwürdigste, entscheidungsvollste Jahr seines Lebens zu Ende ging, konnte er Menschen um sich nicht länger brauchen. Mit sich selbst mußte er zu einem Abschluß kommen.

Aus tiefen Wirrnissen war er hervorgeschritten. Als er in jener letzten Silvesternacht, die ihn von der gegenwärtigen Stunde trennte, auf der Frankfurter Mainbrücke stehend, in ein noch völlig ungewisses Leben blickte, da hatte er nicht ahnen können, daß er heute an so ganz anderem Orte, unter so ganz anderen Manschen vielleicht eine neue Heimat finden, vielleicht gar ein neues Leben beginnen würde.

Was war inzwischen alles geschehen! Welch tiefdringende Umwälzungen hatten in seinem innersten Dasein sich vollzogen! Wie hatte er, dichtend und denkend, Menschen und Natur in sich aufnehmend, oft ein Spielball höherer Mächte und doch immer wieder aus sich selbst heraus sich aufraffend, einen weiten Horizont durchmessen und war auf Bahnen getrieben worden, die er vorher kaum nebelhaft vor sich aufsteigen sah. Und dennoch war es sein Weg gewesen, den er gegangen war – sein ihm vom Schicksal sowohl als von seinem eigenen Innern bestimmter und vorgesetzter Weg – dem er niemals hätte ausweichen können! Durch alle diese Schulen hatte er schreiten müssen, durch Freunde und Feinde hindurch, durch Liebes-Wonnen und -Qualen, durch fruchtbare Irrungen und furchtbare Erkenntnisse, durch lähmende Niedergeschlagenheiten und aufgrünende Hoffnungen, um schließlich – wo stehenzubleiben? Da, wo er jetzt sich befand, mit seinem sehnsüchtigen, unabänderlichen, gebieterischen Trachten nach einem Standort, »wo die gewöhnlichen Qualen der Menschheit ihn, in seinem innersten Dasein, gar nicht mehr anfechten mußten«. Dies war sein Ziel. Ihm schwindelte beinahe, indem er es dachte.

War solche Höhe erlangbar? Stärkste Zucht in seinem Innern war als Erstes erforderlich. Vieles mußte er aus sich heraus gewinnen. Doch nicht wenig mußte jene Frau ihm helfen, auf die jetzt alle strebenden und liebenden Kräfte seiner Seele und seines Geistes sich verheißungsvoll hinspannten. Sie allein durchleuchtete ihn, sie allein erspähte die feinsten und letzten Regungen seines schaffenden, aufwärtsringenden Strebens. Die andern Menschen – was wußten sie von ihm? Von dem, was auf dem untersten Grunde seines von Gott erschaffenen Wesens lag? Selbst die besten und vertrautesten Freunde und Weggenossen tappten da im Dunkeln.

»Die Menschen haben es oft schwer mit mir gehabt«, gestand er vor sich selber. »Aber«, fügte er hinzu, »ich selbst habe es mit mir am allerschwersten gehabt! Niemand von allen hat je zu erkennen vermocht, durch welche Höllen und Finsternisse ich geschritten bin!«

Abermals stehenbleibend, bohrten sich seine Blicke steil nach unten, auf den Weg, der unter ihm herlief. Da blinkte heller Schnee. Und wie er die Augen langsam aufhob und, die hochgereckten Baumstämme emporschweifend, das obere Astgewirr durchdrang, da goß sich matter silberner Mondschimmer ihm entgegen und tupfte, wie mit zarten Fingern, auf seine Brust und auf sein Antlitz. Selig erschrak er.

Fort die düsteren Gedanken! Er durfte nicht unerkenntlich sein. Alles in allem: er hatte es wunderbar gut getroffen! Einen glücklichen Weg war er geführt worden! Die Freunde, die er jetzt gefunden hatte, waren gut und wertvoll. Und würden sich gewiß auch – viele unter ihnen! – als treu erweisen. Die als Gegner aber wider ihn dastanden, wer sagte, daß sie es ewig bleiben würden? Sollte es ihm nicht gegeben sein, sie bezwingen zu können? Nicht in Feindschaft, sondern indem er sie zur Anerkennung brachte!

