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Cornelia

Ein wenig außerhalb des Städtchens, behütet von schattenspendendem Baumbestand kühler, alter Linden, lag das stattliche Haus des Emmendinger Oberamtmanns Doktor Johann Georg Schlosser.

Ein Kind hatte den beiden Reitern den Weg dorthin gewiesen. Sie hielten nun vor dem Anwesen, aber niemand war da zu ihrem Empfang. Endlich erschien eine etwas ungeschickte alte Magd und brachte einige stammelnde Entschuldigungen hervor: daß der Herr Oberamtmann dienstlich habe für einen Tag nach auswärts verreisen müssen; und daß Frau Oberamtmann an einem Nervenfieber droben zu Bett läge.

Die Freunde blickten einander betroffen an.

»Da kommen wir offenbar ungelegen«, murmelte Lenz.

»Wir werden sehen, wie die Dinge laufen«, erwiderte Goethe. »Meine Gegenwart hat schon manchmal Wunder gewirkt.«

Sie versorgten ihre Pferde im Stall und betraten dann das Haus. Die alte Magd kam ihnen wieder entgegen und richtete pflichtgemäß aus, daß Madame die Herren näherzutreten bitte. Sie werde trachten, den Besuch alsbald zu empfangen.

Am oberen Treppenflur harrte bereits eine Freundin des Hauses, Fräulein Luise König, begrüßte die Herren und erzählte, mit fühlbarer Bewegtheit, daß Frau Cornelia, seit ihrer Niederkunft vor sieben Monaten, kaum wieder ganz zu Kräften gekommen wäre. Dann sei vor wenigen Wochen das üble Nervenfieber hinzugetreten, das die Ärmste arg mitgenommen habe, nun aber sei es gottseidank im Entweichen begriffen. Ob zunächst einmal der Herr Bruder der lieben Patientin guten Tag sagen wolle?

In der Tür stehend, umfaßte Goethe mit raschem, vollem Blick das von dunkelgrünen Vorhängen umwallte Lager, die danebenstehende Wiege und die aus weißen Kissen halb sich emporrichtende junge Frau, deren Augen fast heißhungrig ihm entgegenleuchteten.

»Wolfgang!« schrie Cornelia – und es klang beinahe wie schrilles Weinen.

»Schwester!« flüsterte Goethe, trat behutsam näher und fand sich von ein Paar ausgemergelten Armen heftig umschlungen und auf Hals und Wangen mit hitzigen Küssen bedeckt.

»Endlich, endlich sehe ich Dich wieder! Hab' ich Dich wieder!« schluchzte Cornelia leidenschaftlich. »Neunzehn unendlich lange Monate hindurch hast Du mir gefehlt – habe ich mich nach Dir gebangt!«

»Schwester, Schwester, beruhige Dich! Du bist noch krank, Du mußt Dich schonen!« raunte der Bruder.

»Sag mir, daß Du mich noch lieb hast – dann bin ich gleich morgen wieder gesund!« klang die Antwort, geheimnisvoll-heftig hervorgestoßen.

»Ich hab' Dich so lieb wie nur je. Stets warst Du die Vertrauteste meines Herzens. Meinst Du, derlei könne man vergessen?«

»Und doch bist Du so seltsam kühl! So abgemessen und feierlich! Fast als sei ich Dir eine Fremde!«

»Ich möchte Dich bloß nicht aufregen, Cornelia! – Auch mußt Du mir Zeit lassen, mich zurechtzufinden.«

Mit mehr und mehr sich erwärmender Teilnahme saß nun Goethe am Bett seiner Schwester, betrachtete mit Rührung ihr schlafendes Kindlein und ließ sich von Cornelias Leben erzählen.

Sie hatte in ihrer Ehe mit dem um zwölf Jahre älteren Schlosser nicht das Glück gefunden, das sie sich ersehnt hatte. Goethe wußte dies längst, hatte es im voraus gewußt, da der Schwager, bei all seiner Rechtlichkeit, Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit doch schwer aus sich herausging und im Alltag als eine trockene und schwunglose Natur wirkte, von der kaum eine wärmende Atmosphäre ausging. Auch war der gute Schlosser, wenn er sich überarbeitet hatte, öfters mürrisch und verstand sich auch sonst wenig auf die Kunst, sich beliebt zu machen. In Karlsruhe hatte er sich bei seinen Vorgesetzten, berichtete Cornelia, gewiß großen Respekt erworben – aber »gemocht« hat ihn eigentlich niemand. Deshalb hatte man ihn eben nach Emmendingen, in eine äußerlich ehrenvolle und einträgliche Position, abgeschoben, wo er im wesentlichen kaltgestellt war. So vermochte ihr für das, was Cornelien im tiefen Innern fehlte, die Ehe keinen Ersatz zu bieten. Um so weniger, als die Schwester, wie sie offen einräumte, im Grunde eine unerotische Natur war.

