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In Fechterstellung

Froh, dem Gezischel entronnen zu sein, das ihn von Züricher Schreibstuben her umzüngelt hatte, war Goethe seines Weges gezogen und sah sich zu seinem Erstaunen gezwungen, in Basel sehr verwandten, doch viel unverhüllteren Angriffen die Stirn bieten zu müssen. Es war das erste Mal, daß ihm einer aus dem alten Rationalistenlager, ein Anhänger seines intimsten Feindes Nicolai, mit aufgeschlagenem Visier streitlustig gegenübertrat.

Mit Grüßen von Bodmer, dem Ewig-Zweideutigen, hatte Goethe es übernommen, den Baseler Ratsschreiber Isaak Iselin aufzusuchen, den er als Verfasser einer namentlich von Herder sehr geschätzten »Geschichte der Menschheit« dem Rufe nach kannte. Sein Trieb, überall die Führer der geistigen Bewegung kennenzulernen und sich an ihnen zu messen, hatte Goethe mit besonderer Freude von Bodmers Empfehlung Gebrauch machen lassen.

Mit jenem natürlichen Scharm, in dem er sich Meister fühlen durfte, betrat der Führer und Abgott der jungen Stürmer- und Drängergeneration die schlecht gelüftete Studierstube des Basler Gelehrten. Bücher, Bücher, Bücher rings umher. Reihe an Reihe standen sie bis an die Zimmerdecke, spinnenwebig-grau, und lagen auch noch auf Tischen, Bänken und Stühlen verstreut. Selbst vom Fußboden auf ragten ganze Stapel empor, Konvolute von Papieren dazwischen, vergilbt und mit Zettelchen besteckt. Andere wieder waren zusammengerollt und im Durcheinander halb heruntergerutscht. Ein vertrockneter alter Blumenstrauß, den eine Verehrerin vor Wochen gebracht haben mochte, stand in fauligem Wasser und trug dazu bei, die Luft weiter zu verpesten.

Aus ächzendem Lehnstuhl erhob sich vom Schreibtisch her ein kränklich aussehendes, hüstelndes Männchen, das auf den ersten Anblick wie ein klappriger Greis wirkte, obwohl es kaum mehr als fünfzig Jahre zählen mochte. Es streckte dem Besucher eine verrunzelte und kraftlose Hand entgegen, die sich unter Goethes kräftigem Fingergriff gallertweich zusammenquetschte. Aber in den Augen lag Geist, und die schmale, leichtgekrümmte Nase sprang fast kriegerisch vor.

»Also Sie sind der berühmte Goethe?« hüstelte Magister Iselin nach der ersten Begrüßung. »Böse Menschen würden vielleicht sagen: der berüchtigte! Aber denen wollen wir denn doch nicht Folge leisten!« Verschmitzt meckerte er vor sich hin.

»Sehr gütig!« parierte Goethe. »Das käme wohl auf die Auffassung an. Und damit klassifiziert und richtet ein jeder sich selbst.«

Sein Auge blickte klar und herzhaft. Die in sich verkrochene Pergamentmotte da vor ihm hatte, trotz ihrer listigen Anzeichen, keineswegs etwas Schreckhaftes für ihn.

»Gut gegeben, gut gegeben!« anerkannte der Herr Ratsschreiber. »Wie vom Verfasser des ›Götz‹ nicht anders zu erwarten! Wird ja von vielen sehr bewundert, sehr bewundert. Hat unleugbar etwas Starkgeistiges, Originales. Originalgenie muß sein. Ohne das – heute keine Marktbewertung! Aber der ›Götz‹ hat es – das Kraftgeniale – ja, der hat es. Schlägt gleich mit der eisernen Faust auf den Tisch, und wenn er gar das Fenster zuknallt, hihihi – aber da stehen ja lauter Gedankenstriche!«

»Ich bin bei einem Mann, der zu lesen weiß«, erwiderte Goethe mit ironischer Verbeugung. »Und den auch Gedankenstriche nicht in Verwirrung bringen! Am wenigsten, wenn sie sich auf einen Körperteil beziehen, der bei der gelehrten Gedankenarbeit so wacker Mithilfe leistet!«

