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Im Vorübergehen

Emporgestiegen in sein Arbeitszimmer, schritt der junge Doktor der Rechte eine Zeitlang auf und ab, sinnend, was er jetzt beginnen solle. Prozeßakten, die er, dem Vater zuliebe, anfangs in die Hand genommen hatte, schob er alsbald mißmutig beiseite. Zu derlei war er jetzt am allerwenigsten aufgelegt. Sollte er seine Poetereien wieder aufnehmen? Den Faust? Den Cäsar? Den Prometheus? Auch danach stand ihm seltsamerweise wenig der Sinn. Das Blut jagte ihm zu unruhig durch die Adern. Gedankenvoll stellte er sich vor seine Staffelei und fing an zu zeichnen. Ein paar Striche aufs Geratewohl. Was wurde daraus? Ein Frauenkopf? Warum nicht gar! Doch so ins allgemeine wollte er auch nicht zeichnen. Bestimmtere Züge mußte er sich schon vornehmen. Was für Züge mochten das wohl sein? Noch wollte er sich's nicht gestehen. Aber die Hand war ehrlicher als der Kopf und suchte emsig nach einem gewissen Profil. Einem Profil holder junger Mädchenzüge. Diese Nacht erst hatte er sich daran entzückt. Doch nun wollten diese süßen Züge den Zeichenversuchen sich nicht bequemen. Es kam stets etwas Fremdes hinein. Etwas Steifes, Trockenes, Alltägliches. Abscheulich, das! Verdrießlich riß er den Bogen herunter und warf ihn zerknittert in die Ecke. Nein, so ging das nicht!

Überhaupt die ganze Stube und Stubenluft waren ihm zuwider! »Verfluchtes dumpfes Mauerloch!« murmelte er in sich hinein. Dann griff er hastig nach Hut und Mantel und stürmte hinaus.

Da war er also wieder auf der Straße. Mochten die Füße gehen, wohin sie wollten! Er ließ sich treiben. Die Januarmorgenluft wehte ihm erfrischend um die Schläfen. Er trug den Hut in der Hand und schritt fürbaß.

Um die Ecke herum. Nochmals um die Ecke. Da stand er vor ihrem Haus.

Er wollte vorübereilen. Er konnte nicht. Er mußte stehenbleiben und emporstarren. Drei Stockwerke und noch ein Dachgiebelaufsatz! So stolz residierte die Bankfirma Schönemann & Wegelin, in dessen Vorstand Lilis Mutter, die geborene d'Orville, als Mitinhaberin ein gewichtiges Wort mitzureden hatte.

Das Haustor stand offen. Er guckte hinein. Dann stand er auf dem Vorplatz mit der schmucken gewundenen Staatstreppe im Hintergrunde. Doch hinaufzugehen getraute er sich nicht. So früh sich wieder blicken zu lassen, wäre unschicklich gewesen. Indes da lockte hinten ein Pförtchen, das zum Hofe führte. Neugierig öffnete er es und trat hinaus.

Verwundert blieb er stehen. Im Halbstock hörte er Frauenstimmen. Eine tiefere, mächtigere, die zu schelten schien – er glaubte Frau Schönemann zu erkennen – und eine hellere, kindliche: die konnte nur seiner Lili gehören. Die Mutter schien der Tochter Vorhaltungen zu machen, daß sie das Leben zu zimperlich anfasse und sich zuviel an Firlefanzereien verlöre. Sie in ihrer Jugend sei resoluter gewesen und habe es deshalb auch zu etwas gebracht. Eine tüchtige Geschäftsfrau sei sie geworden, die selbst Männer im Zuge zu halten wisse. Das solle ihr das Töchterlein mal nachmachen. Aber das habe lauter Tändeleien im Kopfe. Schwach verteidigte sich dagegen das liebe Stimmchen. Dann kam noch einmal die hochfahrende Stimme der Mutter und dann schlug eine Tür zu.

Stille. Nur leise durchbebt durch ein verhaltenes Schluchzen oder Weinen.

Der junge Lauscher fühlte sein Herz schlagen. Er erspähte ein Seitentürlein und eine Hintertreppe und, als ob das nicht anders sein könnte, stieg er hinauf. Plötzlich stand er vor einem offenen Raum, der angefüllt war mit aufgestapelten Küchen- und Hausvorräten, und mitten darin, in einem bescheidenen Hauskleidchen, stand das liebe Mädchen, sie, seine Lili! Soeben trocknete sie sich mit einem Tüchlein das letzte Tränchen aus dem Auge. Ihr ganzes weiches Gesichtchen brannte in kindhaft entflammtem Rot.

Wortlos blieb er stehen und genoß verräterisch das liebliche Bild.

Da plötzlich bemerkte sie ihn, versteckte geschwind das Tüchlein und starrte ihn an, mit offenstehendem Munde.

