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Ein neuer Freund

Kaum hatte Goethe den Speisesaal betreten, als aus einer Plauderecke, wo er neben dem Präsidenten Platz genommen hatte, ein etwa vierzigjähriger Mann sich erhob und leuchtenden Auges dem Eintretenden entgegeneilte.

»Wieland!« sagte er, sich selber vorstellend. Und beide Hände ausstreckend zog er Goethe an die Brust.

Dieser war über solch herzlichen Empfang einigermaßen erstaunt. Gerade an Wieland und eine Begegnung mit ihm hatte er nicht ohne Herzklopfen gedacht. Seine keck-satirische und, wie er jetzt urteilte, ziemlich voreilige Farce »Götter, Helden und Wieland« durfte zwar als vergessen gelten. Aber, daß der Angegriffene durch eine nicht bloß preisende, sondern von ehrlichstem, tiefstem Verständnis zeugende Besprechung des »Götz« die denkbar edelste Rache genommen hatte, war ein wenig beschämend. Und nun gar diese fast liebende Begrüßung! Goethe fühlte sich ein wenig überrumpelt und, wie es ihm in solchen Fällen leicht begegnete – er wurde zunächst beinahe steif. Errötend stammelte er ein paar fast konventionell klingende Worte – »wie sehr er sich freue« und dergleichen – und schritt dann um so lauter auf seinen Gastgeber zu, ihn zu begrüßen. Als im selben Moment sich eine zweite Tür öffnete und die beiden jungen Damen des Hauses eintreten ließ, erfolgte eine neuerliche lachende Begrüßung, und das gesellige Gleichgewicht war wieder hergestellt.

Trotzdem blieb Goethe, als man sich zu Tisch begeben hatte, fürs erste noch ziemlich einsilbig. Er beobachtete Wieland, der seinerseits, mit völliger Unbefangenheit und Heiterkeit als richtiger alter Hausfreund, eine muntere Tonart anschlug und sich mit den jungen Mädchen vergnüglich neckte. Er wahrte dabei eine solch gefällige Anmut, daß der erfahrene Hofmann ebenso zum Vorschein kam wie der geistreich-bewegliche Schriftsteller. Vor allem aber bewunderte Goethe die gewinnende Natürlichkeit und Gutartigkeit, die fast bei jedem Worte zum Vorschein kam und die dem fröhlichen Geplänkel einen erquickenden Anhauch von kindlicher Harmlosigkeit verlieh. Wielands durch Pockennarbigkeit und eine mächtige Nase fast entstelltes Gesicht belebte sich im Gespräch in so vorteilhafter Weise, daß man es ordentlich liebgewinnen mußte.

Da taute denn auch Goethe auf, schon nach wenigen Minuten. Mit seinen funkelnden Einfällen beteiligte er sich am Gespräch und war sehr bald gerade mit Wieland in erfrischendem Kontakt. Mit gönnerhaftem Schmunzeln verfolgte Herr Kammerpräsident von Kalb, wie »die beiden Geistesritter« an seiner Tafel »eine Lanze miteinander brachen«, und fühlte sich dadurch offenkundig geschmeichelt. Gern erwies man ihm die geziemende Reverenz, indem man ihm die Leitung des Gespräches überließ, das sich nun mehr intern-weimarischen und höfischen Dingen zuwendete. Auch hier zeigte sich Wieland sehr beschlagen, während Goethe im stillen manch nützlichen Wink erhielt, den er sich merkte.

Als nach vollendeter Mahlzeit Seine Exzellenz merken ließ, daß sie sich gern ein wenig zur Ruhe zurückziehen möchte, lud Wieland Goethe ein, ihn in seine nahegelegene »Klause« zu begleiten – was dieser mit Freuden annahm. Ihm war bereits so warm ums Herz geworden, daß er sich darauf freute, diesen so menschenfroh sich gebenden Dichter und emeritierten Prinzenerzieher in seiner Häuslichkeit kennenzulernen.

Gleich auf der Straße faßte Wieland seinen jungen Freund behaglich unter den Arm, unter Lobsprüchen auf das Haus, das sie soeben verließen. Vor allem aber pries er beredt die Herzogin-Mutter, Anna Amalia, die mit ihren sechsunddreißig Jahren eine reif-süße weibliche Anmut mit natürlicher Fürstinnenwürde verbinde und die der geistig-regsame Mittelpunkt ihres »Musenhofes« sei. Wieland war stolz darauf, sich ihrer besonderen Gunst zu erfreuen und geradezu als ihr Vertrauter gelten zu dürfen.

