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Scheideblick nach Italien

Immer allmächtiger und schreckhafter wuchs um Goethe das Landschaftsgebilde, je tiefer er mit seinem Kameraden, zwischen dunklen Fichtenständen und dräuenden Schneehöhlen hindurch, in das felsige Hochgebiet eindrang, das ihn zum St. Gotthardpaß emporführen sollte. So sehr er sich gestählt und abgehärtet fühlte – sogar in Schneewasser hatte er gelegentlich gebadet –, so kostete ihn doch das saure Aufsteigen Anstrengung genug, und manchen Schweißtropfen vergoß er, bevor er über die Teufelsbrücke und durch das Drachental der Reuß bis zum Urner Loch hingelangte und dann im Tal bei Andermatt sich neubelebt und erquickt fühlen konnte.

Mit unerhörter Gewalt ergriff ihn die Großartigkeit der Natur. Bleistift und Tuschfeder mochten nicht rasten, um immer wieder, ob auch manchmal mit flüchtigsten Strichen, die erschütternden Eindrücke festzuhalten, die seine Wanderung ihm darbot. Von allen romantischen Schauern gepackt fühlte er sich in dem von Felshöhlen umstarrten Drachental, wo die Reuß in schäumenden Katarakten niederstürzt, zwischen starrendem und niedergeworfenem Urgestein wie durch einen Engpaß sich durchzwängend. Wilde Gebirgseinsamkeit, die des Dichters Seele zu erschütterter Andacht stimmte! Lange stand er da, schaute und träumte. Und ob auch Passavant drängen mochte, er vermochte nicht sich loszureißen. Rhythmen summten ihm durch das Gehirn, ohne daß er deren Gewoge sogleich dichterisch zu bannen vermochte. Um so lebhafter erwachte der Zeichner in ihm. Seinen Tuschkasten aus dem Ranzen reißend, setzte er sich nieder und bedeckte ein großes Skizzenblatt bis zum Rande mit einem Gefege wilder Striche und hineingetupfter Sepiakleckse: woraus dennoch, dem Auge erkennbar und die Phantasie beflügelnd, ein Vorstellungsbild schäumender Wasserwogen und rollenden oder dräuenden Felsgesteins erwuchs.

Passavant war ganz begeistert. Er nannte diese Zeichnung Goethes Meisterleistung. Und auch der Dichter war diesmal befriedigter als sonst. Er fühlte, wie die innere Erregtheit seine darstellerischen Fähigkeiten gesteigert hatte.

Doch die Höhe des Gebirgskamms war noch nicht erreicht. Auf klingelnden Saumtieren ging es weiter empor über Moose und nackten Fels, oft auch über Schnee in eine Felseneinöde hinein, in denen die Steine wie abgeschälte Knochen um sie lagen, so daß Goethe diese Szenerie mit dem Tal des Todes verglich. Dazu pfiff und sauste Sturmwind um sie her, eilende Wolkenzüge waren zu durchmessen, und wie Schrecken eines drohenden Geisterreiches wirkte das unheimliche Brausen unsichtbarer Wasserfälle. So waren die beiden Wanderer froh, als sie endlich, bei einbrechender Dämmerung, das Gotthard-Hospiz erreichten.

Zwei freundliche Kapuzinerbrüder und das bellende Geheul großer, zottiger Hunde empfingen sie. Erschöpft streckten sie sich nieder auf hölzerne Wandbänke. Pater Seraphim, ein gutmütiger alter Schwyzer, schleppte freundlich Milch, Brot und Käse zur Erquickung an, während der aus dem Tessin stammende Bruder Lorenzo in seinem farbig klingenden Welsch die Ruhenden zu unterhalten trachtete. Er war erst gestern von einer längeren Streiftour, die ihn bis nach Mailand geführt hatte, zurückgekehrt und ganz erfüllt von seinen Eindrücken aus der Lombardei, die er als gottgesegnetes Land und wahres Wunderparadies zu schildern wußte. Goethe, der sich rasch an seine Sprache und Ausdrucksweise gewöhnt hatte, lauschte ihm in voller Hingerissenheit und malte sich im Geiste die in Sonnenglanz ruhenden Gefilde und stolzen Städte aus, die er nun bald mit eigenen Augen zu schauen und mit eigenen Füßen zu durchwandern hoffte.

Die Nacht über träumte er von Italien, und schon um vier Uhr in der Frühe, als die ersten Sonnenstrahlen ihn weckten, rüttelte er seinen Gefährten wach und trieb ihn an zum Weitermarsch. Doch der gute Pater Seraphim ließ sie nicht wandern, bevor er sie nicht abermals mit Milch und Brot und einer besonders herrlichen frischen Butter auskömmlich gelabt hatte. Dann geleitete er sie zum Ausgang.

