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Es ist ein Ros' entsprungen!

Schneegestöber wirbelte auf Weimar hernieder. Dächer und Gartenzäune, Sträucher und Bäume erschimmerten in Weiß. Auf dem zugefrorenen Teich des halb außerhalb gelegenen »Baumgartens« aber herrschte fröhliches Getümmel. Dort übte sich die vornehme Weimarer Jugend in der neuen Kunst des Schlitt- oder Schrittschuhlaufens. Dieser Tausendsassa von Goethe hatte das mit hergebracht und in dem flotten Husarenrittmeister von Lichtenberg einen willkommenen Beihelfer gefunden. Gleich war dieser Sport, da Karl August mit Lebhaftigkeit sich seiner bemächtigte, zur bevorzugten Mode-Attraktion dieses Winters erklärt worden. Und wenn auch die thüringischen Junker, Komtessen und Baronessen noch ziemlich täppisch sich anstellten und durch öfteres Hinpurzeln kräftig ihr Lehrgeld zahlten, so war doch der Jubel allgemein. Goethe und der Rittmeister, als elegante Bogenschläger und Pirouettenläufer, stachelten den Ehrgeiz mächtig an und wurden neidvoll bewundert. Die nicht mehr ganz jungen Damen aber folgten mit Begeisterung dem Vorbilde Anna Amalias und ließen sich im Schlitten mitten durch das Gewirr der holpernden Pärlein und Sololäufer über die glitzernde Eisfläche dahinfahren. Man war beglückt, eine neue und so durchaus komfortable Unterhaltsamkeit gefunden zu haben. Und pries Klopstock, der diese »altgermanische Kultübung« aus dem skandinavischen Norden wieder heimgebracht hatte.

So riß die Lust des Eislaufens fast den gesamten höfischen Gesprächstoff an sich. Darüber war die Episode Lenz so gut wie vergessen. Wer mochte sich noch weiter bei diesem »schulmeisterlich-überspannten Narren« aufhalten? Mochte er dahinfahren! Goethe freilich quälte sich in seinem Innern unter manchem Unbehagen weiter damit herum. Nicht selten erschien vor seinem geistigen Auge die jämmerliche Gestalt des armselig Gestrandeten. Ob er sich in sein livländisches Vaterland wieder heimfand? Oder wo in aller Welt mochte er jetzt umherirren? Nicht die geringste Kunde seines Daseins verirrte sich in die kleine Residenz.

Diese hatte jetzt andere Interessen. Vor allem: wo würde man den heiligen Abend zubringen? Fast alle Welt dachte daran, auszufliegen. Der Herzog freilich mußte mit Frau Gemahlin eine steife Antrittsvisite am zeremoniösen Hof von Gotha abstatten und dachte dabei daran, mit welch übermütigen Lästerzungen die Stolberg sich über diesen »Musterhof« lustig gemacht hatten. Doch er konnte dieser Verpflichtung nicht länger ausweichen und hätte sich, zu seiner vergnüglichen Zerstreuung, gern Goethe mitgenommen – und auch, um ein wenig Staat – oder je nachdem: Sensation! – mit ihm zu machen. Goethe jedoch hatte sich bereits seit langem mit Freunden anderweitig verabredet und konnte davon nicht mehr loskommen. So sollte er wenigstens versprechen, das Herzogspaar in Gotha »abzuholen« – was er dann auch tat. Im Stillen hatte er einen Hintergedanken dabei, wie er überhaupt jetzt heimlich viel mit sich selbst beschäftigt war.

