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Stimmen des Wasserfalls

Allein war Goethe von Emmendingen fortgeritten. Allein wollte er jetzt ein paar Tage lang bleiben, bis er in Zürich mit den Stolbergs, die von Straßburg aus den Bodensee aufsuchen wollten, wieder zusammentreffen würde.

Seit jenem letzten Gespräch mit der Schwester, das bis ins Innerste seiner Gefühlswelt gegriffen hatte, fühlte er aufs stärkste den Drang, mit sich selbst neuerdings ins Reine zu kommen.

Nach Schaffhausen war er geritten, einem alten Sehnsuchtswunsche folgend. Das gewaltige Naturschauspiel des Rheinfalls wollte er erleben. Ganz bis an den schäumenden Wassersturz ließ er sich heranrudern. Ließ wohl eine Viertelstunde lang den ungeheueren Gischt auf sich zuspritzen, das rhythmisch rollende Wassergetöse sich umbrausen, die um Felsblöcke rasenden Fluten des aufgepeitschten Stromes an sich vorüberglucksen – und, während der Kahn unaufhörlich schaukelte und der Fährmann fluchte und drohte, saß Goethe seelenruhig da und fühlte sich den Naturmächten verwandter denn je.

Dann, ans andere Ufer gerudert, kletterte er die Felsgrate nicht ohne Waghalsigkeit empor, bis er dem Kaskadensturz so nahe als möglich war – und dort setzte er sich hin und überließ sich ganz seinem Schauen und Träumen.

Seltsam, je lauter es um ihn tobte, desto stiller ward es in seinem Innern. Das gleichmäßig donnernde Brausen des Wasserfalls verwandelte sich ihm in das rhythmische Tönen kosmischer Sphären, deren gewaltige und ungeheure Geräusche, von Ewigkeit zu Ewigkeit dahinrollend, dem Ohr schließlich verstummen, weil es sich daran gewöhnt hat. Aber den Geist wiegt es ein in seine Melodie, umhüllt ihn gleichsam mit geheimnisvollem Rauschen, öffnet ihm Abgründe und Hintergründe, in die er, spähend und grausend, hineinschaut.

Zu einem Ausmarsch in die Welt hinaus hatte er sich gerüstet, weil er die beklemmende Enge häuslich-heimatlicher Verhältnisse, den Druck ewiger Einmischungen seitens unberufener Schwätzer und, nicht zuletzt, die ewige Unrast und Ungewißheit seines eignen Herzens nicht länger zu ertragen vermochte. Wovon jene anderen nichts ahnten, die sich seine Freunde und Kameraden nannten. Sich auszuleben, auszutoben, oft sinnlos und in wilder Trunkenheit des Schwärmens, das war der Trieb, von dem sie sich unterjochen ließen. Er aber wollte vor allem seine Gefühlswelt erweitern und auf keinen Fall stehenbleiben! Vielmehr, emsig an sich arbeitend, höher und immer höher steigen! Das war die Triebkraft, die in ihn gelegt war. Das war der Dienst, den er an sich selbst und – er war stolz genug, dies anzunehmen – auch an der Menschheit übernommen hatte.

Konnten da die Freunde seine Weggenossen sein? Schwerlich! Die beiden Stolberg gewiß nicht! Eher schon ihre ferne, wunderbare Schwester – die mehr noch seine Geistesschwester war als die ihrige! Wie einzigartig die seelische Zwiesprache, die sie miteinander führten! Er verspürte Sehnsucht, sie wieder anzuknüpfen, und wollte gleich heute abend wieder mal sein Herz bei ihr ausschütten. Warum durfte er das gleiche nicht bei Lili tun? Nicht einmal der Gedanke dazu hätte ihm kommen können. Lili war lieb und gut, war ein wunderschönes Bild – aber eine Seelenfreundin war sie nicht. Berauschen konnte er sich an ihr – aber nicht innerlich bei ihr ausruhen!

O wie begriff er jetzt Cornelia, wenn sie vor ihr warnte – wenn sie befahl – »befahl«! –, sich von Lili freizumachen. Die gute, teuere Blutsschwester! So tief und ehrlich sorgte sie sich um ihn! Kein zweiter Mensch auf dieser ganzen Erde – auch Vater und Mutter nicht – verband in dem Grade die eigene Existenz mit der seinigen! Hatte es nicht wie Angst aus ihr geklungen – verzweiflungsvolle Seelenangst, ihn zu verlieren – ahnungsvolle Menschenangst, ihn niemals mehr wiederzusehen –, als sie in letzter Herzlichkeit sich an ihn klammerte?!

Was konnte er da Besseres tun, als den schwesterlichen »Befehl« erfüllen? Mit sehenden Augen auf Lili verzichten!

Wirklich?

O, daß er das vermocht hätte!

Nur fliehen konnte er. Vor Lili fliehen, soweit der Geist ihn trieb! Und sei's bis nach Rom! Und sei's bis ans Ende der Welt! Fliehen, fliehen – vor allem! – und schließlich am meisten vor sich selbst!

Vor sich selbst? Vor seiner Schwäche! Vor den verführerischen Stimmen, die in ihm flüsterten – und die ihn seiner Lebensaufgabe entfremden wollten!

Sich fliehen und – sich wiederfinden!

Das eine – um des anderen willen! Das war es! In Kraft und in Reinheit den Gott in sich herausstellen, der in ihm schlummerte – und der geweckt sein wollte!

Dumpf und leise hörte er es wieder um sich murmeln. Wich die Entrückung? Kehrten die Sinne zurück?

Vernehmlicher drang es wieder auf ihn ein, das Brausen des Wassers. Und hob sich und schwoll an zu klatschendem Getöse. Und Vorhänge hoben sich und flogen in Schleiern zum Himmelsgewölbe empor.

Die Sinnenwelt um ihn war wieder erwacht. Augenblendend, ohrumtosend.

Schwerfällig erhob sich Goethe und begann langsam das Felsgestein abwärts zu klimmen.

Dort unten lauerte Wirklichkeit, tausendfältig und traumfeindlich. Ins wache Leben mußte er wieder hinein. Unerbittlich!


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