Nach kaum hundert Schritten war die Behausung des immer noch unbefangen schwäbelnden neu-weimarischen Hofrates erreicht und mit einer verbindlichen Armbewegung bat er Goethe, einzutreten. Drinnen gleich fröhlicher Kinderlärm. Aus aufgerissener Tür kamen vier stürmische Rangen herbeigelaufen, den Herrn Vater zu begrüßen, während die noch hübsche blitzsaubere Mutter, ein Steckkissenwürmchen auf dem Arm haltend, behutsam hinterdrein trippelte. Im Innern des Wohnzimmers aber trat den Ankömmlingen noch eine würdige, freundliche Matrone entgegen, die Wieland mit Handkuß als seine Mutter begrüßte.

Da war also mit einem Schlag der richtige Familientrubel! Aber Goethe fühlte sich darin nun erst doppelt wohl. Das war gerade, was er liebte. Im Nu war er gut Freund mit den Kindern, und duldete gerne, daß etliche an ihm emporkrabbelten oder auf seinem Schoße Platz nahmen. Nun sollte er gleich Märchen erzählen! Da gebot aber der Vater Einhalt. Denn er wollte seinen Gast doch auch ein wenig »für sich haben!«

Mit freundlichem Schelten trieb die Mutter die Kinder an, das Zimmer zu verlassen. Dann empfahl sie sich selbst, zugleich mit der Großmutter, obwohl Goethe sie herzlich zum Bleiben aufforderte. Ihm gefiel die schlichte und lautere Art der angenehmen Frau und er hätte gern ihre Gegenwart weiter genossen.

Doch nun war es auch gut, mit Wieland allein zu sein. Es gab doch so vieles, über das sie sich aussprechen konnten.

Das Zimmer, in dem sie sich befanden, verriet den Kunstfreund und Geistesmenschen. Außer gepflegt aufgestellten Büchern und malerisch durcheinandergeworfenen Papieren, die einen hübschen geschweiften Schreibtisch bedeckten, gaben eine mächtige Sokratesbüste und eine ziervolle Gruppe der drei Grazien der Stube den Charakter. Der Weltweise und die Anmutsgöttinnen! dachte Goethe bei sich. Wie gut paßt das zum Wesen unseres deutschen »Magister elegantiarum!«

Wieland, der die steife Staatsperücke mit einem turbanartigen Gewinde, das die schöne Wölbung seiner Stirn wirksam hervortreten ließ, vertauscht hatte, saß behaglich in einem Sessel und bat Goethe, gleichfalls sich niederzulassen.

»Wenn's dem Herrn Hofrat nichts ausmacht, wandere ich lieber im Zimmer ein wenig auf und ab«, erwiderte er freimütig. »Das ist so meine Art. Mir quillen dann leichter die Gedanken.«

»Also Peripatetiker! Wie ich mir's eigentlich schon gedacht hatte«, stimmte Wieland zu. »Was soll der Dichter des ›Götz‹ auch anders sein! Da sprudelt ja Szene neben Szene – und immer wieder ein neues Bild – das rollt nur so auf uns ab, und alles voll ursprünglichen Lebens!«

Goethe fühlte, wie aufs neue die Röte der Beschämung ihm ins Gesicht stieg. Doch zugleich mit ihr jetzt ein Gefühl des Beglücktseins. So drängte es ihn nun, ein Wort aufrichtigen Dankes zu sagen für die ehrliche Hochherzigkeit, mit der Wieland ihn ohne Gefühl der Kränkung als Dichter enthusiastisch begrüßt hatte.