»Meine volle Anerkennung, Herr Ritter vom Geist! Ihr wißt bei dem betreffenden Körperteil bestens Bescheid!« gab Iselin schlagfertig zurück. »Doch nun lieber zu etwas anderem! Welch neuen Ansturm auf die Zitadelle des gesunden Menschenverstandes bereitet der Herr Doktor grade vor?«

»Ich habe weder dem Menschenverstande, noch der Gesundheit je den Krieg erklärt«, wehrte Goethe ab. »Freilich glaube ich, daß es damit allein nicht getan sein kann! Es muß auch etwas Schöpferisches hinzukommen.«

»Ah, jetzt sind wir beim rechten Kapitel!« nickte Iselin Beifall. »Wie ich schon sagte: Originalgenie! Das heißt: alles drunter und drüber schmeißen, was jemals feststand. Wenn nur alles munter ins Wackeln und ins Rutschen kommt! Daß aber die erlesensten Menschengehirne Jahrhunderte gebraucht haben, derlei aufzubauen, das geniert die großen Geister von heutzutage nicht! Respekt ist eine Tugend, die außer Kurs gesetzt ist. Wozu auch? Das Genie, die Inspiration machen alles! Die bezieht man frischweg von der Natur! Das ist ja die große Heilige, an die man heute glaubt – und die alles Lernen, alles mühsame Sicherarbeiten überflüssig macht! Immer nur schlankweg aus dem Handgelenk heraus! Und alles ungescheut herausspeien, was einem grade in die Gurgel steigt! So hat's der große Lehrmeister und Propheta Rousseau gelehrt, der mit seinen »Konfessionen« jedem fröhlichen Dreck und jeder wuchernden Mistgeburt Tür und Tor aufgemacht hat!«

Goethe lachte dem erzürnten Iselin unbefangen ins Gesicht.

»Warum ereifern Sie sich so, verehrtester Herr Ratsschreiber?« versetzte er munter. »Muß denn immer wieder der arme Rousseau für die Sünden von uns deutschen Schwarmgeistern büßen? Mag sein, er hat uns das Signal gegeben! Aber frechgeworden sind wir ganz auf eigene Faust! Und wenn wir von manchem künstlich aufgebauten Kartenhaus heute nichts mehr wissen wollen, so geschieht's einzig und allein darum, weil es uns just den Weg versperrt! Wir wollen und müssen an Gottes freie Luft hinaus. Und wollen den Erddampf riechen, der aus den Äckern steigt. Wenn der anderen Nasen als Mistgeruch erscheint, schade um sie! Uns jedenfalls erscheint er als der Duft des ewigen und segensreichen Wachstums der Natur!«

»Da haben wir's!« seufzte Iselin. »Natur und immer wieder Natur! Was heißt das anderes als sich kopfüber ins Chaos stürzen? Zucht der Gedanken, darauf kommt es an! Und die Natur, die Ihr anbetet, ist eben das, was unterworfen, was erzogen, was gemaßregelt werden muß. Natur, läßt man sie gehen, schießt allenthalben gleich ins Unkraut. Nur mit dem Geist kommt man vorwärts, der die ungebärdige Naturkraft in Röhren ableitet und in Becken faßt. Statt auf den Wirrkopf Rousseau zu hören, solltet Ihr lieber fleißig im Diderot lesen, oder auch im Lamettrie! Und selbst eine tüchtige Portion vom Potsdamer Stockmeister Nicolai könnte Euch wahrlich nicht schaden – ganz gewiß nicht schaden! Aber da lauft Ihr ja gleich davon, wenn man Euch bloß den Namen dieses Wackeren nennt!«

»Ganz recht, ›den Nicolai wollen wir am Ofen stehen und stinken lassen‹, wie Freund Shakespeare sagen würde«, bestätigte Goethe. »Solch nüchterner Kopf und armseliger Tropf, – der gleich in Ohnmacht fällt, wenn unversehens ein Hauch von Rauhluft oder gar Poesie ihn streift! Als sei das etwa ein Gifthauch! Was soll Der uns zu sagen haben? Nicht das allermindeste! – Was verlangen wir denn Großes? Doch nur, daß man uns unsere eigne Lebenslust gönnt! Und darauf haben wir doch schließlich Anspruch! Unser ganzes Verbrechen, das sehe ich immer mehr ein, ist unsere Jugend. Die wollen wir freilich uns nicht nehmen lassen – am wenigsten von solchen, die ... niemals jung gewesen sind!«

