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Ewiges Hin und Her

Bei seinem Freunde André hatte er aufs neue Unterkunft gefunden. Aber fast den ganzen Tag verweilte er im d'Orvilleschen Hause.

Lili war freundlich zu ihm, obwohl zumeist nicht mit der alten Herzlichkeit. Unfähig, sich zu verstellen, ließ sie ihn fühlen, daß etwas zwischen ihnen läge. Aber in allem, was sie tat und sprach, war sie so lieb, einfach und natürlich, daß Goethe, selbst wider sein Wollen, hingerissen von ihr blieb. Ihre Rolle als Kavaliersbändigerin hatte sie abgelegt. Sie war jetzt wieder das anspruchslose Haustöchterchen.

So wollte auch er jetzt nicht anders als still und bescheiden sein. Gar nicht zu bemerken brauchte man ihn. Wenn man ihn nur friedlich duldete! Wenn er nur in Lilis Atmosphäre weilen durfte!

Am liebsten saß er, von aller Welt unbemerkt, oben in Lilis Stübchen. Auch sie selbst brauchte nicht zugegen zu sein. Ungestört mochte sie ihren Hausgeschäften nachgehen. Er ließ sich dann vor ihrem in buntem Stroh eingelegten, puppenhaft winzigen Schreibtisch nieder und sinnierte, in dumpfes Glücksgefühl eingewiegt. Nach einiger Zeit griff er dann zur Feder und schrieb. Dichtete er wohl gar? Ach nein, das gibt's jetzt nicht für ihn. Er saß da und schrieb – an Gustgen! Das durfte er tun. Lili wußte darum und war nicht im mindesten eifersüchtig oder böse. Sie hatte wohl eher ihren Spaß daran. Was brauchte sie von einer so wesenlosen Geliebten, einem halben Gespenst, zu befürchten? Wenn ihr exaltierter Herr Bräutigam mit derlei Korrespondenz sich eine kuriose Abschweifung zu verschaffen geruhte, so mochte er es tun. Was schrieb er denn auch wohl an die Ungekannte, Ferne? Schwärmereien über Lili! Vielleicht auch hie und da – was verschlugs? – schüchterne Klagen – und minder schüchterne Selbstanklagen! Vor allem aber schilderte er ihr haargenau, wie es in ihm und um ihn aussah. Jedes kleinste Lebenszeichen schrieb er hin, das ihn im Zimmer an Lili gemahnte. Das Schnupftuch, das auf dem Tische lag; das Körbchen mit dem darüber hingeworfenen Halstuch; die an der Wand aufgehängten hohen Reitstiefel – lauter Gegenstände, die, weil sie »Ihr« gehörten, den Duft ihres Wesens in sich gesogen zu haben schienen. Selbst ihre Uhr mit langer Kette und all die Schachteln und Pappkartons für Hüte und Hauben, die ungeordnet umherstanden und lagen, ließen ihn vibrieren. Und wenn gar ein Kleid irgendwo ausgebreitet lag, das sie vielleicht kürzlich erst ausgezogen hatte oder das sie demnächst überwerfen wollte – nicht widerstehen konnte er, daß er heimlich dazu hinschlich, es ans Gesicht drückte und den Geruch, der darin wob, beseligt in sich einsog.

Auf einmal erscholl draußen auf dem Gange Lilis frische, helle Stimme. Wie ein Ertappter schreckte der verliebte Jüngling zurück und schlich wieder zum Schreibtisch. Behende Schritte hörte er näher kommen – mit raschem Zugriff ging die Tür auf – und im Rahmen erschien, jugendlich-schlank, und voller Leben, die himmlische Gestalt. Er mußte den Atem anhalten, um nicht vor Entzücken aufzujauchzen, als er die Strahlende erblickte.

Nun? Ob er nicht Lust habe, mit ihr und dem Cousin einen Ausritt über Land zu machen? Es sei gerade so schönes Wetter!

Ob er wohl wollte! Nicht flink genug konnte er sich bereit machen. Bloß daß Herr d'Orville mitwollte, war eigentlich überflüssig. Doch die Hauptsache war, er selbst an ihrer Seite! Fünf Minuten später stand er bereits auf der Straße und wartete, während ein Stallknecht die Pferde hielt. Bald öffnete sich das Tor und an des Cousins Seite erschien Lili in blendend sitzendem Reitkleid, den pelzverbrämten Dreispitz ins blonde Gelock gedrückt, in Jugend und Frohsinn erstrahlend. Im Nu saß sie, von d'Orville kaum gestützt, im Sattel und machte sofort vor dem mit Augen sie fast verschlingenden Liebhaber einen kurzen Paradegalopp, sicher und kühn wie eine Amazone. Und dann ging's zu dritt, heidi, ins freie Land hinaus.

 

Das waren die Höhenpunkte seines jetzigen Offenbacher Aufenthaltes: wenn er mit Lili zusammen ausreiten konnte!

Einmal, während eines solchen Ausritts, merkte Goethe, wie ihn vom Straßenrande her ein Weib aus dem Volke mit besonderer Höflichkeit grüßte. Er wußte nicht gleich, wohin sie zu stecken. Dann aber fiel ihm ein, es mußte wohl Lottchen Nagel sein, jenes wunderliche Mädchen, das er vor seiner Abreise mit den Brüdern Stolberg besucht hatte. Und er erinnerte sich: Er hatte von der Reise her mal an das artige gute Ding einen Versbrief gerichtet. »Mitten im Getümmel mancher Freuden, mancher Sorgen, mancher Herzensnot« hatte er ihrer damals gedacht. Warum hatte er sie seither so völlig links liegenlassen? Er nahm sich vor, sich mal wieder nach ihr umzuschauen.