»Herr Doktor?« stammelte sie. »Herr Doktor Goethe? Wo kommen Sie denn auf einmal her?«

»Verzeihen Sie gütigst, Mademoiselle«, stammelte der Ertappte, »ich bin eigentlich wider Willen hier eingedrungen. Ich war auf den Hof geraten«, munter sprach er weiter, »hörte Stimmen oder glaubte welche zu hören – mir war, als klinge Ihre eigene helle Stimme mir entgegen – das zog mich die Treppenstufen hinauf – ja – und jetzt bin ich halt da!«

Mit einer höflichen Verbeugung trat er näher.

»Wie sonderbar!« wunderte sich das Stimmchen. »Und da sind Sie jetzt hierher gekommen, in die Babellage?«

»Ja, man nennt es hierorts wohl die Babellage. Anderswo heißt es die Vorratskammer.«

»Wir sagen nie anders als Babellage. Eigentlich sollte ja hier die Mamsell walten. Aber die hat die Mama gehen lassen. Weil ich doch nun schon erwachsen bin, meint die Mama, daß sie mir die Babellage anvertrauen könnte. Sie tut's, sagt sie, aus Pädagogik. Ich soll lernen, wie man einen Haushalt führt.«

»Das ist sehr vernünftig von der Mama. Grade so würde meine Mutter auch denken – wenn ich nämlich ein Mädel wäre!«

»Der Herr Doktor als Hüter einer Babellage! Ist das aber drollig zu denken!« Ein helles, naives Lachen entquoll den geöffneten Lippen des hübschen Mädchens. Und da hatten die anfangs ein wenig umflorten Blauaugen auch schon ihren gewohnten Glanz zurückgewonnen.

»Sie sind mir also nicht böse, daß ich hier eingedrungen bin?« bettelte der junge Mann und machte ein höchst kokettes Armsündergesicht.

»Eigentlich sollte ich«, kam es wie überlegsam zurück. »Aber weil Sie nun schon einmal da sind, so seien Sie hübsch manierlich und leise, damit Sie sich hier nicht erwischen lassen.«

»Ich kann Ihnen ja ein wenig beim Sortieren der Vorräte helfen«, meinte lammfromm der Eindringling.

»Auch das noch! Sie sind wirklich zu allem zu gebrauchen!« Schelmisch blitzten ihn die klaren Blauaugen an.

Er versuchte nun wirklich, sich nützlich zu machen. Räumte das eine fort, trug das andere herbei, rückte Gläser zusammen, häufte Säcklein aufeinander und war in allem so hurtig wie ein angelerntes Hausmädchen. Demoiselle Schönemann hatte ihre helle Freude daran.

Das gab ein Gekicher und geflüstertes Kommandieren, ein staunendes Loben und neckisches Schelten, und beim eiligen Hinundherlaufen konnte es nicht fehlen, daß die Körper zuweilen aneinanderstießen, die Füße sich begegneten, die Ellbogen kurze Freundschaft schlossen. Dem jungen Dichtersmann war dies alles ein Hochgenuß. Er fühlte sich in einer Rolle, die er mit Eifer durchführte. Und gleichzeitig spürte er sein Blut wärmer und wärmer werden. Und seine genießerischen Augen umschweiften das liebliche Mädchen, das sich gleich ihm emsig bewegte – bis es endlich wie erschöpft stille stand und die linke Hand auf das pochende Herz preßte.

Blutübergossen stand die Liebliche vor ihm und lachte ihn unschuldig an. Goldig flimmerten ihre Haare, in denen jetzt kein kleinstes Körnchen Puder lag.

Goethes Augen flammten auf und sein Herz pochte stürmisch wider die Brustwand. Sie an sich reißen, sie über und über mit glühenden Küssen bedecken! So sang es wogend in seinem Innern.

Mit Mühe legte er sich Zaum an. Wollte er sich etwa jede Möglichkeit, Lili für sich einzunehmen, durch törichtes Ungestüm verderben? War sie nicht gestern Nacht als vollendete Dame ihm gegenübergetreten, entzückend in der, trotz ihrer Jugend, so sicheren Art, mit der sie die Formen der guten Gesellschaft beherrschte. Und, ohne sich etwas zu vergeben, doch zugleich, was in ihrem Herzen vorging, anmutig erraten ließ?!

Sein Blut ebbte zurück. Ließ zarteren Empfindungen Raum, die mit ebensolcher Seligkeit, doch inniger, sehnender, verehrender, in ihm emporwuchsen. Noch einmal umflossen seine Blicke die süße Wohlgestalt, die da in all ihrer Schönheit und Unschuld vor ihm stand, und nicht zu ahnen schien, welch innerer Kampf ihn soeben mit Heftigkeit durchschüttelt hatte.

»Demoiselle!« stammelte er. »Demoiselle Lili, wie schön Sie sind!«

Klang das nun nicht doch wie ein Geständnis? Er hätte sich auf die Zunge beißen mögen, daß er so Unbeholfenes dahinplapperte! Jeder Ladenjüngling hätte das gleiche sagen können!