»Also daher pfeift der Wind! Wir sind rostiges altes Eisen! Sind es immer gewesen!« Magister Iselin schlug die Augen anklägerisch gen Himmel, als handle es sich um ein Sakrilegium. »Ja, freilich, wir haben unsere jungen Jahre weder nutzlos vertändelt, noch freventlich durchrast. Wir haben, Gott sei's geklagt, redlich gearbeitet. Und sind bescheiden gewesen gegenüber Leuten von höherem Wissen und tiefgründigerer Erfahrung. Wir haben uns nicht eingebildet, daß mit uns die Welt erst beginne, sondern begierig und dankbar aus dem Brunnen getrunken, den eine fürsorgliche Vorzeit uns konserviert und übergeben hat. Darüber ist man heute längst hinaus, wo mit jedem Kraft- und Originalgenie alle Weisheit der Welt aufs neue erst geboren wird. Jeder aus dem Nest gefallene Spatz pfeift heute sein eigenes Lied. Und sagt, das komme aus der ›Intuition‹ – die bekanntlich vom heiligen Geist stammt, direkt vom heiligen Geist.«

So ging die Unterhaltung über eine Stunde lang fort. Beide Geisteskämpen standen blank und blitzend einander gegenüber und hatten ihre Freude daran, dem Gegner tüchtig eins auf die Plempe zu geben. Das Schönste aber war, daß sie darum einander keineswegs grollten, sondern fast eher einander liebgewannen. Für Goethe jedenfalls war es ein Labsal, einen offenen Widersacher sich gegenüber zu sehen, der zwar auch manchmal von der Seite stach, aber doch nicht mit falscher Freundlichkeit sich umgürtete. Und der auch von ihm selber Hiebe entgegennahm, ohne sich allsogleich auf den Beleidigten hinauszuspielen. Darin lag das Anerkenntnis ehrlicher Gegnerschaft und geistiger Gleichberechtigung. Er selbst fühlte für Iselin, so sehr er seine Betrachtungsweise ablehnte, einen gewissen Respekt. Außerdem machte es ihm Spaß, ihn zu studieren. Er reizte diesen Widersacher mitunter sogar absichtlich, um ihn desto mehr aus seinem Dachsbau hervorzulocken. Dann freute sich der Psychologe in Goethe und fühlte sich durch ein originelles Exemplar der Gattung »Mensch« innerlich bereichert.

Darum ward der junge Besucher, je länger die Unterhaltung dauerte, desto zuvorkommender und liebenswürdiger im äußeren Gebahren. Und so erreichte er, daß der gefürchtete Basler Gelehrte, als sie auseinandergingen, nicht nur äußerlich versöhnt mit ihm war, sondern von Goethes menschlichem Wesen sich gradezu eingenommen zeigte.

»Junger Freund, junger Freund«, sagte er zum Abschied, »ich sehe schon, Sie werden Ihren Weg gehen. Die Bahn liegt vor Ihnen offen. Man wird nun in deutschen Landen längere Zeit sich darin gefallen, Tatendurst zu spiegeln, Stärke zu zeigen. Und Sie, Verehrtester, werden darin den anderen gewiß noch voranschreiten. Wir aber«, – ein zweideutiges Lächeln erschien auf den dünnen Lippen – »denen Gott weniger Kräfte verliehen hat, wollen indes weiter ruhig unsere Bahn schreiten, die, wie ich denke, gleichfalls zum Guten führt. Das müssen Sie uns schon gestatten, dieses von uns zu glauben. Und nun mit Gott, junger Freund! Treiben Sie's nicht zu arg!«

Goethe blitzte ihm hell in die beiden, von Runzeln umkritzelten Augen und begrub abermals das molluskenhafte Gelehrtenhändchen in seiner kräftigen Faust.

Dann schritt er aufrecht von dannen.


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