Indem Cornelia so sprach, hatte ihr Bruder volle Muße, ihre Antlitzzüge, so bekannt sie ihm waren, mit der Neugier des erfahrenen Physiognomikers aufs neue zu studieren. Was ihm vor allem auffiel, war die frappante Ähnlichkeit mit dem Vater, den Cornelia doch so wenig liebte, ja wegen seiner äußerlichen Schroffheiten geradezu ablehnte. Die beiden Charaktere waren einander zu ähnlich, um Liebe füreinander zu empfinden. Hier lag eine fatale Dissonanz vor, die kaum zu überbrücken war. Verstand und eigensinniger Wille verliehen den Zügen eine gewisse Härte und Reizlosigkeit. Doch der seelische Ausdruck, zumal der großen dunklen Augen – die an die des Bruders erinnerten – ließ vieles vergessen. Hinzu kam etwas Geheimnisvolles: eine Art von verborgener seelischer Inbrunst, die überraschend hervorschlagen konnte, und wodurch das Antlitz zeitweilig einen bald wundersam-faszinierenden, bald auch fast wilden Ausdruck erhielt.

Die Rückstände der Krankheit hatten dies alles bis zur Überdeutlichkeit hervortreten lassen. Corneliens bleiches Gesicht war von einer Schärfe, die kaum noch weiblich wirkte. Bloß das gelöst herniederringelnde Haar, das sonst straff zurückgezogen und zu einem Ungetüm von hoher Frisur getürmt war, gab gegenwärtig dem Erscheinungsbilde etwas Milderes, Rührendes.

Aber wie Cornelia auch aussehen mochte, für den an ihrem Krankenlager weilenden Bruder bedeutete sie eine Heilige, der er in tiefer Verehrung ergeben war. Die miteinander verlebten Jugendzeiten, die sie aufs unbedingteste zusammengeführt hatten; dann später die zahlreichen Stunden gemeinsamen geistigen Strebens und allerengster menschlicher Vertraulichkeit waren unverwischbar. Sie bildeten für ihr beiderseitiges Dasein ein nie zerstörbares Fundament. Wolfgang und Cornelia, Bruder und Schwester, bildeten geradezu eine Art von mystischer Einheit, die durch nichts zu erschüttern war.

 

Mit jener Energie, die aus der Spannkraft ihrer Seele kam, raffte Cornelia am folgenden Tage sich auf und erschien, zum Erstaunen ihres Bruders, ihres Gatten und ihres Freundes, unvermutet zum Frühstück. Sie sah noch recht angegriffen und blaß aus – indes ihre Krankheit erklärte sie für überwunden. Und wirklich, sie hielt sich die zehn Tage, die Goethe bei ihr in Emmendingen blieb, mit bewundernswerter Tapferkeit – gleich als ob sie ahnte, daß dies das letzte Zusammensein wäre, das sie mit ihrem geliebten Bruder vereinigen sollte.

Es wurden Tage ungetrübtester Geselligkeit, die jetzt folgten. Die Witterung blieb günstig und man war viel draußen in der Natur. Die herrliche Landschaft reizte zu vielerlei Spaziergängen, die man bald mehr, bald weniger ausdehnte. Jeder war bemüht, sich von seiner angenehmsten Seite zu zeigen. Selbst Schlosser war von wohltuender Munterkeit und Redseligkeit. Das wundersame Wesen seines Schwagers, der jeden Menschen produktiv machte, ließ auch diese dumpfbelastete Beamtenseele wieder auftauen.

Am bewegtesten von allen zeigte sich Lenz. Er schwamm förmlich in Seligkeit. Schon zu Frühlingsbeginn hatte er in Emmendingen einen zweitägigen Besuch abgestattet und damals zu Cornelia eine versteckte, doch warme Zuneigung gefaßt. Diese durfte er jetzt offener zeigen und phantastisch ausschmücken: seiner schwärmerischen Poetennatur gestattete man Freiheiten, die man einem andern kaum gewährt haben würde. Goethe aber war gradezu froh, daß seine so unfreudig dahinlebende Schwester ein wenig Verehrung genoß, die ihr Sonne schenkte.

