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Redoute im Wittumspalais

Als Goethe das Fürstenhaus verließ, empfing ihn beginnende Dämmerung. Ein alter Mann mit einer Leiter kroch schläfrig umher, stieg an Laternenpfählen empor, putzte die darin befindlichen Öllampen und setzte sie umständlich in Brand. Goethe blieb eine Weile stehen und schaute ihm zu, in Gedanken verloren. Dann setzte er sich langsam, den Parkanlagen zu, in Bewegung.

Der Frieden der Natur, in den er hineinwandelte, füllte sein Inneres mit stillem Glück. Letzte Tagesscheine glommen über den Baumwipfeln. Leiser Abendwind hatte sich erhoben und fächelte ihm entgegen. Aus fast kahlem Gebüsch zirpten scheue Vogelstimmen. Kein Mensch weit und breit zu sehen.

Vor ihm hob sich, in Dämmer halb zerflossen, die massige Ruine des alten abgebrannten Schlosses; nur an einer Stelle überragt durch den nadelspitz aufragenden gezackten Turm. Vergangene Zeiten stolzer Feudalität schienen daraus zu flüstern. Die Gegenwart stellte bescheidenere Ansprüche. Das soeben stattgehabte Gespräch mit dem blutjungen Herzog klang in Goethe nach. Wie redlich dieser sich bemühte, mit der neuen geistigen Bewegung Schritt zu halten! Wirklich, ein wackerer und aufgeweckter Junge! Man mußte ihm gut sein!

Heute abend also Vorstellung bei der Herzogin-Mutter und gleich im Trubel höfischen Gedränges! Gut, er wollte diese Leute sich näher anschauen. Am meisten gespannt war er auf Anna Amalia selber, von der soviel die Rede war und die eine ungewöhnliche und tapfere Frau sein mußte.

Über das rumpelige Pflaster des proletarisch-schmalen Vorwerkgäßchens kam er wieder vor die stattliche Deutschritter-Komturei, wo sein freundlicher Gastgeber hauste. Er trat hinein und fand das Haus schon in lebhafter Vorbereitung auf den Abend. Baronesse Sophie hatte mit ihrer »großen« Abendrobe zu schaffen, an der eine Zofe fleißig umnähte, und wurde von der jüngeren Schwester Amalie schwer beneidet, die mit ihren vierzehn Jahren noch nicht mit auf die Hofredoute durfte. Der Kammerdiener des Präsidenten aber war soeben ausgescholten worden, weil er den vornehmen Staatsrock ohne Überzug hatte hängen lassen und nun ein winziger Schein von einem Mottenloch sich bei spürendem Hinschauen darin bemerkbar machte.

Goethe plauderte noch ein wenig mit seinem jungen Freund und stieg dann zu seiner höher gelegenen Stube hinauf, um sich gleichfalls für den Abend zu rüsten. Er fand den gestickten Paraderock, die gelbbrokatene Galaweste und die neugefertigten Eskarpins mit sorglicher Hand auf sein Bett hingebreitet, als warteten sie nur darauf, von ihm angelegt zu werden. Sicherlich eine Aufmerksamkeit der süßen beiden kleinen Baronessen! Goethe war für derlei Freundlichkeiten stets empfänglich. Kurz darauf klopfte es und man brachte ihm warmes Rasierwasser. Er hatte sich zwar am frühen Vormittag schon einmal rasiert. Aber wenns zu Hof ging, mußte er natürlich glatt und rosig wie ein Engelchen erscheinen.

Als er nach einem Stündchen sorgfältigster Zurechtmachung wieder in den unteren Räumen erschien, fand er eine wohlbesetzte Abendtafel gedeckt. Da bei Hof nur dünner Tee und kleine Kuchen präsentiert wurden, war es ratsam, vorher zu Hause eine solide Eßgrundlage zu legen. Daran waren die Weimaraner Herrschaften sämtlich gewöhnt. Und man fand auch gar nichts dabei, da man ja wußte, wie sehr der Hof auf Sparsamkeit bedacht sein mußte.