Am Tage vor Heiligabend wurde in aller Frühe zu einer »lustigen Junggesellenfahrt« aufgebrochen. Bertuch, Einsiedel, Kalb waren die Teilnehmer, Goethe das wichtigste »Dekorationsstück«. Es ging über Jena hinaus, in einen entlegenen Waldwinkel, wo Bertuch in der Försterei Waldeck ein Wildmeisterstöchterlein als blondes Bräutchen sitzen hatte. Dort konnte man wie nirgend anderswo das höfische Getriebe völlig von sich abschütteln. Unter dicht verschneiten Fichten saß man heimlich-verkrochen bei guten, einfachen Menschen »am Busen der Natur«. Man bekam das Beste aufgetischt, was Küche und Keller zu bieten hatten, und konnte getrost den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Man sang, man lachte, man küßte und setzte, bei einem guten Tropfen, dem losen Mundwerk keinerlei Schranken. Als man aber schließlich auch mächtig zu schmauchen anfing und qualmige Rauchwolken feste in die Luft blies, verzog sich Goethe. Gegen derlei hatte er nun mal eine unüberwindliche Abneigung.

Überhaupt, es hatte wieder mal die Uhr geschlagen, daß er mit sich allein sein mußte. Ewig diese innere Unruhe! So saß er auf seinem Stübchen und dachte nach. Am Fensterchen stand er und blickte durch die beschlagenen Scheiben in die verschleierte Mondnacht und auf die winterlichen Wälder hinaus, die endlos, ein großes Geheimnis, vor ihm sich hinstreckten. Dabei fiel ihm ein Zigeunerliedchen ein, das er früher einmal gedichtet und in seinen »Götz« hatte einrücken wollen, und das so merkwürdig der gegenwärtigen Stimmung entsprach. So hob es an:

Im Nebelgeriesel, im tiefen Schnee,
Im wilden Wald, in der Winternacht
Ich hör' der Wölfe Hungergeheul,
Ich hör der Eule Schrein.
Wille wauwauwau, wille wowowo,
Witte hu!

Das mußte er gleich noch einmal aufschreiben und seinem lieben jungen Herzog schicken. Der würde daran seinen Spaß haben. Er war ja ein so guter, prächtiger Junge, der Herzog, und nahm an allem Anteil, man mußte ihm wirklich gut sein. Schon nach zwölfstündiger Trennung konnte einen Sehnsucht nach ihm anwandeln. Jetzt saß er widerwilligen Herzens in dem langweiligen Gotha unter lauter Hofschranzen und wünschte sich sicher tausend Meilen weit hinweg. Rasch ihm ein paar Trostverslein geschickt!

Gehab Dich wohl bei den hundert Lichtern,
Die Dich umglänzen,
Und all den Gesichtern,
Die Dich umschwänzen
Und umkredenzen.
Findst doch nur wahre Freud und Ruh
Bei Seelen, grad und treu wie Du!

So! das hatte er sich von der Seele geschrieben! Und nun konnte er schlafen gehen.

Gut eingemummelt in seine Decken, legte er sich fest aufs Ohr und ließ sich vom Schlummergott neue Kräfte schenken. Gleich früh aus den Federn und sofort wieder in Gedanken beim herzoglichen Freunde, dem er einen guten Morgen wünscht. Freilich dann auch unlustig hinzufügt, daß fatales Tauwetter eingesetzt habe. Sei's auch – mit Dichters Hilfe kommt man drüber weg! Ihm fällt da eine Stelle aus Homer ein, sie mag auf die letztverbrachte Nacht gut anwendbar sein. Da kein Buch zur Hand ist, so setzt er sie auswendig hin, wie sie ihm gerade einfällt: »Und in ihre Felle gehüllt, lagen sie am glimmenden Herde, über ihnen wehte der nasse Sturm durch die unendliche Nacht – und lagen und schliefen den erquicklichen Schlaf, bis zum spät dämmernden Morgen.« Klingt beinahe ossianisch oder doch alt-nordisch – nur jetzt den Homer zur Stelle haben, um zu vergleichen! Vielleicht hat der Pfarrer ihn, er will hinschicken. Bis dahin liest er, da er nun mal in Urväterzeiten schwelgen muß, in der Bibel. Sehr schön, er notiert sich eine Stelle. Liest weiter, da fährt ihm plötzlich Lili durch den Kopf, es gibt ein paar Verse, aber dann gehts wieder eifrig über die Bibel her. Nicht aus Frömmigkeit, sondern weil's so herrlich ist. Der Herr Pfarrer mag ihn vergeblich heute, am Sonntag, in der Kirche erwarten. Was hat er da zu suchen? Lieber, weil er ja nun doch nicht ewig lesen kann, hinaus ins Freie!