Aber Lili schien derlei Weihrauch gewöhnt zu sein. Sie wunderte sich kaum – entschloß sich aber doch zu einer kleinen Abwehr.

Verschämt an sich herniederblickend, lispelte sie zaghaft:

»Was soll denn jetzt an mir so Schönes sein? Mein schlechtestes, gewöhnlichstes Arbeitskleidchen hab' ich an – gar nicht wert, vor so kritischen Augen sich blicken zu lassen!« Dann, rasch ablenkend, fuhr sie fort: »Doch wie nennen Sie mich eigentlich? Lili? So heiße ich doch gar nicht!«

»Bei mir heißen Sie so«, versetzte er eilfertig. »Ich weiß, man nennt Sie sonst anders, mit einem trockenen Alltagsnamen, den jede tragen kann. Gönnen Sie mir die Freude, Sie ›Lili‹ zu heißen – oder Belinde!«

»Auch das noch gar!« lachte Liese Schönemann. »Sind Sie aber ein drolliger Mensch, Herr Doktor Goethe!«

»Mögen Sie mich drollig, mögen Sie mich verrückt, mögen Sie mich abscheulich finden – wofern ich Ihnen nur nicht gleichgültig bin!«

»Warum soll ich denn grade an Ihnen ein besonderes Interesse nehmen, Herr Doktor?« zierte sich schelmisch lächelnd Demoiselle Schönemann. »Ich kenne Sie doch erst seit gestern abend!«

»Und ich kenne Sie seit allen Ewigkeiten!« fuhr es aus Goethe heraus. »Als ich Sie gestern abend zum ersten Male auf diesem Erdenstern erblickte, klang es in mir auf wie mächtiges Erinnern – und ich fühlte, daß wir uns vor Äonen schon einmal begegnet sein mußten, als selig beglückte, innig verbundene Menschenkinder!«

»Wie sprechen Sie zu mir?« stammelte Lili, leise zürnend und doch innerlich geschmeichelt. »Welch sonderbare Sprache führen Sie? Ich verstehe Sie nicht – oder darf Sie nicht verstehen!«

»Was heißt hier dürfen? Ist nicht der Schlag unserer Herzen hier das einzig Wichtige?« rief Goethe in Selbstvergessenheit. Dann rasch sich zügelnd, fuhr er fort: »Mißverstehen Sie mich nicht, liebes Fräulein Lili, ich will Sie nicht überrumpeln! Aber ich darf wohl glauben, daß gestern abend schon etwas anderes zwischen uns heimlich waltete, als alltägliches Sichkennenlernen. Mitten in dem Gewoge fremder, gleichgültiger Menschen, tat sich da nicht wie durch ein Wunder eine Gemeinsamkeit auf? Ein geheimnisvolles Einanderfinden, Einanderverstehen – selbst ohne Worte und über allen Worten – nur durch die Sprache der Augen und der Herzen?«

»Sie dichten sehr kühn, Herr Doktor Goethe«, spöttelte Lili. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Sie träumten vielleicht ein Gedicht. Aber wir leben hier doch in der Wirklichkeit!«

»Bei mir«, rief Goethe emphatisch, »ist noch stets die Wirklichkeit zum Gedicht geworden! Warum nicht also auch hier, wo alle guten Genien gnädig nicken?«

»Psst, psst! Sie sind so laut!« machte Lili ein wenig erschrocken. »Und seien Sie nicht böse, wenn ich Sie bitte, sich jetzt zu entfernen! Ich möchte nicht, daß jemand Sie hier überraschte! –« Dann, wie sich besinnend, fügte sie hinzu: »Und über das, was Sie mir zu sagen haben ... können wir später noch ... miteinander sprechen ..., wenn wir uns erst ein wenig besser kennengelernt haben!«

Ein unwillkürlich warmer Blick aus hellen, freundlichen Augen traf Goethe. Doch gleich darauf verwandelte sich ihr Antlitz in ein verängstigtes Flehen. Er verstand diese Sprache und hielt es für richtig, ihr zu gehorchen.

»Gut also, ich ziehe mich zurück«, sagte er gemessen. »Und vergeben Sie es mir, daß ich so unvermutet und formlos Sie hier überfallen habe. Indes, ich vermag nicht, es ungeschehen zu wünschen.«

Er beugte sich über Lilis Hand und drückte darauf einen feurigen Kuß.

Etwas hastig und unter jähem Erröten zog sie die Hand zurück. Wie keck er da wieder war! Ihre Augen wollten ihn strafen. Doch der feuchte Glanz, der darin aufschimmerte, sprach verräterisch von anderem.

»Leben Sie wohl«, hauchte sie leise. Und wandte sich in starker Verwirrung ab.

»Auf Wiedersehen – Lili! – sehr bald!« trumpfte Goethe fröhlich auf. Und schwang sich eilig die Stiege hinab.


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