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Erstes Buch
Spannungen

Ein Jahr geht zu Ende ...

Noch einmal lauschte Goethe in den schweigenden Raum des Vaterhauses zurück, trat dann hinaus und schloß hinter sich das Tor.

Auf der obersten Steinstufe machte er Halt und blickte eine Weile, leise spähend, in die frühe Winternacht hinaus.

Der Große Hirschgraben lag menschenleer.

Drüben strich eine schwarze Katze die Häuserreihen entlang und verschwand geheimnisvoll in einer Kellerluke. Im fächelnden Abendwind baumelte die schwerfällige Straßenlaterne, die an einem zur jenseitigen Häuserreihe gespannten Seile hing, hin und her und ließ huschende Schatten über die Nachbarwände schaukeln. Irgendwo in der Ferne knallte eine Fuhrmannspeitsche und knirschten Karrenräder.

Der junge Mensch, fest in seinen dunklen Mantel gewickelt, horchte auf das sich entfernende Geräusch und schritt dann langsam die ausgetretenen Steinstufen hinab. Was sollte er länger zu Hause hocken? Die Eltern hatten langweiligen Verwandtschaftsbesuch bekommen – dort war er entbehrlich. Auch auf seiner Studierstube mochte er nicht länger brüten. Zuviel Unruhe in seinem Blut!

Silvesternacht war herabgedämmert. Das buntdurchsauste Jahr 1774 ging zur Neige, ein neues stieg herauf: was würde es bringen? Tausend Möglichkeiten lagen in der Luft. Welcherlei Fäden mochte die Fee, die über seinem Geschicke wachte, wohl für ihn spinnen?

Ein enges, dunkles Gäßchen, das zu einer matt beleuchteten Verkehrsstraße führte, hatte den Wanderer aufgenommen. Wispernde Mädchenstimmen, die hinter dämmernden Fensterscheiben lockten, schwirrten werbend um ihn her. Goethe lächelte. Entweichend beschleunigte er seine Schritte und trat dann in helleres Licht hinaus. Schattenhafte Menschengestalten stoben vorüber. Zumeist irgendwie bekannte Gesichter ...

Doch nichts lag dem Dichter ferner, als unter Leute zu gehen. Einsame Gegenden wollte er aufsuchen. Aufs neue tauchte er in dunkelnde Gassen unter und strebte zur Maingegend hinab. Bei der alten St. Leonhardskirche trat er ins Freie, ein breiterer Luftstrom wehte vom Fluß her auf ihn zu. Das leise murmelnde Geplätscher der vorüberziehenden Wellen erfüllte ihn mit Glücks- und Sehnsuchtsgefühlen. Ach, auch so dahinziehen zu können, mitten im Strom, in die Weite, in die Welt hinaus! Fort aus der mit Mauern und Zickzackgräben umgebenen Stadt, die nachts ängstlich ihre Tore schloß, gleich als lauerten ringsum nur Feindschaft und Verderben! Oder als könnte gar einer ihrer braven Bürger auf die abenteuerliche Idee kommen, heimlich zu entweichen und im Mondenschein über freies Feld zu stolpern. O, diese Philisterenge, in der er saß! Diese mittelalterliche Beschränktheit, die auf Köpfen und Sinnen immer noch lastete, am drückendsten aber auf seiner nach freiestem Gedankenflug durstenden Seele!

Gemächlich schlenderte er zur alten Mainbrücke hin, die mit ihren malerischen Turm- und Mühlenbauten in verschwimmender Silhouette den Fluß überquerte. Wie oft war er als rüstiger Wanderer, ein keimendes Verslein auf den Lippen, dorthinüber geschritten, nach Sachsenhausen zu, um dann entweder in den breit sich hinstreckenden Forsten unterzutauchen oder über die gutgehaltene Chaussee, an der Gerbermühle vorüber, dem lieblichen Offenbach zuzupilgern! Wie befreit fühlte er sich immer, wenn er draußen war, in der großen Natur, von Winden umpfiffen, von Bäumen umrauscht, wenn er die Blicke schweifen ließ über weite Ebenen und um keimende Saatfelder! Dann sang gleichsam der Rhythmus der endlos dahinrollenden Mutter Erde in den Pulsschlägen seines Blutes und er fühlte mit dem Ganzen dieses Erdballs eine innerste Verbundenheit, die ihn aufs tiefste beglückte.