Draußen trifft er dann Bertuch mit seiner blonden Liebsten. Die sinnigen Leute haben sich Rasen und Moosbänke und Hüttchen und Plätzchen angelegt und sind sehr glücklich, weil sie diese Idylle inmitten von Felspartien und Fichtenhalden so romantisch finden. Gute kalte Morgensonne bricht durch – hurra, das Tauwetter ist weg! Es gibt Eisflächen – wie herrlich, jetzt zu laufen! Aber da fehlen die Schlittschuhe! Goethe stampft ärgerlich mit den Füßen und schilt und flucht. Man eilt, man läuft, man tummelt sich, welche zu finden. Eine Viertelstunde lang steht der Dichter voll Ungeduld am Fenster und mault. Endlich ist das Ersehnte zur Stelle. Rasch unter die Füße geschnallt und – ah! wie himmlisch ist das Dahingleiten über die schimmernden Flächen! Drei, vier Stunden vermögen den Begeisterungsvollen nicht zu ermüden.

Dann zu Tisch, mit einem Bärenappetit, geschwatzt, gelacht – und jetzt kommt gar ein Glücksbote und bringt die endlich aufgetriebene Odyssee. Goethe drüber her – er ist jetzt grad in der Laune, dergleichen »zu fressen!« Auf seinem Stübchen hockt er und ist weit, weit entrückt. Aber glaubt ihr, daß man ihn lange ungestört läßt? Die Sippe muß ja immer wieder was Neues haben!

Jetzt kommen sie und verlangen von ihm – Einsiedel an der Spitze, mit seiner schmetternd hellen Stimme! – also sie verlangen, er soll Maskerade mitmachen! Daß er sie nicht zur Tür hinausschmeißt! Doch wie soll er sich gerade diesmal drücken können? Aus seiner eigenen »Claudine von Villa Bella« haben sie sich einen Schabernack zurechtgelegt, da muß er natürlich mit dabei sein!

Alle wechseln untereinander die Kleider und spielen Spitzbuben und Vagabunden. Jeder staffiert sich so toll wie nur möglich heraus. Und Goethe, einmal im Zuge, klebt sich einen langen Brigantenschnauzbart unter die Nase, zieht Kalbs blauen Rock mit den gelben Knöpfen an und hängt sich lauter Troddeln übers Kreuz. Jetzt können sie Basko und Rugentino spielen!

Das ganze Haus hallt wider von Lärm. Und die zuschauenden braven Biederleute staunen und amüsieren sich, daß es nur so seine Art hat. Nein, was die verrückten Stadtleute alles machen können, wenn sie einmal losgelassen sind! Und der Tollste, immer wieder, unter ihnen – Doktor Goethe!

Alles zerstoben und versunken! Einsam, auf seinem Gaul, reitet Goethe durch verschneite Gefilde und Wälder. Metallisch klingen die Hufschläge des Pferdes, ums gerötete Gesicht weht dem Reiter ein pfeifendes Windlein. Aber um die Brust ist ihm warm und erwartungsvoll klopft sein Herz. Es ist die Mittagsstunde des zweiten Feiertages, noch vor Dunkelwerden will er in Groß-Kochberg bei der Frau Oberstallmeister Charlotte von Stein sein. Angekündigt hat er sich nicht – viel hübscher ist's doch, unangemeldet plötzlich dazusein! Soll er etwa fürchten, unwillkommen zu erscheinen, dieweil der Gatte weitab in Holland weilt, um Pferde einzukaufen? Sein Herz sagt das Gegenteil.