Auf der Schwelle blieb Goethe noch einmal stehen und fragte zurück:

»Welchen Tag haben wir heute?«

»Den zweiundzwanzigsten Juni«, erklang die Antwort.

Ein leiser, sonderbarer Schreck durchrieselte Goethe. Sofort mußte er daran denken, daß grade heute Lili in Frankfurt ihr siebzehntes Lebensjahr beginnen würde. Und er war nicht nur nicht da, sie zu beglückwünschen, – er war auch im besten Begriff, sich entscheidend immer weiter von ihr zu entfernen, ja sie ganz hinter sich zurückzulassen.

Schweigend schritt er dahin, fast finster vor sich hinbrütend. Alles in ihm war aufgewühlt. Der Wunsch, Italien zu sehen, stand scheitelrecht wider seine innerste Herzenssehnsucht, sich mit Lili wieder zu vereinigen. War das Datum des heutigen Tages nicht gleichsam ein Schicksalswink, daß er umkehren sollte? Noch sträubte sich etwas in ihm dawider: gleichsam eine Scham über das Brechen guter Vorsätze. Fast krampfhaft marschierte er weiter, wie von unsichtbaren Händen gestoßen. Einstweilen mußte er noch vorwärts. Wenigstens einen Blick mußte er nach Italien hinunter tun.

Passavant versuchte zu wiederholten Malen, ein Gespräch anzuknüpfen. Doch aus dem sonderbaren, unberechenbaren Weggenossen war heute kein Wort herauszubekommen.

Nach mehrstündigem Marsch erreichten sie die Paßhöhe, dort, wo die Wege und die Völkergebiete sich scheiden. Nach Süden zu lag der Blick offen. Helle Farben in glitzernder Sonne funkelten fernher herüber. Dort dehnte sich das gelobte Land. Dort lockte Italien.

Goethe stand lang und sättigte seinen Blick. Er war jetzt ganz ruhig und gefaßt. Fing auch langsam wieder an, gesprächig zu werden, und seine Worte schwelgten in der Landschaft, die er mehr mit den Augen des Geistes als des Leibes vor sich liegen sah.

Dann starrte er lange auf das nahe Gletschergebiet. Die zackigen weißen Schneestreifen in den Runsen des fast schwarz sich von ihnen abhebenden Gesteins fesselten sein Malerauge. Seiner Kunst durfte er jetzt einiges zutrauen. So beschloß er, das Erschaute im Bilde festzuhalten.

Eifrig gab er sich an die Arbeit. Den vor ihm ragenden Bergkegel warf er zunächst aufs Papier, ließ dann hinter ihm in langer Kette das Kammgebirge aufsteigen, immer die weißen, seltsam geformten Schneefelder grotesk gelagert zwischen den dunkleren Felsgraten. Doch so sehr er sich auch mühte, das, was er vor sich sah, dünkte ihm gewaltiger, trotziger, naturhafter. Nicht ohne innere Enttäuschung brach er ab. Er fügte nur rasch in lockeren Strichen die unter ihm liegende Niederung mit dem sie durchschlängelnden Weg noch hinzu – und dann auch, wie im Scherz, die Kuppe, auf der er saß, mit den beiden Figürchen seiner selbst und Passavants. Dann schob er das Blatt ins Skizzenbuch und erhob sich.

»Endlich!« sagte Passavant. »Die Sonne eilt schon auf Mittag zu. Es ist höchste Zeit, unseren Abstieg zu beginnen, wenn wir noch vor Dunkelwerden in Airolo ankommen wollen, um von dort aus unseren Weg nach Italien zu nehmen.«

»Was hab' ich in Airolo zu suchen?« erwiderte Goethe in verblüffender Ruhe und Heiterkeit. »Wir kehren um! Morgen wieder in Göschenen!«

»Ich verstehe wohl nicht recht. Wir ... kehren ... um?«

Passavants große, verdutzte Augen glotzten in fassungslosem Staunen auf Goethe hin.

»Ganz recht«, sagte dieser. »Wir kehren um! In spätestens drei Wochen will ich wieder in Frankfurt sein! Mit Italien ist es für diesmal nichts. Mich zieht etwas nach Deutschland zurück, etwas Geheimes. Ja, Junge, komm nur: wir kehren um!«

Lachend klopfte er Passavant auf die Schulter und schritt gradwüchsig den Weg hinab, auf dem er gekommen war.

Lili hatte gesiegt!


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