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Heimatwärts, liebwärts!

Munter trabte Goethe auf seinem Rößlein in sengender Julihitze über die alte Rheinstraße, die nach Speyer führte. Als er durch Drusenheim kam, führte der früher so oft von ihm benutzte Weg nach Sesenheim ab. Erinnerungen, Lockungen, Verführungen wollten auf ihn einstürmen. Doch er wehrte sie entschlossen von sich ab. Vielleicht später einmal, wenn sich all dieses noch tiefer gesetzt haben würde! Was ihn jetzt vorwärts trieb und innerlich beherrschte, war einzig Lili.

Wie es möglich war, daß er sich jemals von ihr hatte losreißen wollen, vermochte er kaum noch zu begreifen. Jetzt, nachdem er zehn Wochen in der Welt herumgefahren war, neue Stadt- und Natureindrücke empfangen, mit Hunderten von Menschen verschiedenster Art gesprochen, sein ganzes Innere gleichsam allseitig durchschüttelt und gelüftet hatte, freute er sich doppelt, daß das alte Gefühl seiner Liebe so unangetastet sich in ihm behauptet hatte, ja noch gewachsen und sieghafter geworden war. Mit völlig aufrechten Sinnen und Gedanken ritt er jetzt »heimatwärts, liebwärts« – als an die Erdenstelle, wohin er gehörte, und an das Menschenherz, an dem er sich beseligen konnte. Keine Zweifel, keine Wirrsale wollte er mehr in sich dulden. Er wollte sich einfach und gerade zu seinem Glück bekennen.

Wenn er nur Flügel hätte, gleich hinüberzufliegen! Sein alter Wunsch wurde wieder in ihm mächtig, und neidvoll blickte er Schwärmen von Schwalben nach, die quer über die Straße und über die Felder dahinflatterten, um hinter dunkelnden Waldungen zu verschwinden. Wie lahm kam ihm sein wackeres Rößlein vor, auf dem er wie im Schneckengang über die unabsehbar sich hinziehende Landstraße dahinkroch. Er trieb es vom Trabe zum Galopp an. Doch bald merkte er am unregelmäßigen Schnaufen des Gauls, wie wenig diesem die Jagdtour behagte, und so ließ er ihn wieder in gemächlichere Gangart zurückverfallen.

In Speyer, dann in Heidelberg hatte er zu übernachten. Es ging ihm alles zu langsam, und ärgerlich ward er über jeden Menschen, der sich an ihn herandrängte und etwas von ihm haben wollte. » Sapienti sat« schrieb er, mit unlustigem Humor, in ein Stammbuch, das ein Student der Rechte ihm vorlegte. Mochte der sich dabei denken, was er wollte!

Endlich wieder Darmstadt: diesmal letzte Station, wie im Mai damals die erste! Dort erwartete ihn eine Überraschung. Als er das Mercksche Haus betrat, fand er daselbst Herder nebst Gattin vor: seit mehr als zwei Jahren das erste Wiedersehen mit dem alten Freunde! Schade, daß er es in solch innerer Zerstreutheit hinzunehmen hatte!

Doch da half nichts, er mußte sich zusammenrappeln. Herder trat ihm mit Respekt und offener Freundlichkeit entgegen. Er war milder, ausgeglichener geworden. Die alte Bissigkeit hatte sich merkbar verzogen und meldete sich nur hie und da in spöttischen Bemerkungen wieder an. Er war gekommen, seine Frau abzuholen, die er ein Vierteljahr lang hatte entbehren müssen und deren Wiedersehen ihn erfrischt hatte. Außerdem hatte er einen hessischen Prinzen, seinen ehemaligen Zögling, der durchaus katholisch werden wollte, wieder »zur Raison bringen« müssen, und das war ihm auch nach zweitägigem, erschöpfendem Debattieren gerade heute gelungen. Auch dies stimmte ihn heiter und friedvoll.

So war denn die Berührung mit Herder eine glückliche und harmonische. Im Verein mit den beiden Ehepaaren verlebte Goethe im Merckschen Hause einen äußerst angeregten Abend. Im Durchsprechen vieler literarisch-geistiger Tagesprobleme, sowie im Austauschen von mancherlei Erinnerungen ging Goethe immer mehr aus sich heraus, und schließlich hing alles an seinen Lippen. Er entwarf die drolligsten und lebendigsten Schilderungen von seiner Reise, des öfteren kreiste eine Lachrunde um den Tisch, auch wurde einer Pfirsichbowle wacker zugesprochen, und nicht zuletzt fühlten die beiden Damen sich durch die Gegenwart des gefeierten jungen Dichters, der zugleich ein so scharmanter Kavalier war, aufs höchste angeregt. Bis weit nach Mitternacht saß man beisammen, und in froher Laune wurde verabredet, daß man am morgigen Tage die Tour nach Frankfurt gemeinsam machen wollte. Herders wollten sowieso hin. Und Merck fand auch etwas, das er dort zu erledigen hätte. Bloß seine Gattin würde, ihren Hausfrauenpflichten getreu, daheim bleiben.

Neben dem Wagen, in dem die dreie Platz genommen, als einzelner dahinreitend, fühlte Goethe so viel innere Freiheit, daß er von dem Gespräch, an dem er sich mit gewohnter Munterkeit beteiligte, sich nicht völlig beherrschen zu lassen brauchte. Seine Gedanken flogen voraus. Und sie jauchzten in ihm und freuten sich. Malten sich heitere Bilder aus und genossen im voraus die Glücksmomente des Wiedersehens.

Nach wenigen Stunden tauchten die Türme von Frankfurt auf. Sie waren Goethe noch nie so schön und malerisch erschienen wie eben jetzt. Und er grüßte sie aus voller Heimatbrust.


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