Nach vierstündigem Ritt tritt Goethe endlich, noch dampfend von der eingesogenen frischen Luft, in den schummerig daliegenden weihnachtlichen Salon. Im Dunkel der Ecke dämmert raschelnd und knisternd ein herausgeputzter Christbaum. In Zimmermitte aber, auf den Teppich hingelagert, befinden sich Mutter und Kinder, emsig beschäftigt mit dem neugeschenkten Weihnachtsspielzeug.

Goethe blieb einen Augenblick in der geöffneten Tür stehen und betrachtete das liebliche Bild. Dann, ehe die Hausfrau sich erheben konnte, den Gast zu begrüßen, ließ er sich selbst rasch auf den Boden nieder, stürmisch begrüßt von den drei Knaben. Artig überreichte er der errötenden Frau von Stein einen wundervoll frischen Tannenzweig mit hängenden Zapfen, den er unterwegs für sie abgeschnitten hatte. Dann konnte er dem jugendlichen Drängen sich nicht länger entziehen, die wichtige Frage zu entscheiden, was mit der von Landsknechten belagerten pappenen Ritterburg zu geschehen habe. Goethe befahl, sofort mit Sturmleitern zum Angriff überzugehen, um die faulen Ritter zur Kapitulation zu zwingen – was mit Jubel aufgenommen wurde. In zwei Minuten war die ganze Rittergesellschaft mattgesetzt. Am liebsten hätten die erhitzten Jungen das schlimme Raubritternest hinterher gleich verbrannt. Aber so groß dieser Spaß auch gewesen wäre, die Pappburg mußte doch noch für weitere »Belagerungen« bereitgehalten werden.

Inzwischen hatte Frau Charlotte, in Erfüllung ihrer Gastgeberpflichten, Tee und Gebäck kommen lassen. Alle versammelten sich um den Tisch und langten eifrig zu. Doch war es Goethe nicht möglich, mit seiner Gastgeberin in ein geordnetes Gespräch zu kommen, da die Knaben ihn mit ungestümen Fragen fortlaufend bedrängten. Die Mutter wollte dem ein Ende machen, indem sie die Wildlinge hinausschickte. Doch trat der Gast selbst für sie ein und wies auf den prächtigen großen Weihnachtsbaum, den zwei adrette Dienerinnen gerade im Begriff waren, neu zu entflammen. Das konnte doch nur bedeuten, daß es noch zu einer kleinen Nachfeier kommen sollte, bei der die Kinder nicht fehlen durften.

Schön, so durften sie bleiben, wenn auch nur auf kurze Zeit. Sie sollten, zu Ehren des Gastes, noch einmal ihr schönes Weihnachtslied singen und dann verschwinden.

Wie die Chorknaben aufgestellt, ließen die drei »Steinchen« ihre hellen, schmetternden Stimmen erschallen. Alles war aufs exakteste einstudiert, und so erklang dann die alte fromme Weise mit kindlicher Inbrunst:

Es ist ein Reis entsprungen
Aus einer Wurzel zart,
Wie uns die Alten sungen,
Von Jesse kam die Art.
Und hat ein Bäumlein bracht
Mitten im kalten Winter
Wohl zu der halben Nacht.

Das Lied war für Goethe neu. In seiner Heimatstadt wurde es nicht gesungen. So fühlte er sich desto tiefer von dessen inniger Einfalt und sinnbildlichen Tiefe ergriffen. Die Knaben mußten es noch einmal singen. Er atmete die schwebenden Laute in sich ein wie den strömenden Geruch einer würzigen Waldblume. Sein Herz war dankerfüllt und er drückte Frau von Stein mit besonderer Innigkeit die Hand.

Die Knaben, von einer Dienerin geholt, verließen das Gemach, und die beiden Zurückgebliebenen betraten ein von wenigen Wandkerzen dämmerig beleuchtetes Seitenkabinett, wo sie sich auf schwellenden Polstern niederließen.