Was konnte ihn dann noch hindern, zu bleiben?

Wirklich zu bleiben? Auf unbestimmte, unabsehbare Zeit hinaus? Vielleicht für immer?!

Wie Schauer überlief es ihn. Es war ein tiefschneidender Entschluß, der da, durch Schicksals Mund, von ihm gefordert wurde!

Doch er mußte bleiben! Es gab keine andere Wahl. In dieser schicksalshellen Minute zerstoben die letzten Zweifel. Wenn je er aus seinem bisherigen Zigeunerleben, aus der ewigen unwirtlichen Unruhe seines Inneren zu Stätte, zu Festigkeit gelangen sollte – so war es jetzt und – war es hier!

Hohe Aufgaben erwarteten ihn. Gewiß, sie erforderten nicht minder hohe Opfer. Er mußte Pflichten übernehmen, Bindungen ertragen. Er konnte nicht mehr nach augenblicklichen Wallungen, nach schöner, verantwortungsloser Willkür leben. Er konnte nicht mehr – und dies war das Schmerzlichste– ausschließlich Dichter sein.

Ein Verzicht, gewiß! Und sogar ein großer! Trotzdem, weit Höheres als ein Verzicht!

Nicht minder – eine Bereicherung! Ja, eine Erweiterung seines ganzen Inneren! Indem er lernte, in ein Ganzes sich einzuspannen, in einem geordneten, von ihm mitzuordnenden Staatswesen gemeinsam mit einem begabten jungen Fürsten, der sich in seine Hand gegeben hatte – rührig und schaffend sich zu betätigen, mußten ihm neue Kräfte zuwachsen, die seinen Menschenwert erhöhten und hierdurch auch für den Dichter in ihm fruchtbar wurden.

Er hatte, wenn er mit seinem herzoglichen Freunde die weimarischen Lande durchstreifte, im Volke viel Not, viel Armut, viel Zurückgebliebenheit beobachtet: dem abzuhelfen sich gebot! Hier mit zugreifen zu können, lindern zu dürfen, verschrumpfte Herzen neu zu beleben, hungernden Hirnen Nahrung zu bieten, war das nicht eine lohnende und darum lockende Aufgabe, die sein Inneres mit eigentümlicher Beseligung zu durchwärmen und zu beglücken vermochte?!

Dienen, um zu helfen! Hieß das nicht, sich tiefer ins Leben hineinstellen? Menschen, Natur, gesellschaftliche Zustände, gesetzliche Ordnungen scharfblickender erkennen und schöpferisch mitgestalten? Durfte da der Dichter murren, wenn er vorerst, scheinbar untätig, beiseite stehen mußte – beobachtend, lernend? Was bisher nur wie eine dumpfe Masse, undeutlich und fremdartig, vor ihm gelagert hatte, mußte sich jetzt als ein durchschaubarer Organismus vor ihm offenbaren, als etwas Unbedingt-Lebendiges, das seinen spendenden und formenden Händen willig sich darbot. Welch gewaltiger Aspekt!

Freilich mußte er sich selbst in manchem Betracht erneuern, ein Werdender und Wachsender bleiben, immerfort. Viel Altes und Überlebtes aus sich herauswerfen, um Platz zu schaffen für Wertvolleres! Vor allem, radikaler noch als bisher, den Geist Werthers in sich überwinden, ja ausmerzen! Und wenn auch nicht mehr ausschließlich Dichter bleiben, so desto mehr Mensch werden: Vollmensch, in allseitiger Durchbildung – wahrlich, etwas Großes!

Und hierdurch erst ganz, mit all seinen Kräften ins Leben wirken!

