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Das »Zauberfädchen«

Je enger das Band sich an Lili knüpfte, desto weniger ließ sich vermeiden, daß Goethe nun auch in die weiteren Familienkreise, die sich um die Schönemanns gruppierten, mit hineingezogen wurde.

Da waren die Gontard und die Bernard, die d'Orville und die Wegelin, die Manskopf und die Bethmann, lauter fast »fürstliche« Häuser von stattlichem Reichtum: die eigentliche Frankfurter Oberschicht, aus französischen Refugiés und Altheimischen eigentümlich gemischt, durchweg reformierten Bekenntnisses. Ihnen war Goethe schon als Lutheraner nicht völlig genehm. Noch mehr blickten sie auf ihn als den Sprößling einer eingewanderten thüringischen Schneider- und Gastwirtfamilie herab. Am fatalsten aber war ihnen sein »Scriblertum«, sowohl seine Rezensententätigkeit an den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« wie vor allem seine in ihren Augen kompromittierende Rolle als »allamodischer Poet«. Pfui über solch zucht- und sittenlose Werke wie Götz von Berlichingen und Werthers Leiden mit ihrer oft »pöbelhaften« Sprache! Ein sehr vergänglicher Tagesruhm mochte an ihnen kleben, wenn auch den Verfasser in den anrüchigen Kreisen »genialisch« tuender Neuerer beliebt machen. In wirklich vornehme Häuser, die auf ihre altererbte Reputation etwas hielten, kamen derlei »Schmutzfabrikate« nicht hinein! Ernstlich verdachte man es der oft allzusehr mit der Neuzeit liebäugelnden Madame Elisabeth Schönemann, daß sie hierzu ein Auge zudrückte. Aber schließlich, so lange der junge Mann sich artig benahm, mochte man ihn in Gottes Namen passieren lassen. Fand er doch unglaublicherweise selbst in den eigenen Reihen der Hochmögenden seine mehr oder minder lebhaften Verteidiger. Und erst die Liese, die hatte sich in sein buntes Wesen und geistreiches Getue förmlich verschossen! Was war da zu machen?

Zumal an den regelmäßigen Familien-Spielabenden, zu denen Goethe Zutritt erhalten hatte, kam er mit diesen aufs höchste von sich selbst durchdrungenen »Personnagen« zusammen. Sie waren ja äußerlich freundlich und höflich zu ihm, wenn auch mit eisiger Herablassung. Doch was sie stillschweigend von ihm beanspruchten, wofern er weiterhin gnädig aufgenommen sein wollte, war völlige Eingliederung in ihre Gesellschaftsformen, wo nicht gar Unterordnung unter die – selbstredend! – höhere Weisheit ihrer Lebensansichten.

Da saß nun dieser junge Gerichtsadvokat, Dr. juris Wolfgang Goethe, gleichsam als geduldetes Lämmlein im Kreise dieser reichen und geblähten Protzen – und kochte heimlich vor innerer Wut. »Ihr Dummköpfe Ihr«, so knirschte es in ihm, »ich schaue ja tausendmal mehr auf Euch herab wie Ihr auf mich! Und wenn Ihr mich, wegen meiner gut geschnittenen Anzüge und meines gesetzten Auftretens, für leidlich manierlich zu befinden geruht – nun, ich versichere Euch, Ihr seid mir durch die Bank, mit verschwindenden Ausnahmen, aufs äußerste zuwider! Nur um der Einen willen ertrage ich Euch! Doch, warum kann sich das holde, süße Geschöpf nicht von Euch losreißen? Warum verlangt sie gradezu von mir, daß ich mich zu Euch setze, beim Schein der Kerzen mit Euch Karten spiele und nur hie und da einmal, über Euere aufgedonnerten Perücken und feisten Nacken hinweg, aus himmlischen Blau-Augen ein paar verstohlene Blicke auffange, die mich selig machen?«

In solch innerem Zwist zerwühlte sich der junge Mensch. Und sah doch nicht ein, wie er es möglich machen sollte, den Zwiespalt zu beenden. Denn hielt sie ihn nicht an einem »Zauberfädchen« fest, seine angebetete Herrin? An einem goldenen, nie zerreißbaren, Herz mit Herz verknüpfenden, ach so schmerzenden, ach so beseligenden Zauberfädchen! Doch durfte er keinerlei freies Sichgehenlassen sich erlauben, kein lautes oder lockeres Wesen sich herausnehmen, nicht einmal, was er so gerne tat, fluchen, am wenigsten aber eine vertrauliche Annäherung wagen. Trotz ihrer erst sechzehn Jahre war sie seine vollendete kleine Beherrscherin geworden.

