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Ein Abschiedsgespräch

In all dem Trubel verliebter Geschäftigkeit hatte Goethe seinen Freund Fritz Jacobi – das mußte er sich selbst zum Vorwurf machen – stark vernachlässigt.

Nun stand bereits dessen Abreise bevor, und da hielt die stets aufmerksame Johanna Fahlmer es denn doch für angebracht, die beiden Freunde zu sich »zu einem gemütlichen Kaffeeklätschchen« einzuladen.

Mit einer Miene von Abgehetztheit trat Goethe ins Zimmer und spendete beiden Freunden nur flüchtigen Gruß.

»Vielbeschäftigter Mann!« spottete die »Tante«, »Du bist ja ganz ab! Läßt Dich Deine Lili so wenig zu Atem kommen?«

»Was wißt Ihr davon?« maulte Goethe zurück. »Darf man nicht einmal einem hübschen Mädchen die Cour schneiden, ohne daß ganz Frankfurt sich darüber aufregt?«

»Du treibst es wohl ein bißchen bunt«, bemerkte die »Tante«. »Selbst Melchior Kraus, der Dich doch in das Haus ›Am Liebeneck‹ eingeführt hat, meinte neulich, Du habest Dich ganz dort einfangen lassen.«

»Der biedere Melchior!« brauste der Dichter auf. »Er soll lieber Sorge tragen, daß er den Köpfen, die er zeichnet, nicht schiefe Nasen aufsetzt, noch eine Windmühle für einen Kirchturm ansieht! Was gehen ihn anderer Leut' Sachen an? Ich sage ja auch nichts über seine buckelige Geliebte, die Dörte!«

»Na, die Dörte hat zwar eine etwas schiefe Schulter, aber noch lange keinen Buckel«, verteidigte Johanna ihre Freundin. Erhob sich dann, goß Kaffee ein, rückte die Kuchenschale heran.

»Du bist ja wieder mal so bissig, Goethe«, mischte Jacobi sich ein. »Und kannst doch sonst einen Sparren vertragen.«

»Auf einen Schelmen anderthalbe!« murrte Goethe vor sich hin. Schlürfte aber gleichwohl mit Behagen seinen Kaffee.

»Na, sei nicht gleich so wild«, beschwichtigte der Freund. »Denk' lieber daran, wie Du seinerzeit den Rektor Hasenkamp, als er Dich attackierte, durch überlegene Milde honorig abgeführt hast!«

»Was war das mit Rektor Hasenkamp?« fragte Johanna Fahlmer, neugierig gemacht. Und tat noch ein Stücklein Zucker in die Tasse.

»Du kennst die Geschichte nicht?« fragte Jacobi lachend. »Die ist im vorigen Sommer in Elberfeld passiert, als unser Freund Wolfgang mit Lavater dort erschien. Da saßen wir zusammen an einem langen Tisch und auch Rektor Hasenkamp, ein sehr gottesfürchtiger Mann, war mit dabei. Auf einmal wandte sich dieser an unsern Freund und fragte in feierlichem Ton: »Sind Sie nicht der Doktor Goethe?« – »Ja, der bin ich.« – »Und haben das berüchtigte Buch: ›Die Leiden des jungen Werther‹ geschrieben?« – »Ja, das hab' ich.« – »So fühle ich mich vor meinem Gewissen verantwortlich, Ihnen meinen Abscheu an dieser ruchlosen Schrift zu erkennen zu geben. Gott wolle Ihr verkehrtes Herz bessern! Denn wehe, wehe dem, der Ärgernis gibt!«

»Donnerwetter, das war stark!« warf Goethe dazwischen. »Und was hab' ich dem Affen geantwortet? Hoffentlich nicht gar zu sanftmütig!«

»Du sahst ihn Dir ganz ruhig an«, berichtete Jacobi. »Nicht einmal spöttisch und gar nicht herausfordernd. Und dann sagtest Du, beinahe demütig, doch steckte ein richtiger kleiner Schalk dahinter: ›Ich sehe lebhaft ein, daß Sie mich aus Ihrem Gesichtspunkte nicht anders beurteilen können. Und ich ehre die Redlichkeit Ihrer Denkweise. Beten Sie für mich!‹ Du kannst Dir denken, mit welcher Spannung wir Deinen Worten lauschten. Und alles war gut – bis auf das Letzte! Denn wenn ein Goethe so scheinheilig tut, so hat er einen Mephisto im Nacken.«

Goethe lachte aus vollem Halse und war plötzlich munter wie der Fisch im Wasser.

»Jedenfalls«, schrie er, »dem Manne habe ich gedient! Mag er's genommen haben wie er wolle!«

»Nun, er steckte es ganz bescheiden ein – und der Abend verlief ungetrübt«, erinnerte Jacobi. »Mir selbst hast Du damals unendlich gefallen. Ich fühlte Dich mir so nahe wie niemals vorher. Du kennst ja meinen Wahlspruch: ›Mit dem Kopf ein Heide, mit dem Herzen ein Christ!‹ Nach diesem schienst Du Dich mir damals verhalten zu haben.«

»Wofern Du Dich nicht täuschst!« erwiderte Goethe frei heraus. »Wo das Christentum bei mir stecken soll, das wüßte ich zur Zeit wirklich nicht zu sagen. Im Gegenteil, ich fühle mich von Kopf zu Fuß als ganzen Heiden. Und befinde mich äußerst wohl dabei.«

»Dir ist Dein Christentum nur nicht bewußt«, suchte der andere aufzuklären. »Schon in Deinem Spinozismus steckt viel Christentum. Und alles, was Du von Deiner Freundin Klettenberg – Gott hab' sie selig! – übernommen hast, quillt das nicht rein aus Christi Lehre?«