Als er tags darauf Lottchen in ihrer Kellerwohnung überraschte, empfing sie ihn mit fast ausgelassener Freude. Mit Verwunderung las er in ihren Augen, daß hier ein Herz seiner geharrt hatte und ihm mit Anhänglichkeit entgegenschlug. Seinen Brief von damals verwahrte sie als Heiligtum und trug ihn immer bei sich. Sie konnte ihn fast Wort für Wort auswendig und wußte nicht genug, wie sie dem Dichter danken sollte, daß er sich so teilnehmend ihrer erinnert hatte. So sprachen sie miteinander wie zwei alte Freunde, und es ward Goethe seltsam anheimelnd dabei zumute. Diese schlichte, offene, warmherzige Sprache hatte er lange nicht mehr gehört. Sie tönte ihm hier aus dem Munde eines Mädchens entgegen, das, wie er wußte, sich nicht gerade des tadellosesten Rufes erfreute. Das schon manch einen mit seiner Gunst beschenkt haben sollte. Und das doch ein unverzierter, unverdorbener Vollmensch war, in dessen Herzen nicht etwa Lüsternheit, wohl aber Liebesfähigkeit wohnte.

Goethe war stärker, als er es sich eingestehen mochte, von Lottchen Nagel ergriffen und gerührt. Als er ihr zum Schluß die Hand reichte, versprach er ihr, wiederzukommen. Und freute sich darauf.

Hinterher, bei Lili, nüchterner Empfang. Er war zu einer Stunde gekommen, wo sie ihn, wie er gleich fühlte, »so ganz entbehren konnte«. Das legte sich auf ihn mit quälender Beklommenheit und es bedurfte nur eines ganz geringen Anlasses, um über ein Nichts zu einer gereizten Auseinandersetzung zu kommen. In deren Verlauf ließ Goethe Lili mit kränkender Unumwundenheit fühlen, wie wenig er sich von ihr verstanden fühlte. Darüber brach diese in Tränen aus und lief aus dem Zimmer. Und hinterher mußte Goethe sich von Cousine Dorothee Vorhaltungen machen lassen, daß er »sein Bräutchen« nicht richtig zu behandeln wisse. Das gute Kind habe sich sehr um ihn gegrämt.

Hierdurch war ihm aufs neue der Aufenthalt in Offenbach verleidet. Hatte er es nötig, sich derart abkanzeln zu lassen? Seinen Nerven allein war er es schon schuldig, die Ruhe des Vaterhauses zu suchen.

Doch was er erwartet hatte, sollte ihm nicht beschieden sein. Nach wenigen Tagen bereits tauchte Lili unerwartet in Frankfurt auf! Es war Messezeit, und das Haus ihrer Mutter wimmelte von Besuchern. Da mußte sie zu familiären Repräsentationsverpflichtungen mit heran. Alle möglichen »Onkels« und »Vettern« tauchten auf. Und jedem von ihnen gefiel das in Schönheit herangeblühte, liebenswürdige Mädchen überaus gut. Verwandte aber durften sich schon einige Freiheiten erlauben. Mal die Wange tätscheln, mal das Hüftlein fassen! Und der unglückliche Bräutigam – wer beachtete ihn wohl groß? – sollte daneben stehen dürfen und sich vor Ärger die Lippen zerbeißen! Blut schwitzte er vor Eifersucht – und durfte nicht einmal den Mund auftun. Verwandtenrechte waren zu respektieren!

Damals war's, daß ihm ein Liedlein einfiel, so recht aus seinem gepeinigten Blut heraus. Von irgendeinem vagen Jugendeindruck überrascht, erblickte er sich selbst als eine Ratte, die Gift gefressen hatte. Mit bitterer Lustigkeit sah er sie vor sich: sie läuft in alle Löcher, schlürft alle Feuchtigkeit, verschlingt alles Eßbare, das ihr in den Weg kommt, und ihr Innerstes glüht von unauslöschlich-verderblichem Feuer. Was ist nur mit der Ratte? Da war ihm plötzlich, als flüsterte Freund Mephistopheles des Rätsels Lösung ihm ins Ohr. Ihr ganzes tolles Unwesen stammte nur daher, daß sie »Lieb im Leibe« hatte! Derlei machte Menschen und Ratten verrückt! Und weil er hierüber lachen konnte und es sich ihm unwillkürlich in lose Verslein fügte, fühlte er sich innerlich bis zu einem gewissen Grade entlastet.

Dank Dir, braver Mephisto! Du selbst sollst das Liedlein jetzt in Auerbachs Keller vor lockeren Gesellen singen dürfen. Und es soll allen, die es hören werden, sehr viel Spaß bereiten.

Das waren die hellen Momente, denen Goethe dankbar war. Er saß nun, um den peinlichen Eindrücken von daheim zu entgehen, aufs neue in Offenbach, bei Freund André. Konnte stundenlang mit Pfarrer Ewald zusammenhocken und über dem »Pharao« brüten, obwohl ihn das Spiel in keiner Weise interessierte. Sprach auch hin und wieder im Nagelschen Hause, um ein lässiges Stündlein zu »verliebeln«, vor. Oder lag halbe Nachmittage, selbst bei widrigem Wetter, draußen im Kahn auf dem Fluß, träumte und ruderte oder ließ sich treiben.

Zu innerer Ordnung kam er nicht. Von einem hetzte er zum anderen. Und als gar Lili wieder nach Offenbach zurückgekehrt war und er ihr nicht gut aus dem Wege gehen konnte, mußte er sich alle Mühe geben, daß er nicht aufs neue – zur »Ratt' im Kellernest« würde!


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