Rascher nahm er seine Schritte und stand bald mitten auf der Brücke, dort, wo die Stromschnellen ihren reißendsten Lauf nehmen. Ein Kruzifix war daselbst errichtet, gekrönt mit einem vergoldeten Hahn – das war die Stelle, wo zu mittelalterlichen Zeiten – aber war das nicht gestern oder vorgestern? – Verbrecher und »Hexen« in den dahinjagenden Fluß gestoßen wurden, mit Stricken gefesselt oder gar in den Sack genäht. Es schüttelte ihn bei dem Gedanken, und in seiner entzündeten Phantasie sah er, über den Brückenrand sich beugend, gleichsam Menschen mit den Wellen kämpfen und unter Hilferufen untergehen. War nicht immer noch so das Leben, wenn auch die äußeren Formen andere waren – wie man sich einzureden versuchte: menschlichere?! Und stets war Frau Justitia, auch heute noch, bemüht, die Sinkenden zu stoßen und die Strauchelnden schuldig zu sprechen. Und wem zu Nutz und Ehren? Den Satten und Vollgefressenen, den Scheinheiligen und Pharisäern! Eben jene Frau Justitia, der auch er, Dr. juris Wolfgang Goethe, ob auch widerwillig, sich verschrieben hatte. Und in deren Dienste man ihn immer tiefer noch hineinziehen wollte, auf daß er darin erstarren möchte zum braven Spießbürger und Philister!

Beide Ellenbogen auf die Mauerbrüstung gestemmt, beugte der junge Mensch sich weiter vornüber und starrte, wie gebannt, tief hinab in die rastlos dahineilenden, eilfertig einander überschäumenden Fluten. Diese ewige Bewegung, diese unaufhaltsame Unrast, war sie nicht das wahre Abbild seines Lebens? Sang sie nicht mit mächtigem Rhythmus in den hämmernden Pulsschlägen seines Blutes? Starrwerden, welch ein Wahnsinn! Hinein in die Welt, mit all seinen bebenden und gärenden Kräften – sie umschlingen, sie umarmen – und sollte er sie und sich selber zerpressen und zersprengen!

Aber verstanden ihn denn die Menschen, denen er zu offenbaren sich bestrebte? Gesprochen hatte er zu ihnen, sein Bestes, sein Eigenstes gesagt – da hatte die Welt wie wütend auf ihn eingeschrien! Geschrien und geschmält, als sei er ein Verächter und Verleumder, ein Heiligtumschänder gar! Und er hatte doch bloß gesungen und gesagt, was er innerlich erfühlt hatte, was ihm das Selbstverständlichste war, das zutiefst Erlebte!

Gewiß, die Freunde jauchzten öfters und staunten zu ihm empor – nannten ihn Genie und Götterliebling, und wie die schönen Namen alle lauteten! Was fing er damit an? Auch dieses mußte er geduldig hinnehmen, gerade wie das Geschimpfe der anderen! Er allein wußte, wer er war, und ließ sich nicht blenden: der Wolfgang Goethe aus Frankfurt, ein schlichter Bürgerssohn und ein fehlbares Menschenkind wie andere! Ob auch zu den höchsten Kronen des Geistes greifend!

Wem sollte er also vertrauen als seinem guten Stern? Mochte der über ihm leuchten oder in ihm! Vertrauen mußte er ihm, in Demut stolz, in Herzensdrang gehorsam ...

Immer noch raste der Strom unter ihm dahin, im Wellengetümmel, im Gischtgebrause – und ein fröstelnder Luftzug wehte herauf, der ihn nötigte, den wehenden Mantel straffer an sich zu ziehen. Goethe blickte empor. Da lag die Stadt vor ihm, die vertraute und doch gänzlich fremde, sie, die ihn hegte und die ihn von sich stieß! Mit hundert verzweigten Wurzeln fühlte er sich ihr verbunden – und doch hätte er am liebsten, so sehr es schmerzen mochte, sämtliche Wurzeln ausgerissen und wäre auf und davon gegangen. Seine Kindheit hielt ihn und ein Märchenschatz von tausend süßen Erinnerungen. Aber gepanzerter Stumpfsinn schreckte, der ihm befehlen, ihm die Lebenslust abschneiden wollte.

Durften Vaterstadt und Elternhaus ihn halten? Die Ferne lockte, das Draußen rief – und eines Tages, das fühlte er, würde die Unrast übermächtig werden – und dann: ade, Vaterstadt!

Langsam lenkte Goethe die Schritte zurück, nun doch wieder den bekannten Kirchen und Gassen zu.

Da bannte ihn plötzlich mehrstimmiges Tönen, das werbend durch die Luft glitt. Wohl von einem Dutzend Türmen hatte ein wirrmelodisches Glockenschlagen angehoben, bald heller, bald dumpfer. Der Jüngling blieb stehen und zählte die Schläge. Die zehnte Nachtstunde war gekommen. Nur zwei Stunden noch bis Mitternacht – dann würde ein neues Jahr anheben. Was würde es ihm bringen?