Vor der Mahlzeit feierliche gegenseitige Begrüßung und Bemusterung. Der Kammerpräsident lächelte zwar vornehm hierzu, aber Baronesse Sophie nahm diese Dinge desto feierlicher! Sie hatte sich schräg unter dem linken Mundwinkel ein Schönheitspflästerchen geklebt, auf das sie besonders stolz war. Es sah, fand Goethe, um eine Nuance zu absichtlich aus. Bei Lili hatte derlei einen feineren Chic, wirkte selbstverständlicher und doch aparter – hatte vor allem mehr den echten Hauch von großer Welt. So war auch die Sorge des Fräulein von Kalb, ob der Frankfurter Advokat wohl eine höfisch korrekte Figur machen möge, völlig gegenstandslos. Ihr eigener Bruder sah beinahe plump neben Goethes durchaus kavaliermäßiger Erscheinung aus. Alles saß wie angegossen, der schlanke, schmiegsame Wuchs stach aus den Kleidern wie gemeißelt hervor und jede Bewegung beim Hinundherschreiten erfreute durch zwanglose Anmut. Wirklich, man brauchte sich dieses Bürgerlichen nicht zu schämen.

Nach eingenommener Mahlzeit, bei der die munteren Scherzworte fröhlich flogen, gings dann ins Erdgeschoß hinab, wo vor dem Tor die altertümliche und etwas schwerfällige Karosse bereits dienstbeflissen harrte. Zu viert stieg man ein, Goethe nahm auf einem Ehrensitz neben dem Präsidenten Platz, und dann knarrte der geschmückte Kasten ehrpusselig von dannen.

 

Wenn Goethe sich funkelnde Parkettsäle in strahlender Lichthelle vorgestellt hatte, so war er durch den Eindruck, den das abendlich beleuchtete Wittumspalais auf ihn machte, ein wenig enttäuscht. Ein haushälterischer Sinn hatte sämtliche Ausgaben genau berechnet, das Zulängliche nirgends versäumt, alles war, wie sichs gehört, aber mehr war es auch nicht. Trotzdem herrschte unverkennbar ein Eindruck von gehaltener Vornehmheit. Gerade das Fehlen falschen Prunkes bewies eine selbstbewußte fürstliche Gesinnung.

Goethe wurde zunächst im Eingangssalon, dem Zimmer der herzoglichen Tafelrunde, festgehalten. Dort begrüßte ihn sein alter Bekannter, Major von Knebel, mit ungesuchter Herzlichkeit. Neben ihm stand dessen besonderer Schützling, der siebzehnjährige Prinz Konstantin, Karl Augusts jüngerer Bruder, und zeigte sich aufrichtig erfreut, »die Bekanntschaft eines so berühmten Dichters machen zu dürfen«. Manche andere drängten sich hinzu, ließen sich vorstellen und schnarrten Komplimente. Doch fiel eigentlich nur einer Goethe besonders auf, ein Freiherr Friedrich von Einsiedel, etwa gleichaltrig mit ihm, von vollendeter höfischer Erscheinung, aber mit ein paar dunkel brennenden Augen, aus denen etwas wie künstlerisches Feuer glomm. Er schien schon seit Wochen auf Goethe förmlich gewartet zu haben, war innigst mit dessen Dichterart vertraut und bei aller Wärme der Begrüßung doch ohne jede Aufdringlichkeit. Im Gespräch mit diesem ihm sympathischen Manne fühlte Goethe um so mehr das Unangenehme der vielen Augen, die sich von nah und fern auf ihn einbohrten und ihn voll Neugier abzutaxieren suchten.

Aus diesen zwiespältigen Empfindungen wurde er durch den Eintritt Karl Augusts erlöst. Dieser kam aus dem anstoßenden Zimmer, schob die neugierigen Gaffer ungeniert beiseite und umarmte ohne alle Ziererei den erwarteten Freund. »Ich muß Sie jetzt gleich zu meiner Frau Mutter führen«, sagte er dann lebhaft, »sie erwartet sie schon.« Damit faßte er Goethe unter den Arm und geleitete ihn fast gewaltsam in den »grünen Salon«, das eigentliche Wohngemach Anna Amalias.