In Goethe wühlte eine eigentümlich starke und doch verhaltene Bewegung. Wie in einen Hafen der Ruhe eingegangen fühlte er sich hier, in Gegenwart dieser zarten und feinen, wundersam beherrschten Frau. Und dennoch zitterten der Lärm und die Aufgestörtheit der letzten Tage und Wochen bebend in ihm nach. Sein eigenes Schicksal umschwebte ihn wie ein seltsamer Traum. Darein mischten sich geheimnisvoll die leisen und süßen Nachklänge des eben gehörten Weihnachtsliedes. Zunächst war er unfähig, Worte zu finden. Er stützte die Arme auf die Schenkel und vergrub den Kopf in beide Hände.

Frau von Stein blickte teilnehmend auf ihn hin. Dann fing sie leise, schonend zu sprechen an.

Sie erinnerte an den vor ein paar Wochen stattgehabten Besuch mit dem jungen Herzogspaare und fand es hübsch, daß sie in die Sorgen für diese lieben beiden jungen Menschen sich miteinander teilten. So seien sie gleichsam heimliche Verbündete.

Goethe nickte. Und langsam sich sammelnd, ging er auf das Thema ein. Die beiden seien wirklich wie zwei Kinder, auf die man besonders achten müsse. Öfters, wie damals hier in Kochberg, waren sie ganz verliebt ineinander und voll unschuldiger Zärtlichkeit. Dann wieder, fast ohne Grund, über irgendeine Kleinigkeit sich in die Haare geratend. So sei kürzlich der Herzog in bekleckerten Wasserstiefeln und mit einem nassen Jagdhund, in Goethes persönlichem Beisein, in Luisens Wohnzimmer hineingeplatzt und habe sie durch diese Ungehörigkeit in große Aufregung versetzt. Sie habe, vor seinen Augen und Ohren, ihrem Gatten eine peinliche Szene gemacht und dieser habe laut und heftig darauf erwidert. Dann seien sie in Zorn auseinandergegangen und hätten zwei Tage lang nicht miteinander gesprochen.

»Sie haben doch Einfluß auf den Herzog«, meinte Frau von Stein. »Warum erziehen Sie ihn nicht besser?«

»Ein Mensch, der selbst der Erziehung bedarf ...« stammelte Goethe.

»Das ist etwas kräftig ausgedrückt. Obwohl ein Körnchen Wahrheit darin ist«, räumte Frau von Stein ein.

»Ich weiß es«, bestätigte Goethe. »Es fällt mir ungemein schwer, mich zu zügeln. Ja, ein dämonischer Trotz in mir lehnt sich direkt dawider auf und will einfach nicht, daß ich mich gesittet betrage. Die Borniertheit und Aufgeblasenheit vieler Menschen macht mich rasend. Dann muß ich ihnen gerade zum Tort etwas antun und ich freue mich, sie zu reizen und wider mich aufzubringen. Das kommt von dem starken Philisterhaß in mir. Oft denke ich: an seinen Philistern wird unser armes Vaterland noch einmal zugrunde gehen!«

»Aber daran denken Sie nicht, wie sehr Sie sich selbst damit schaden«, warf Frau von Stein ein. »Ist es denn nötig, sich soviel Feinde zu machen?«

»Ach was, viel Feind', viel Ehr'!« murrte Goethe.

»Gegen ehrliche und echte Feinde will ich nichts sagen«, gab Frau von Stein zu. »Ein echter Mann muß sie vielleicht haben. – Aber soll man sich auch seine Freunde verstimmen? Soll man durch unfeine Redensarten, durch Schimpfworte und Fuhrmannsflüche nur allzu berechtigten Anstoß erregen? – Lieber Goethe, ich meine es gut mit Ihnen und deshalb werden Sie mir hoffentlich verzeihen, daß ich so freiheraus mit Ihnen rede.«