Den Deutschen wollte er vorleben, wie sie selbst einmal werden müßten: frei von Philisters Banden und dumpfer Beengtheit und hierdurch doppelt frei zu selbstbewußtem Dienst am großen Ganzen! Dann erst – ja, dann erst durfte erhofft werden, was einstweilen noch wie ein feiner Traum vor der Seele der Besten schwebte: die Erringung einer wahren und echten, in sich selbst geschlossenen, bewußten Volkheit.

Was hier zu erringen war, zunächst mußte er es an sich selbst vollbringen. Doch verbunden im Geiste stets mit dem Wohl und der seelischen Förderung jener anderen, die ihm vertrauten. Ganz wie bisher, nur mehr noch, wollte er die Welt durch das »Medium der Liebe« betrachten – einer Liebe, der er einen umfassenderen und jetzt erst wahrhaft schöpferischen Sinn verlieh. Darum vor allem wollte er um sich her eine echte Auslese der Besten treffen, nicht nur zur Begründung eines »Musenhofes«, sondern einer weit ins Land wirkenden Kulturvereinigung deutscher Menschen. Gute und brauchbare Elemente waren genügend vorhanden, und wenn es gelang, woran nicht zu zweifeln war, auch Herder hierher zu ziehen und von dessen hohem Gedankenfluge sich befruchten zu lassen, mußte dann nicht etwas entstehen, das im gegenwärtigen Deutschland, wohl gar in Europa, nirgends seinesgleichen hatte?

Auch darum mußte er bleiben! Es gab in der ganzen Welt gegenwärtig nur diese eine Zukunftsmöglichkeit!

Allmählich begann der Mond sich zu verziehen. Hinterm Berge breitete er letzten Glanz. Ein sanfter Wind strich durch die Bäume und bewegte das vielverschlungene kahle Gezweig. Eine Glanzfläche, glitzerte die ferne Schneelandschaft hindurch und lockte Goethe umzukehren und langsam zurückzuwandern. Die Mitternachtsstunde mußte jetzt nahe sein. Die wollte er abwarten und dann sich den Freunden wieder stellen.

Aber die schienen bereits ungeduldig geworden zu sein. Vom Schloß her vernahm er durcheinandergewirrte Stimmen, die nach ihm riefen. Ein heller Lichtschein war auf die Estrade der Freitreppe gefallen, und sein Auge erblickte, während er noch im Waldesschatten verborgen blieb, hinausdrängende Gestalten, die spähten und schrien. Sollte er antworten? Er tat es nicht. Noch wollte er das Recht sich wahren, sich selbst anzugehören. Doch im Geiste winkte er ihnen zu.

»Ihr alle«, sprach es in seinem Inneren, »sollt mir helfen an meinem hohen Werk! Aber voranschreiten muß ich Euch – vorerst allein!«

Da setzte schon die Glockenuhr des Kirchturmes hinter dem Schlosse zum Schlagen an, mit hallenden, ausschwingenden, dunkel-bedächtigen Tönen, erst vieren, die die Viertelstunde ansagten, und dann helleren, mächtigeren, die die Stundenzahl verkündeten. Goethe stand und zählte, hingegeben, andächtig. Zwölf bedeutungsvolle Schläge. Dann Stille. Das Jahr 1776 hatte begonnen.

Die Rufer an der Treppe aber hatten sich zurückgezogen. Jetzt mußten alle im Saale versammelt sein, um miteinander anzustoßen. Alle – außer ihm – der nur im Geiste mit ihnen versammelt war.

Er trat hinaus aus dem Walde. Weiter breitete sich um ihn die Landschaft. Die schneeigen Hänge. Der umrahmende Forst. Das lichthelle Schloß. Der hohe Himmel.

Goethe blickte empor.

Rings umher, soweit er schauen konnte, lauter grüßende, funkelnde Sterne ...


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