Zwei an der Flügeltür postierte alte Herren, ein Graf Putbus und ein Freiherr von Witzleben, beides amtierende Hofmarschalle, schienen es für ihre Pflicht zu halten, den Neuling ihrer hohen Herrin zu präsentieren. Doch mußten sie, ob sie sich auch ärgerten, die »neumodische Zeremonielosigkeit« des jungen Herzogs über sich ergehen lassen, der es sich nicht nehmen ließ, seinen Gast persönlich und ohne alle Umschweife vorzustellen.

Goethe blickte in ein noch jugendlich-anmutiges und geistig-belebtes Gesicht, das unter einer hohen, schneeweißen Puderfrisur desto rosiger hervorleuchtete und dessen dunkle, glänzende Augen groß und offen auf ihm ruhten. Er fühlte sogleich etwas von unmittelbar sich regender Sympathie, als er die gnädig ausgestreckte feingeformte Hand erfaßte und einen Huldigungskuß darauf drückte. Schmeichelhafte Begrüßungsworte klangen ihm entgegen, mit einer solch aufrichtigen Wärme des Tons, daß sie mehr sein mußten als konventionelle Liebenswürdigkeit. Etwas Redliches, Bestimmtes lag in Anna Amalias ganzem Wesen, die eine braunschweigische Prinzessin war und eine Nichte des großen Preußenkönigs Friedrich.

Sie saß in ungezwungen aufrechter Haltung auf einem zierlich geschweiften blauseidenen Sofa inmitten zweier Hofdamen, die gleichfalls Goethes Blick zu fesseln wußten. Die eine, noch ziemlich junge, schien ein wenig verwachsen, was aber eher apart als entstellend bei ihr wirkte. Auch ihr mit der keck aufgestülpten Nase fast unschönes Gesicht verriet durch Lebhaftigkeit des Mienenspiels und einen Zug eigentümlicher Schelmerei soviel geistreiche Munterkeit, daß es dadurch anziehend wirkte. Das war Fräulein Thusnelda von Göchhausen, eigens zur Aufheiterung des weimarischen Hofes bestallt und auch Goethe gegenüber sofort von einer fast unverblümten, aber dabei nichts weniger als ungraziösen jungmädchenhaften Übermütigkeit.

Ganz anders wirkte die etwas ältere, nachdenklich in sich gekehrte Hofdame zur Rechten der Herzogin: Frau Charlotte von Stein, Gattin von Karl Augusts Oberstallmeister und Tochter des neben ihr postierten, in unnahbarer Würde prangenden Hofmarschalls a. D., Freiherrn von Schardt. Goethe erinnerte sich, vor einem halben Jahr in Straßburg von seinem Freunde Hofrat Zimmermann allerlei Hübsches über diese Dame gehört zu haben. Er hatte ja wohl damals unter deren Schattenriß ein paar nette Worte geschrieben – bei denen, wie ihm dunkel schwante, etwas von einem »Medium der Liebe« gesagt war, durch das die Dargestellte die Welt erblicken solle. Jetzt schaute er in ein durch Schwermut sanft verschleiertes Gesicht, das man wohl schön und anziehend nennen durfte, soweit die etwas höfisch-reglose Maske ein Urteil erlaubte. Jedenfalls verhielt diese Dame sich einigermaßen passiv und zurückhaltend, während um sie her das Gespräch immer lebhafter und ungezwungener aufflatterte und auch bei der Herzogin-Mutter in huldreich-lachfroher Stimmung sich ergoß.

Goethe gewann alsbald das Gefühl, daß in diesem Hofkreise der Mensch keineswegs zur Larve erstarrt war und daß sogar eine gewisse Freizügigkeit nicht ungern gesehen wurde. Dies gab auch ihm die Erlaubnis, weiter aus sich herauszugehen. In einem um das herzogliche Sofa sich bildenden Halbkreise hatte er ungezwungen Platz genommen – neben ihm saß der junge Herzog und verschlang jedes seiner Worte, immerfort zu Applaus bereit. So ließ er sich voll Laune in ein Wortgefecht mit der stets schlagfertigen Göchhausen ein und hatte die Freude, daß auch Anna Amalia von Zeit zu Zeit, mit wohlgeübtem Esprit, manch heitere Bemerkung dazwischen warf. Seltener ließ Frau von Stein sich vernehmen, vorzüglich wenn es galt, Meinungen zu überbrücken oder Gegensätze auszugleichen.

