Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die vier Haimonskinder

Es war nun allerhand Unruhe in die beiden Häuser »Am Liebeneck« und »Zu den drei Leyern« eingezogen. Frau Schönemann und die alten Goethe machten einander gegenseitig Besuche, um persönliche Fühlung zu bekommen, und bemühten sich, Wohlgefallen aneinander zu finden. Es ging ein wenig gezwungen zu, obgleich man zunächst »unter sich« blieb. Aber schon Vater Goethes wunderlich-selbstherrliches und eingekapseltes Wesen ließ eine herzliche Berührung kaum aufkommen. Nun war gar die Rede davon, das »Brautpaar« auch der übrigen Verwandtschaft offizielle »Visiten« machen zu lassen. Dies suchte Goethe nach Kräften hinauszuschieben. Allein schon der Gedanke daran bereitete ihm peinvolles Unbehagen.

Seine innere Verstimmung war so groß, daß auch Lili sie zu spüren bekam. Sie sah jetzt ihren Verlobten seltener als ehedem ihren Verehrer. Der liebte es vielmehr, noch mehr als sonst, einsam durch Fluren und Wälder zu streifen, und war oft für keine Menschenseele greifbar. Er sprach sogar von Reisen. Die Schwester in Emmendingen wolle er besuchen. Sie verlange schon lange dringend nach ihm, und sie hätten vielerlei miteinander zu bereden.

In diese Situation prallte plötzlich neuer Besuch herein. Das heißt, nur nach außen hin »plötzlich«. Goethe selbst wußte längst davon und hatte ihn mit ungeduldiger Sehnsucht erwartet. Es waren die beiden Brüder Stolberg, die mit schallendem Halloh anrückten, Graf Christian und Graf Friedrich Leopold, Gustgen Stolbergs Brüder – und in ihrer Begleitung, oder schon etwas vorher, tauchte ihr intimster Freund, Baron Kurt von Haugwitz, auf, der von Paris herübergereist kam. Das waren laute und stürmische Gesellen, junkerhaft-wild und kraftgenialisch-losgebunden. Dazu auftrumpfende Verehrer Wolfgang Goethes, den sie »Bruderherz« nannten und, als ob das gar nicht anders sein könnte, gänzlich mit Beschlag belegten. Waren sie doch, wenigstens die beiden Stolberg, gleichfalls Dichter und dünkten sich gewiß nicht wenig und vor allem als erkorene und vollgültige Vertreter von »Sturm und Drang«.

Goethe hätte vielleicht unter anderen Umständen sich mehr zurückgehalten. Jetzt war es ihm aufs höchste willkommen, eine scheinbar völlig zwingende Ablenkung zu finden und sich mit vollen Armen in die wogende Brandung zu werfen.

Die drei adeligen Sturmgesellen waren im »Englischen Hof« am Roßmarkt abgestiegen, aber sie verbrachten fast ihre ganze Zeit im Goethehaus auf dem Hirschgraben. Der Vater machte gute Miene zum tollen Spiel, hielt sich jedoch fast ganz auf seiner Stube und schwitzte über des Sohnes gerichtlichen Akten, wofern er nicht in seine geliebten Reisebeschreibungen sich vertiefte. Die Mutter aber, die ordentlich ihre Jugend wieder erwachen fühlte, ließ sich voll Lachlust in den Strudel mithineinziehen.

Die beiden Stolberg waren schöne, stolzgewachsene Burschen mit offenen, strahlenden, geröteten Gesichtern und bräunlich-blondem, wallendem Haarwuchs, den sie nur nachlässig in Schopfe gebunden hatten. Sie waren in ihrem Auftreten betont-burschikos, wollten von Geburtsadel nichts mehr wissen, waren aber brausende und herrische Lebensgenießer. Neben ihnen wirkte Haugwitz, obwohl er sich bemühte, gleichwertig mitzutun, beinahe zahm. Jedenfalls vermochte er die pedantischen Lehren einer vornehmen Kinderstube nicht ganz zu vergessen, war leidlich korrekt in seiner Kleidung, höflich und bedachtsam in seinem Auftreten. Jedenfalls erfreute er das empfängliche Herz der Frau Rätin durch wohlvollführte Komplimente und artig gedrechselte Redensarten. Er wurde darob von seinen beiden Kumpanen nicht wenig gehänselt.