Goethe selbst betrachtete die Emmendinger Tage als eine wahre Ausruhezeit. Endlich wieder in das Gleichmaß seines Wesens zurückzukommen, tat ihm vor allem not. Er vermied alles Aufregende, auch in Gesprächen, und verbrachte seine Tage mit Essen, Trinken, Schlafen, Umherschlendern, Lesen und Unfugtreiben. Er hatte lange nicht mehr soviel und so herzlich gelacht wie in diesem familiären Kreise, und das wirkte ansteckend auf die übrigen. Trotzdem schlummerte in seinem Innern, manchmal leise bohrend, aber immer wieder beschwichtigt, das Gefühl, daß so mancherlei Wichtiges, ja, eben grade das, um dessentwillen er gekommen war, bisher unausgesprochen geblieben war. Corneliens öfteren Versuchen, intimere Dinge zur Sprache zu bringen, war er mit advokatischer Gewandtheit bisher ausgewichen. Vergessen wollte er, vergessen!

Da kam am vorletzten Tage seines Dortseins – Lenz hatte sich bereits wieder verzogen – ein Brief von Johanna Fahlmer mit Nachrichten aus Frankfurt. Goethe wog ihn in der Hand und hätte ihn am liebsten nicht gelesen. Doch ein halb strafender Blick seiner Schwester bewog ihn, das Schreiben aufzubrechen, und nun vertiefte er sich begierdevoll in dessen Inhalt. Ja, er konnte nicht umhin, ganze Strecken daraus Cornelien vorzulesen, vor allem, was sich auf Lili bezog. Diese hatte also, richtig, der Vorstellung von »Erwin und Elmire« beigewohnt und ihr feines Näschen hatte natürlich die Anspielungen gleich gewittert. Zwar wollte sie sich nichts anmerken lassen, aber den diplomatischen Fragekünsten der »Tante« war es doch gelungen, sie zum Reden zu bringen. Ein wenig war Lili verletzt darüber, intime Vorgänge, die zwischen ihr und Goethe sich abgespielt hatten, so ungeniert hier berührt zu sehen. Aber noch mehr hatte sie schließlich Reue gezeigt, daß sie ihren Liebsten durch Launen mitunter so gequält hatte. War dies nicht kindlich-reizvoll von ihr, wie sie dies ehrlich eingestand? Die »Tante« wenigstens war darüber entzückt und hatte Lili innig geküßt.

Mit froher Stimme hatte Goethe dies vorgelesen, öfter dazu geschmunzelt, oder sich mit zustimmenden Ausrufen unterbrochen. Cornelie aber hatte stumm und reglos zugehört. Auch jetzt schwieg sie. Erhob sich dann und fragte, beinahe offiziell, ob sie nicht miteinander einen Spaziergang machen wollten. Goethe stimmte ohne weiteres zu.

Sie wandelten den Ruinen des alten Markgrafenschlosses entgegen, durch eine lachende Landschaft, die sich zu beiden Seiten ausbreitete und dann in Wald verlief. Längere Zeit schritten sie schweigsam nebeneinander her.

Plötzlich sagte Cornelie, und es klang gepreßt und unfrei:

»Also, Du willst dieses Dämchen wirklich heiraten?«

»Habe ich Dir nicht schon gesagt«, erwiderte Goethe, »daß sich grade über diesen Punkt allerhand Zweifel bei mir regen? Am liebsten möchte ich Lili ja völlig vergessen! ... Aber kann man die Gefühle einer tiefen und starken Liebe so rasch von sich abtun?«

»Du hast schon oft geliebt, mein teurer Bruder. Und jedesmal hat Deine Leidenschaft Dich fast zersprengt. Du glaubtest, darin umzukommen! Wer weiß das besser als ich, die alles mit Dir durchgekämpft hat? Und bist doch immer drüber weggekommen! Mit einer Geschmeidigkeit und seelischen Schnellkraft, um die ich Dich beneiden könnte: denn ich habe nicht das mindeste davon mitbekommen. Also um Dich ist mir weiter nicht bange, wenn die Sache mit Lili jetzt begraben wird. Je eher und gründlicher, um so besser!«