Goethe aber fühlte sich angeregt, womöglich sich selbst noch zu übertrumpfen und selbst gewagte Behauptungen auf die Spitze zu treiben. Mochten auch, zum demonstrativen Beifall der Jüngeren, manche alte Perücken sich sträuben und ewig-lächelnde Höflingsgesichter zu Eismienen erstarren! Im Gegenteil, das trieb ihn nur noch weiter vor. Bloß daß auch Frau von Stein, die in diesem Kreise eine besondere Autorität genoß, eine gewisse Ablehnung zu empfinden schien, wurmte ihn ein wenig. Doch wenn es ihm Spaß machte, sich gehen zu lassen und seine Pfeile abzuschießen, so tat er's eben! Er war doch nicht hergekommen, um den glatten Höfling und Speichellecker zu spielen! Mochte man doch spüren, wer er war: der Bringer von etwas Neuem, Befreiendem und nicht etwa ein Nachplapperer des Hergebrachten!

Da gesellte sich auch Wieland dem Kreise zu und wurde von allen Seiten mit besonderer Sympathie begrüßt. Nicht zuletzt auch von Goethe. Indes machte dieser eine ihn frappierende Beobachtung. Wieland hatte, ohne seiner geistigen Würde etwas zu vergeben, sich dem höfischen Tone mit Gewandtheit angepaßt! Welch saubere kleine Bonmots er fand, eingewickelt in verkappte Komplimente, die Damen und Kavaliere gefällig zu streicheln schienen. Und die fast stets einen gewissen, kaum spürbaren Hintersinn enthielten, der die geistige Distanz fühlbar werden ließ. Kleine Meisterstücke, diese leicht hingesetzten »Anmerkungen« und Anekdötchen! Goethe konnte nicht umhin, sie zu bestaunen – und fühlte sich doch gleichsam in eine ihm neue Welt versetzt. Er wußte nicht, ob er dieses begrüßen oder abweisen sollte.

Während derlei Skrupel in ihm einherhuschten, wurde er durch den Eintritt der jungen Herzogin Luise aufs angenehmste unterbrochen. Begleitet von ihren Hofdamen, dem schwäbischen Fräulein von Wöllwarth und der jungen Elsässerin Adelaide von Waldner, kam sie in ihrer bescheidenen und anmutenden Art herein, und der süddeutsche Hauch, der damit ins Zimmer wehte – vielleicht nur für Goethes feingespannte Nerven spürbar –, bereitete ihm ein wohltuendes Gefühl von Behaglichkeit. Ihrer Begegnung am Hof von Karlsruhe wurde gedacht, und Anna Amalia amüsierte sich höchlich über die kleine Szene, als der junge Dichter die zu Boden geglittene Rose galant aufgehoben und von der darmstädtischen Prinzessin sich hatte schenken lassen. Dies galt ihr als eine gute Vorbedeutung für beider neuerliches Zusammensein in Weimar. So nahm das Gespräch jetzt eine familiäre Wendung, und als aus dem unfernen Redoutensaal Klänge einer kleinen Musikkapelle, die zum Tanz aufspielte, herüberschallten, erhob sich die Gesellschaft, um an dem Vergnügen teilzunehmen.

Dort traf Goethe auch sein Fräulein Sophie von Kalb wieder an, die bereits von Kavalieren umschwärmt wurde, aber auch die Aufmerksamkeiten des Frankfurter Bürgersohnes gerne annahm. So verlief der weitere Abend in vergnüglicher Ungezwungenheit, und Goethe fühlte sich unter der thüringischen Junkergesellschaft, bei der das Fremdelement keineswegs fehlte und Jugend sich zu Jugend gesellte, bald angenehm angeheimelt.


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