Am Ufer entlang schlendernd, strebte Goethe wieder dem Stadtinnern zu. Am Fahrtor bog er ab, stapfte langsam dem Römerberg zu. Wieviel »Geschichte« – oder was sich so nannte – hatte sich auf dem holprigen Pflaster dieses von hochgiebeligen Häusern umgebenen Hügelgeländes abgespielt! Vor allem grüßte ihn dort der »Römer«, das altehrwürdige Rathaus, die Stätte vieler Kaiserkrönungen, von denen er die letzte als Knabe, ewig unvergeßlich für ihn, miterlebt hatte.

Als er sich aber umwandte, fielen seine Blicke auf den Zierbrunnen, der in der Mitte des Platzes stand. Auf hohem verschnörkelten Sockel spreizte sich da eine elegante Frauensperson in dunkler Bronze. Um Goethes Lippen zuckte es ironisch. Ah, Madame, Sie sind mir ja nicht unbekannt! sprudelte es aus ihm hervor. Sind Sie nicht die Dame, der ich diene: Göttin Justitia? Wie geziert Sie Waage und Schwert mit bloßen Armen hochheben, gleich als seien diese Insignien ein niedliches Spielzeug, mit dem man jonglieren könnte! Habe ich Ihnen nicht vorhin schon mein Sprüchlein gebetet, hohe Herrin? Habe ich Ihnen nicht ins Ohr geflüstert, daß ich Sie für eine wetterwendische und zweideutige Kokette halte und Ihnen, so bald es nur geht, davonlaufen möchte? Bitte, vernehmen Sie es noch einmal und seien Sie mir weiter nicht böse – denn Sie stehen ja fest auf Ihrem verschnörkelten Sockel und fühlen sich gewiß als angebetete Regentin! Oder darf ich vielleicht sagen: als erhabenste Flausenmacherin?

Fast laut dachte Goethe diese Worte vor sich hin und spöttisch lüpfte er seinen Dreispitz und machte ein Kompliment vor dem toten Denkmal. Dann quoll ein Gelächter von seinen Lippen, daß es vernehmbar über den Platz hallte.

»Was machst Du denn da für Scherze, närrischer Poet?« erklang plötzlich eine Stimme. Und aus dem jenseitigen Häuserschatten löste sich die Gestalt eines Mannes, der belustigt auf Goethe zuschritt: »Du führst wohl eine selbsterdachte Theaterzeremonie auf?«

Etwas unwirsch blickte Goethe empor, doch sein Antlitz erhellte sich, als er den auf ihn Zuschreitenden erkannte. Das war ja kein anderer als sein malender Freund und Zeichenberater, Georg Melchior Kraus, dieser Weltfahrer, der nun wieder zu vorübergehendem Besuch in ihrer gemeinsamen Vaterstadt gelandet war.

»Bist Du es, Melchior? Was treibst Du Dich denn zu nachtschlafender Zeit in dieser menschenverlassenen Gegend herum? Und erschreckst mit dröhnender Baßstimme harmlose Wanderer?«

Lachend reichten sie einander die Hände.

»Ich muß wohl zuweilen auch so'n verrückter Zwickel sein wie Du, mein lieber Goethe! Sonst wären wir selband an dieser Stelle nicht begegnet.« Damit schob Kraus seinen Arm in den des Freundes und blickte ihm freudig in die Augen. »Aber der Zufall sei gesegnet! So können wir die angebrochene Silvesternacht vergnügt mitsammen begehen! Komm mit, begleite mich, wir wollen irgendwo ein Schöppchen trinken und uns dabei von unseren Heldentaten erzählen.«

»Wohin willst Du mich schleppen?« zögerte Goethe.

»Irgendwohin, wo's recht gemütlich ist! Was hältst Du vom Bobbeschänkelche? Dort sitzt jetzt kaum ein Mensch. Es ist klein, aber fein und vor allem gut frankfurterisch allewege. Also, komm!«

»Ins Bobbeschänkelche?! Wenn Du wüßtest, lieber Freund –!«

»Ach, das kannst Du mir nachher erzählen. Wenn wir mal erst behaglich dort sitzen!«

Munter zog Kraus den nur halb Widerstrebenden mit sich fort. Alsbald waren sie im Gewirr der dunklen Gäßchen verschwunden. Und die ehrwürdigen alten Giebelhäuser der löblichen freien Reichsstadt Frankfurt guckten wohlwollend auf das Paar schwatzender Freunde hernieder, das da nächtlich-traulich durch die Gassen schlenkerte.


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