O, wie litt er da manchmal, unsäglich, in seinem Stolz und in seinem Herzen! Er schalt sich selbst oft mit brüsken und unwilligen Worten, daß er nicht den Mut, die Entschlossenheit aufbrachte, einfach aufzustehen und hinauszugehen. Wie oft schon hatte es in ihm gezuckt, gradewegs davonzulaufen! Aber stets hielt Lili ihn mit ihren Augen wieder fest. Es lag, bei aller Holdheit und Engelsgüte, ein unwidersprechlicher Befehl darin. Wie anders war doch jene köstliche Zweisamkeit, wenn er sie wieder mal am Vormittag in der »Babellage« bei ihren häuslichen Verrichtungen überraschte – wo sie ihm dann besonders lieb war, in ihrem einfachen Arbeitskleidchen und dem weißen Spitzenhäubchen über dem eilig zusammengesteckten natürlichen Blondhaar. Sehr im Gegensatz zu dem gepuderten Gesellschaftsdämchen, das jetzt so sittsam ihm gegenübersaß, züchtig in seine Spielkarten guckte, und ein gewandtes Französisch zu parlieren wußte.

»Warte nur«, dachte er, »gleich morgen in der Früh werden wir wieder Frankfurterisch miteinander reden!«

Und so geschah's auch. Als er in der Türöffnung der Babellage, wie aus dem Boden gewachsen, vor ihr auftauchte, war sie erst ein wenig erschrocken und mußte dann plötzlich hellauf lachen. Wie drollig er doch wirkte, in seiner kecken, ein wenig frechen Haltung – kaum anders, als sei er gekommen, irgendein Guthaben entschlossen einzutreiben!

Doch dann war er wieder ganz der gute und zutrauliche Junge, mit dem sich so warmherzig und zwanglos plaudern ließ.

Doktor Wolfgang saß rittlings auf einem simplen Holzstuhl, stützte die Ellbogen auf die Lehne und ließ seine dunklen Augen umhergehen. Sie verfolgten aufleuchtend jede Bewegung, die das anmutige liebe Mädchen bei ihrer flink geübten Haustätigkeit machte. Alles ging ihr so leicht von der Hand. Sie ordnete und kramte, huschte vom Schrank zur Kommode und legte hurtig auf einem blankgeputzten Holztisch sauber Päckchen zueinander, zum Mitnehmen »ins Haus«. Dann plötzlich war sie, auf einem etwas wackligen Schemelchen, dicht neben ihm, guckte ihm vergnüglich und doch ernsthaft ins Gesicht und meinte, ein Viertelstündchen habe sie noch Zeit, aber keinesfalls mehr. Dann käme die Frau Mama von ihren Bürobesprechungen in den unteren Geschäftsräumen wieder nach oben und dann heiße es gleich: »Tüchtig ins Geschirr!«

Goethe blickte sie eine Weile prüfend an. Dann räusperte er sich fast wichtigtuerisch und ließ sich bedächtig vernehmen.

»Gut, so möchte ich etwas mit Dir besprechen!«

»Bitte schön! – Aber wollen wir nicht lieber bei dem »Sie« bleiben, Herr Doktor?«

Goethe hörte über die kleine Anzapfung hinweg.

»Nämlich ich habe eine Bitte an Dich«, begann er gradezu. »Erspare es mir künftig, in Eueren so steifen und langweiligen Familienzirkeln zu paradieren! Ich tauge nicht in derlei Gesellschaft. Schon die gedunsenen, vor Selbstgerechtigkeit glänzenden Physiognomien können mich wild machen! Selbst Du, geliebtestes Mädchen, bist dann plötzlich eine andere.«

»Wenn ich dem Herrn Doktor nicht gefalle, braucht er mich ja nicht zu suchen kommen«, erwiderte Lili schnippisch.