»Hätte ich etwa den geschundenen Marsyas spielen sollen?« lächelte Wieland voll inniger Güte. »Junge mutige Genien sind wie junge Füllen. Das strotzt von Leben und Kraft und muß sich austoben. Tummelt sich wie unsinnig herum, schnappt und beißt und schlägt vorn und hinten aus. Da trifft der Schlag wohl auch mal einen Falschen. Wozu bin ich dreiundvierzig Jahre alt geworden, um das nicht zu wissen? Aber wenn ich dann den Hauch des Genius spüre, wie albern wäre es, meine wahre Wertschätzung zu verbergen! Dieser Doktor Goethe, sagte ich mir, mag ein kecker Bursch, wohl gar ein wahrer Satanskerl sein, aber – er hat was in sich, er holt das Blaue vom Himmel herunter! Und darum, wie ich mich kenne – sagte ich zu mir –, es wird noch dazu kommen, daß wir gute Freunde miteinander werden!«

Damit streckte Wieland die Hand hin, in die Goethe kräftig einschlug. Und nun sprudelte es auch aus ihm hervor.

»Wieland, Wieland!« rief er. »Was sind Sie für ein Mensch! Ganz einfach: ein wirklicher Mensch! Und das ist, offen heraus, gerade unter Literaten eine Seltenheit. Wie emsig, mit heißestem Bemühen, suche ich unter diesem vertrackten Volk nach wirklichen Menschen! Und – finde fast nie einen! Gespreiztes Getue, ewig gereizte Eitelkeit, unredliches Phrasengedresch – wie oft das, wie oft das! Aber bei Ihnen, Wieland, das gerade Gegenteil! Und das beglückt mich so. Ja, wir müssen Freunde werden – nein, wir sind es schon! Wollen wir denn auch im Grunde nicht beide dasselbe? Die Erlösung der herzlahmen, dumpfen Welt durch die quellende Macht der Liebe! Ist dies nicht Ihr Ziel wie meines?! Und haben Sie durch Ihre Prosaübertragungen uns Deutschen nicht eben jenen Shakespeare geschenkt, der mein höchster dichterischer Abgott ist? Was trennt uns also? Ich sehe eine Fülle herrlichster Gemeinsamkeiten! Darum nehme ich die dargebotene Freundschaftshand dankbar an. Und freue mich, über Sie eines Besseren belehrt zu sein!«

In Wielands gutes Antlitz traten Freudentränen der Rührung.

»Ich hab's ja gewußt,« stammelte er, »daß ich mich in Goethen niemals würde täuschen können. Wer den ›Götz‹ und den ›Werther‹ geschrieben hat, der muß ein fühlendes Herz haben – auch als Mensch. Das Stachligtun ist nur Außenseite und die abwägende Zurückhaltung ein Gebot berechtigter Vorsicht, ja, der Selbsterhaltung. Sind aber die Schranken gefallen, dann kommt um so herrlicher und rückhaltloser der ganze Mensch zum Vorschein. Der braucht sich zwischen uns wahrlich nicht zu verstecken. Vor mir nicht – und ebenso auch vor Dir nicht!«

»Ja, wir wollen einander Du sagen!« rief Goethe voll aufgeweckten Feuers. »Sieh, Wieland: ich spürte es gleich, als ich Dir beim Hofmarschall ins Auge blickte, daß wir uns noch mal von Herzen gut werden würden. Aber, daß es so rasch kommt, das macht mich selig! – Und was zwischen uns lag, nicht wahr, das ist vergessen?«

»Es ist nie gewesen!« bekräftigte Wieland. »Und nun, Goethe, laß mich Dir etwas sagen! Wenn Du hier unter die Leute kommst, sei vorsichtig, ich weiß, wie leicht Du übersprudelst, wie Dir das Herz auf der Zunge tanzt! Aber diese thüringischen Landadeligen sind gar schwerfällig und genau. Die werden Dein dichterisches Überschäumen kaum verstehen. Dabei sind sie riesig neugierig auf Dich und sehen mit Spannung Deinem Auftreten unter ihnen entgegen. Schon weil der arglose junge Herzog so voll Enthusiasmus ist und nicht das geringste Hehl daraus macht, daß er Dich liebt! Nun stell Dir dagegen das eingesessene alte Hof- und Schranzenvolk vor, das schon sowieso an dem neuen Regiment mancherlei auszusetzen hat. Wie dem das Schlottern in die Glieder fährt, und wie es gegenüber einem so viel gerühmten neuen Ankömmling vor Neid- und Scheelsucht schier vergehen möchte! Und auch die Beamtenschaft fühlt sich zum Teil bereits wie von bösen Ahnungen geplagt! Als ob Dein von ihnen vorausgesetzter Einfluß auf den jungen Herzog ihnen früher oder später einmal den Kragen kosten könnte. Darum gibt's welche, die Dich, bevor Du überhaupt in Erscheinung trittst, bereits auf den Blocksberg wünschen!«