»Es liegt mir nicht, mich derart bei lebendigem Leibe sezieren zu lassen«, bekannte der Dichter. »Ihr müßt mich nehmen wie ich bin – wie Gott mich hat wachsen lassen. Das einzige, wonach ich trachte, ist: immer weiter zu wachsen! Also, immer mehr der zu werden, der ich bin!«

»Und durch das, was Du bist, der Menschheit zu dienen!«

»Vielleicht! Wenn's kommen soll, so kommt's! Auch ohne daß ich groß danach trachte! Wenn nur die Menschen durch mich lernen wollten, reiner und echter und unmittelbarer zu fühlen! Dann wäre ich schon ganz zufrieden.«

»Das ist sogar ein sehr hohes Ziel, das Du Dir damit steckst!«

»Ob hoch oder nicht: dazu sind wir Dichter doch da, die Menschen stärker fühlen zu lehren! Dies ist mein Glaube. Ist's denn nicht gar zu jämmerlich, wie ängstlich die meisten mit ihrem Fühlen sich verkriechen? Wie kleinlich sie jedes Quentchen von Gefühl, das sie etwa an eine Sache oder einen Menschen verschwenden könnten, krämerhaft berechnen! Statt sich mit voller ganzer Brust in eine Sache hineinzuwerfen! Nur so ergreift man das Leben ganz. Nur so fühlt man ganz, wer man selber ist!«

»Sieh, Goethe, so lieb' ich Dich!« warf Johanna Fahlmer dazwischen.

»Ich habe niemals mit meinem Gefühl geschachert«, fuhr dieser, wie vom Geiste getrieben, fort. »Wenn ich auch sonst gewiß kein Held sein mag: aber ob ich mit meinem Gefühl mich verbrannte oder nicht, danach habe ich niemals gefragt. Wie oft schon war mir, als müßte ich an meinem Gefühl direkt zugrunde gehen! Als müßte es mich in tausend Fetzen zerreißen! Trotzdem war ich nicht imstande, ihm entgegenzutreten. Ich mußte es sich austoben lassen. Dafür hat es mich freilich zu anderen Malen zum Himmel emporgetragen, hat mir wunderbarste Hellen – nicht Höllen! – obwohl auch diese zuweilen – durch Erleuchtung und Erkenntnis geschenkt. Mit dem bloßen Verstande – glaubt's mir, Freunde – habe ich noch nie etwas begriffen. Damit allein bin ich dumm und stumpf und wie vernagelt. Wenn aber die Farbe des Gefühls hinzukommt, dann werden alle Dinge mir lebendig, dann werde ich hell und weise und begreife alles!«

»Und kannst dann auch von Dir aus alles lebendig machen – darum bewundere ich Dich ja so!« rief Fritz Jacobi, mit leuchtenden Augen.

»Schön, wenn die anderen sagen, es sei ihnen lebendig geworden. Damit muß ich mir genug sein lassen«, ergänzte Goethe bescheiden. Eine Weile schwieg er und fuhr dann nachdenklich fort: »Das Lebendige ist ja stets zugleich das Geheimnisvolle. Niemand kann es erklären. Weil es ganz und unteilbar ist! Und weil es alles umfaßt! Hohes und Niedriges, Schönes und Häßliches, all unser Leiden und all unser Seligsein. Wir sprechen diese Gegensätze aus und meinen, etwas damit zu sagen. In Wahrheit aber sind sie alle ein und dasselbe, allenfalls durch Stufungen unterschieden. Wenn ich in einem Gedicht mein allertiefstes Qualgefühl ausdrücke, meint Ihr, indem ich es forme, ich trage nicht zugleich ein unaussprechliches Glücksgefühl in mir? Das rinnt alles ineinander, durchdringt einander zu einer wundersamen Einheit. Ich meine: im Reiche der Dichtung! Denn wer dieses dichterische Schöpfergefühl nicht hat, der ist freilich den Qualen, die in ihm wühlen, rettungslos ausgeliefert. Darum schilt man uns Dichter manchmal so. Meint, daß wir nicht ernsthaft fühlen könnten. Weil wir neben der Verdammung immer schon gleich die Erlösung in uns tragen. Weil wir bei aller hemmungslosen Kraft, mit der wir uns in ein Gefühl hineinwerfen, doch jederzeit auch wieder daraus aufzutauchen vermögen!«

»Wenn ich Dich so anhöre, Goethe«, versetzte Jacobi nach einer Pause, »so kommt mir eines zum Bewußtsein: was Du hier das Dichterische nennst, das nenne ich das Christliche!«

»Hör auf, hör auf!« lachte Goethe, »Dein Bekehrungseifer ist gar zu groß! Aber so jesuitisch-schlau Du es auch anfängst, es wird Dir dennoch nicht gelingen, aus mir einen Christen zu machen.«

»Ich mache nichts, was nicht ist. Jeder trägt in sich selbst seine eigene Gewißheit«, schloß Jacobi die Debatte.

Goethe erhob sich. »Ich sehe, Freund«, sagte er und reichte Jacobi die Hand, »wir verstehen uns! Oder wir verstehen uns auch nicht! Was kommt darauf an? Genug, wir lieben uns! Kann es Schöneres geben?! – Leb wohl! Mich ruft eine Verabredung fort – diesmal nicht die holde, die Du meinst – obwohl ich wünschen möchte, sie wär' es. Doch es gibt auch Hartes und Saures in meinem Leben – das ich zu erledigen habe! – Leb wohl!«

Er drückte ihm und Johanna Fahlmer die Hand und ging festen Schrittes hinaus.


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