»Versteh mich recht, gutes Kind! Nichts wünsche ich sehnlicher, als recht oft, am liebsten alle Tage, mit Dir beisammen zu sein. Aber, eben, allein mit Dir! Nicht in dieser geräuschvollen und aufdringlichen Gesellschaft, die mich zermürbt!«

»Sie vergessen, Herr Doktor, daß diese Ihnen so unsympathische Gesellschaft meine von Kind auf vertraute Familie und Verwandtschaft ist. Ich gehöre zu ihnen, solange ich denken kann.«

»Aber vielleicht kannst Du Dich doch einmal von ihnen wegdenken! Oder bist Du mit all Deinen Fasern derart an sie gebunden, daß Du nicht mehr loskannst? – Schließlich hast Du doch auch ein Recht auf Deine eigene Persönlichkeit!«

»Das schon! Ich gehe sogar gern meine eigenen Wege. Aber Familie bleibt Familie. Die ist wie von Gott eingesetzt.«

»Der liebe Gott, glaube mir, hat andere Sorgen, als Dich in das vielköpfige Ungeheuer einer tyrannischen Familie rettungslos zu verstricken. Der liebe Gott spricht am klarsten aus Deines Herzens Stimme zu Dir. Und wenn diese Stimme Dir von Liebe spricht –«

»Von Liebe? Wer sagt Ihnen das?«

»Du ließest es mich annehmen. Oder würdest Du es mir sonst gestatten, so vertraulich neben Dir in der Babellage zu sitzen und Dein liebes Händchen zu halten?«

Lili machte den Versuch, ihre Hand, die Goethe gefaßt hatte, wieder fortzuziehen. Aber dann ließ sie sie ihm doch. Purpurübergossen saß sie da und blickte stumm in ihren Schoß. Leise drückte Goethe sich etwas näher zu ihr hin.

»Sieh, mein liebes Kind«, sagte er zärtlich. »Warum sollen wir es uns nicht gestehen, daß wir einander liebhaben? Ist denn das etwas Schlimmes? Und fühlst Du Dich nicht glücklich, daß eine starke und heilige Macht uns zueinander zieht? Ich wenigstens kann kaum mehr leben, wenn ich Dich nicht täglich sehe. Und Du – fühlst Du nicht auch in Dir ein neues Erwachen?«

Statt aller Antwort ließ Lili ihr heißes, pochendes Köpfchen zart an Goethes Schulter sinken.

Er beugte sich zu ihr hin und drückte ihr zwei leise Küsse auf die Augenlider.

»Hast Du mich denn wirklich so sehr, sehr lieb – Du Schlimmer?!« flüsterte sie kaum hörbar. Und versuchte dabei, schelmisch zu lächeln – was ihr indes nicht ganz gelang.

»Weißt Du das denn noch nicht – Du Ahnungslose?« kam es wispernd zurück. »Muß ich es Dir noch sagen?«

Lili machte plötzlich ein sehr offizielles Gesicht. Dann sagte sie nicht ohne Scheu: »Weißt Du so sicher, daß ich Deiner wert bin? Ich bin vielleicht gar nicht die, für die Du mich hältst!«

Goethe lachte übermütig heraus.

»Du willst mir wohl Angst einjagen! Oder hast Du Dir vielleicht etwas Schreckliches vorzuwerfen?«

»Nun, vielleicht mehr, als Du denkst! – Ich muß ganz offen mit Dir sein. Du ... Du bist nicht ... bist nicht der erste, den ich liebhabe!« Nur zögernd, geständnishaft wand sich das aus ihr hervor. Und sie blickte ihn sehr ernst dabei an.