»Von keinem Menschen der Welt«, brauste Goethe auf, »nehme ich derlei Vorhalte so willig, ja so dankbar an als gerade von Ihnen, liebste Frau! Empfinde ich Sie doch in Wahrheit als meinen guten Schutzgeist.«

»Sie machen mich erröten, teurer Freund«, lispelte sanft Frau Charlotte. »Aber wenn ich Ihnen meine Sorgen bekennen darf, so lassen Sie mich hinzufügen, wie sehr ich manchmal um Sie zittere. Sie wissen es gewiß selber nicht, wie oft Sie, sicher mehr aus Unachtsamkeit als aus böser Absicht, Menschen vor den Kopf stoßen. Die furchtbarsten Dinge sind Sie imstande, den Leuten direkt ins Gesicht zu sagen. Dann regt sich in mir eine tiefe Angst. Wenn unser sanfter Sittenlehrer Jesus, sage ich mir, gekreuzigt wurde, dann wird dieser bittere – zerhackt werden! Vielleicht ist es Unsinn, sich mit derlei Befürchtungen zu plagen. Aber ich bin nun mal ein töricht Weib und da kommen mir solche Gedanken.«

»Eine unendlich liebe und herrliche Frau sind Sie!« rief Goethe aus und warf sich vor ihr auf die Knie. »Und ich danke Ihnen für Ihre warme und unendlich süße Teilnahme.« Dann, mit halbem Lächeln: »Vor der Gefahr des Zerhacktwerdens fürchte ich mich freilich nicht. Aber ich sehe ein, daß ich mich mäßigen muß.« Aufs neue schatteten Gedankengänge über sein Gesicht. »Wovor ich mich aber wirklich fürchte«, fuhr er fort, »das ist: vor mir selber! Vor der unseligen Zerrissenheit, die immer wieder, immer noch in mir aufflackert. Vor dem wilden Irrlauf, in den ich manchmal gerate: vor zu großer Weichheit und vor zu großer Härte, so daß ich selten zu einem richtigen Ausgleich komme. – Aber zu Ihnen, liebste Freundin, habe ich ein wundersames und festes Vertrauen. Es ist, als ob Sie mir auf meinem Weg geschickt worden seien, um in mein heißes Blut Mäßigung zu tropfen. – Gerade jetzt fühle ich dies aufs stärkste, aufs gewisseste. Ich blicke in Ihr sanftes, gütig erstrahlendes Auge – und Beruhigung strömt wundergleich in mein bewegtes Herz. Ich fühle Ihre stille, weiche Hand in meinem Nacken, und alles ebbt zurück, was mich eben noch emporpeitschen wollte.« Innig schmiegte er sich an sie, ohne daß sie ihm wehrte. Wie mit heiliger Scheu floß es von seinen Lippen: »Woher kommt diese rätseltiefe Heilsmacht, die Sie auf mich ausüben? Ich kann sie mir nicht anders erklären, als durch eine Wunderfügung. Spotten Sie nicht, geliebte Frau. Aber ich denke ganz ernstlich: Durch Seelenwanderung!« Nach einer Pause fuhr Goethe mit leise gedämpfter Stimme, fast geheimnisvoll, fort: »Es muß einmal eine Zeit gegeben haben, vielleicht in fernen Jahrhunderten, wo Du mir aufs engste und innigste verbunden warst. Vielleicht als meine Schwester, vielleicht als meine Frau. Was wissen wir von uns? Gerade unser Allerwesentlichstes ist wie in undurchsichtigen Geisterduft verhüllt. Wir können kaum ertasten, was unser Allereigentlichstes ist. Und dennoch schwöre ich und trage es in mir als tiefe Gewißheit: Du und ich, wir gehören von Urbeginn zueinander, wir können durch keine menschliche Macht jemals auseinandergerissen werden!«

Er hatte wie entrückt und doch auch wieder wie hellsichtig gesprochen. Jetzt wühlte er den heißen Kopf in der Geliebten Schoß und umklammerte mit den Armen ihre Hüften. Tränen brachen ihm aus den Augen. Er war wie außer sich.