»Du stellst Dir das anders vor, Schwester, als es diesmal ist. Ich bin mit Lili noch lange nicht fertig. Du würdest das begreifen, wenn Du sie kenntest. Dem Zauber ihres Wesens, ihrer Schönheit hat noch niemand widerstanden. Dein armer Bruder fühlt sich da an einem goldenen Zauberfädchen festgebunden. Er hat es zerreißen wollen. Bis jetzt ist's ihm nicht gelungen.«

»Es wird Dir gelingen! Du mußt nur ein wenig festen Willen dazu haben. Was soll aus dieser Sache denn werden? Ich bin über die näheren Umstände besser unterrichtet, als Du wohl denkst. Von allen Seiten kamen die Briefe und Schilderungen – und ein Entsetzen! Auch aus dem, was Du selbst mir schriebst, ging für mich deutlich hervor, daß diese ganze Heirat unmöglich ist. Deine Phantasie, Deine Einbildung spielt Dir da wieder mal einen Possen, den ärgsten, den sie Dir bisher zugemutet hat. Sieh Dir doch nur die beiden Familien an! So wenig wie die hat nie etwas zusammengepaßt! Denk doch nur an unsern Vater! Denk auch ein wenig – an mich!«

»Du und Lili, Ihr würdet Freundinnen werden!«

»Niemals! Das schwöre ich Dir: niemals! – Solch ein geziertes Gesellschaftspüppchen – und ich? Wie soll das jemals zusammengehen?«

»Ich sage Dir noch einmal: Du kennst Lili nicht!«

»Aber ich kenne Dich! Und das genügt mir. Ich kenne jede Regung Deines Herzens – kenne Deinen Geist, Deine Dichterkraft, Deine gewaltige Phantasie! Und ich sage Dir: es geht nicht! Du würdest, Du müßtest daran zerbrechen! Und wir alle mit Dir – unweigerlich!«

»Cornelia! Cornelia, Du machst mir das Herz schwer! Kämpfe ich doch mit mir den allerschwersten Kampf, unter mehr Schmerzen, als ich Dir schildern kann!«

»Du brauchst sie mir nicht zu schildern. Ich kenne jeden Deiner Schmerzen und fühle ihn mit Dir. Grade darum sage ich Dir: mach Dich frei! Nicht bloß äußerlich – vor allem auch innerlich! Am liebsten möchte ich es Dir befehlen!«

»Befehlen?«

»Mit der Stimme Gottes, die aus mir spricht! So ist es und nicht anders. Ich fühle mich gradezu für Dich erleuchtet. Ja – verantwortlich! Und weil ich Dich im Dunkel umhertappen sehe – so ratlos wie noch nie – deshalb fühle ich es als heilige Pflicht, Dir Klarheit und Entschlußkraft zu bringen. Und darum sage ich Dir in vollem Ernst: ja, ich befehle es!«

»Du erschütterst mich, Schwester! Grade weil ich aus Deinen Worten ... zwar nicht den Befehl – den gibt es nicht für mich – aber die Gewalt Deiner Liebe sprechen höre. – Doch wenn Du mich wirklich so kennst, wie Du sagst – und daran zu zweifeln habe ich keinen Grund – dann mußt Du auch wissen: derlei Dinge muß ich ganz mit mir allein abmachen! Ich muß sie erleben: zu Ende leben! Ob auch unter noch soviel Schmerzen! Der Gott, der aus meinem Innern spricht – der gleiche, der auch in Dir wohnt – gibt mir keinen Pardon! Er verlangt das Letzte von mir! Er ist hart und unerbittlich!«

»Warum ist Dein Gott so hart, wenn er Dich in Deinem Verhalten so weich macht? – Liebster Wolfgang, keinen Abend schlafe ich mehr ein, ohne daß ich zu unserem gemeinsamen Gott heiße Stoßgebete emporsende, daß er Dein schwankendes Herz endlich erleuchten möge! Darauf will ich nun harren. Etwas anderes bleibt mir ja leider nicht mehr übrig!«

Goethe faßte seine Schwester liebevoll unter den Arm und deutete in die Landschaft hinaus, die vom Gesang jubilierender Vögel hell durchschmettert war.

»Hier waltet unser Gott! Hier – in der Größe der Natur!« sprach er leise. »Er wird uns führen.«

Schwester und Bruder vereinten sich in schweigender Umarmung.


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