»Wohin ich mit Wonne fahren werde, wenn sie mir den Boden hier zu heiß machen!« polterte Goethe los. »Wäre noch lange das Übelste nicht, mit der Hexenzunft einmal Walpurgisnacht zu feiern, hahaha! – Aber wissen möchte ich, was sich die Leute hier eigentlich einbilden! Glaubt man etwa, ich wolle hier Hütten bauen? Ich denke gar nicht daran! Ich bin für ein paar Wochen der so überaus gnädigen Einladung des jungen Herzogs hierher gefolgt. Warum? Weil ich den Jungen selbst ins Herz geschlossen habe! – Aber mich hier festsiedeln? Dazu ist mein Blut viel zu unruhig! Wie ich mich kenne, haue ich bald wieder ab! Zudem ist mir die Hofluft von vornherein fremd. Mein Vater hat vielleicht gar nicht so unrecht, der mich aufs dringendste warnte, überhaupt hierher zu fahren. Aber ich hatt's nun einmal versprochen – war auch voll Wißbegier nach neuen Eindrücken – und im Grunde – wovor sollt' ich mich eigentlich fürchten? Ich bin gewohnt, mich herumzuschlagen! Und in meinem Leben mit noch ganz anderen Dingen fertig geworden, als mit solch aufgeregtem Nattern- und Schranzengezücht!«

Er war hastig im Zimmer auf und nieder gelaufen, die Worte unter Sprudeln hervorstoßend. Jetzt warf er sich krachend in eine Sofaecke, während seine Augen kriegerisch umherfunkelten.

»Recht so, recht so!« murmelte Wieland. »Obwohl ich im stillen dennoch hoffe, daß es Dir ein wenig bei uns gefallen möge – und daß Du Deinen Aufenthalt nicht gar so kurz wirst bemessen wollen. Wer sind denn die Herrschaften, die sich über Dein Hierherkommen aufzuregen belieben? Im Grunde nur diejenigen, die nichts mehr zu sagen haben – und die darum hinter allem Neuen, das da kommt, etwas für sie Abträgliches wittern und argwöhnen! Dafür wirst Du auch manch neuen Freund und lieben Kameraden hier finden. Und ebenso wird Dir bei den lieben Weiblein – die hier am Hofe eine große Rolle spielen! – wie mir schwant, ein guter Empfang bereitet werden!«

»Mit Frauen, ob jungen, ob alten«, rief Goethe lebhaft, sprang wieder auf und durchmaß das Zimmer, »hab' ich zeitlebens auf bestem Fuß gestanden! Das ist mir vom lieben Gott so geschenkt. – Nur an ihr thüringisch Sprechen muß ich mich erst gewöhnen – wie sie, voraussichtlich, an mein Frankfurterisch! Doch vielleicht bildet das auch einen Reiz mehr. Das Fremdartige lockt ja immer geheimnisvoll an.«

»Wird sich zweifellos alles schon machen!« stimmte Wieland zu. »Aber nun, lieber Freund, muß ich Dich mahnen. Die Uhr rückt auf drei zu. Und mit Glockenschlag erwartet Dich unser Herzog. Er wird jetzt schon unruhig geworden sein, und die Zeit, wo Du bei ihm antrittst, kaum erwarten können!«

»Ach, man soll hohen Herren nicht gar zu sehr entgegenkommen!« warf Goethe leichtfertig hin. »Aber weil der Prinzenerzieher Emeritus höchstselber mich mahnt, will ich folgsam sein. – Doch erst muß ich Deiner lieben Frau Mutter und Gattin mich dankend empfehlen und Deine munteren Fratzen nochmals umarmen!«

Es gab ein minutenlanges Abschiednehmen, unter Gelach und Geschrei. Und wenn der besorgte Herr Hofrat nicht nochmals gedrängt hätte, es hätte gewißlich doppelt so lange gedauert.

Dann endlich griff Goethe nach seinem Dreispitz und lief, ohne lang Toilette zu machen, wie er war und stand, spornstreichs zu Hofe hin.


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