Auch der Frau waren zarte Tränentropfen in die Augen getreten. Sie beugte sich auf den Knieenden nieder und strich ihm sanft über die Haare.

»Ist das die Mäßigung, von der Sie sprachen, lieber Freund?« ließ sie flüsternd sich vernehmen. »Sie sind ja ganz erschüttert! War denn das Leben, das Sie innerlich geführt haben, so furchtbar schwer? Haben Sie soviel und unablässig mit sich kämpfen, unter sich leiden müssen?«

»Richte mir, mit Deinen Engelsarmen, die von ewigem Seelenzwiespalt zerstörte Brust wieder auf!« flehte die Stimme des Mannes. »Du allein kannst es – und ich fühle, Du wirst es! Nie hat ein Mensch mich so tief und zugleich so zart erfühlt und verstanden wie Du! Nicht meine Schwester, nicht meine nie erschaute ferne Geliebte. Du spürst in mir die feinsten Nerven auf, Du bedeutest mir alle fühlbar-warme menschliche Nähe! Du erkennst mit einem einzigen, alldurchdringenden Blick, was sonst in mir für alle Welt verborgen und verschlossen lag! Du, o Du!«

Da beugte Charlotte von Stein, wie in tiefer Erschrockenheit das Haupt zurück, zog die Hände schier ängstlich an sich und schloß die Augen. Fast unhörbar murmelten ihre Lippen:

»Sie erschrecken mich, verehrtester Freund! Ihr Temperament reißt Sie hin! – Und bitte, meiden Sie die allzu intime Anrede! Ich bin Ihnen von Herzen gut. Aber was nicht sein darf, darf nicht sein.«

»Ich begehre nichts anderes von Ihnen, als daß ich seelische Ruhe und inneren Ausgleich durch Sie gewinnen darf!« rief Goethe. Und fuhr dann unmittelbar mit bebender Stimme fort: »Nein, doch noch ein Weiteres: daß ich Sie lieben darf! – Das können und werden Sie mir nicht verwehren. Denn ich liebe Sie mit der ganzen reinen Glut meines Herzens!«

Und ohne daß sie sich wehren konnte – oder wollte? –, drückte er auf ihre Lippen einen innigen Kuß.

Zog ihr Mund sich zurück oder erwiderte er den sanften Druck? Jedenfalls lagen ihre Hände auf Goethes Schultern und strichen langsam, innig seine Arme hinab. Glitten dann wieder zu den Schultern hinauf und ruhten dort längere Frist.

Schweigsam atmeten sie, dicht beieinander. Fühlten die Ströme ihres Blutes einander begegnen. Minuten gingen darüber hin.

Als Goethe sich zurückbeugte und in Charlottens Antlitz spähte, gewahrte er darin eine tiefe, ausgefüllte Ruhe und Befriedigung. Und als sie die Augen aufschlug und ihn anblickte, strahlte daraus unwillkürlich die Wärme der Liebe.

Doch gleich darauf hatte sie sich wieder ganz in der Gewalt. Sie erhob sich und schritt in den anstoßenden Salon. Goethe folgte ihr.

Noch immer stand dort der Baum mit noch glimmenden Lichtern. Doch die meisten waren bereits heruntergebrannt oder am Verlöschen. Ein zarter Duft von angesengten Nadeln und Zweigen schwebte auf sie zu.

Da erwachte in Goethe, leise klingend, der innige Sang, den er aus Kindermund vor kaum einer Stunde vernommen hatte. Und auch die Worte klangen mit. Doch verschmitzt und innig änderte er bei sich ein einziges Wort, ja einen einzigen Buchstaben. Laut und mächtig sang es in ihm, tiefe Glücksströme durch seine Adern jagend:

Es ist ein Ros' entsprungen!

Ja, eine Rose! Und – mitten im tiefsten Winter!


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