»Also geschwind! So beichte, was Du verbrochen hast!«

»Nein, Du mußt es nicht scherzhaft nehmen! Ich war wirklich schon einmal ganz ernsthaft verliebt!«

»Und wer war der Glückliche?«

»Muß ich das sagen? – Weiß er's doch selbst nicht einmal! – Und er ist heute schon verheiratet ... und Vater von entzückenden Zwillingen!«

»Das hört sich ja ganz gefährlich an!« lachte Goethe. »Wer kann's denn nur gewesen sein? Doch nicht etwa der ... – warte einmal! – der Ferdinand Runkel, dessen Schwester Fränze ich mal den Hof gemacht habe?«

»Wie kommst Du gerade auf den?« Lili errötete. Doch dann gestand sie unter Stammeln: »Ja, er war es! Zwei Jahre mag es her sein, da sah ich keinen anderen Mann mehr an als ihn! – Und ist er denn nicht wirklich ein schmucker, galanter Kavalier?«

»Das ist er! Und dazu als Reitstallbesitzerssohn, glänzend zu Pferde! Das hat Dir wohl in die Augen gestochen?«

Lili zierte sich ein wenig und blickte schamhaft zu Boden.

»Man kann sich ja als junges Ding für derlei so begeistern«, sagte sie, wie zur Entschuldigung. »Wenn er auf seinem Trakehner Rappen an unserm Haus vorüberritt, stand ich regelmäßig am Fenster und schaute ihm herzklopfend nach. Und als ich einmal, in größerer Gesellschaft, mit ihm ausreiten durfte, war's meine höchste Seligkeit!«

»Aber entdeckt hast Du Dich ihm niemals?«

»Was glaubst Du nur? Eher bin ich keck zu ihm gewesen! Damit er nur ja nichts merken sollte!«

Goethe wiegte lachend den Kopf.

»Und das ist Deine ganze Beichte? Du wirst mir doch nichts weismachen wollen! Und geküßt hast Du ihn nie? Gesteh's nur! Ich sehe, wie Du rot wirst.«

»Ich ihn küssen? – Wo denkst Du hin? – Das doch nur so mit Onkels oder Cousins. Die nehmen sich ja allerlei heraus! Und da hat's doch auch nichts zu bedeuten – in der Verwandtschaft!«

»Nein, die Verwandtschaft ist ein Freibrief«, spottete Goethe. »Aber es küßt sich auch da ganz reizend. Oder macht es mit Cousins vielleicht keinen Spaß?«

»Darauf antworte ich nicht. Ich lasse mich nicht foppen!« Sie zog die Stirn in zürnende Falten. Sah dabei aber so rosig und holdselig aus, daß Goethe seine Verliebtheit heiß im Nacken spürte. Rasch beugte er sich zu ihr hin.

»So ist dies denn Dein erster wirklicher Kuß!« sagte er kühn. Zog die in der Überrumpelung nur halb sich Sträubende mit starkem Ruck an sich und vergrub seine Lippen in die ihrigen.

Lili wollte schreien, wollte aufspringen. Lag aber dennoch fest in seinen Armen, bald ganz Hingebung. Und ohne daß sie's wußte oder wollte, erwiderte sie seinen Kuß mit voller Innigkeit. Lag dann noch längere Zeit in seinem Arm, die Augen geschlossen, wie in sanfter Betäubung.

Plötzlich fuhr sie auf.

»Ich höre Geräusch, oben in der Wohnung! Die Frau Mama ist heimgekommen! Rasch, ich muß jetzt fort! Sie darf nichts merken!«

Und wollte hinauslaufen.

Kehrte sich aber in der Tür noch einmal um und flog aufs neue in seine ausgestreckten Arme.

Doch nur auf einen kurzen Moment. Dann stob sie eilends hinaus.

Goethe aber stand in Frau Elisabeth Schönemanns Babellage, blickte wie verdutzt in die leere und doch mit tausend Sachen so vollgestopfte Stube und lauschte ein paar klappernden Schühchen nach, die sich pflichteifrigst entfernten.

Noch spürte er die tiefe Wonne der schwellend-weichen Lippen heiß auf den seinen.

Leise sang etwas in seinem Inneren.

Sang von einem Zauberfädchen, das sich nicht zerreißen läßt ...

Und das er auch nicht zerrissen haben wollte! Wie durch Gluthitze mit ihr zusammengeschmiedet fühlte er sich durch ihre Küsse!


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