Das etwas Gemachte all dieses Tuns schien Goethe, in seiner damaligen Stimmung, kaum zu empfinden. Er überließ sich vielmehr zügellos dem Braus seiner Jugend. Seinem phantastisch aufgewühlten Inneren konnte nichts toll und verwegen genug sein. Er überbot womöglich noch die beiden Stolberg, doch aus wirklich genialischer Laune, und wurde darum fast wie ein Abgott von ihnen angestaunt. Wenn ihm der Wein, der reichlich aufgetischt wurde, heißglühend durch die Adern rann, fühlte er sein ganzes Blut dermaßen aufgeschäumt, daß er förmlich außer Rand und Band geriet. Er erging sich, schier wie entrückt, in halbpoetischen, halb zukunftsschwärmerischen Reden, die den drei anderen wie hellseherische Prophezeiungen und Offenbarungen eines Erleuchteten in die Ohren drangen. Natürlich mußten diese nun auch ihrerseits etwas tun, um die Stimmung in die Höhe zu treiben. Und so ergossen sich denn die Stolberg jählings in wütendem Tyrannenhaß.

»Alle Unterdrückerseelen«, schrie Fritz und sprang dabei, zum Schrecken der grade ins Zimmer tretenden Frau Rat, auf den gepolsterten Sessel, »alle Unterdrückerseelen in den Orkus! Mögen sie beim höllischen Feuer in ihrem eigenen Fette schmoren!«

»Das Blut sollte man ihnen abzapfen«, brüllte Christian. »In hellen roten Strömen sollte es in unsere Becher fließen! Verfluchte Wüteriche! Wie dürste ich bereits nach Eurem Blut!«

»Ha, das müßte köstlich munden!« griff Fritz Stolberg auf. »Echtes Tyrannenblut in unseren Kelchen – dampfendes, rotleuchtendes! Nicht im geringsten würde ich mich ekeln, es auf einen Zug hinunterzuspülen!«

»Aber meine Herren Grafen!« tönte da Mutter Goethes Stimme mahnend dazwischen. »Warum denn so mordgierig? Was haben die armen Tyrannen Ihnen denn getan? Was sind das überhaupt für Leute?«

»Mutter«, mischte sich jetzt Goethe ein, »Du kennst doch meinen Goetz – und auch, sollte ich meinen, Gottfriedens Chronik, aus der ich Dir öfters vorlas! Da sind doch wunderbare Kupfer drin – Kupfer von echten Tyrannenmenschen! Du hast doch selbst damals den König Kambyses mit Grausen betrachtet – Du weißt doch, den Kambyses, der das Herz vom Söhnchen seines verhaßten Todfeindes, in dessen Beisein, mit dem Pfeil getroffen hatte und dazu eine grausame Lache anschlägt! – Das, siehst Du, war ein echter Tyrann!«

»Ach, das sind ja hirnverbrannte, bemitleidenswerte und grausliche Menschen«, erwiderte die Mutter und schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Mit solchwelchen solltet Ihr doch gar nichts zu schaffen haben! Und was wollt Ihr gar noch mit deren abscheulichem und stinkendem Blut! Da möcht' man sich ja gleich erbrechen, wenn man nur daran denkt! – Nein«, fuhr sie in anderem Tone fort und ein verschmitzt lächelnder Zug verschönte dabei ihr gütiges Gesicht, »da weiß ich Euch was Besseres zum Trinken, etwas ebenso Rotes und viel, viel Wohlschmeckenderes! – Ich bin gleich wieder da!«

Die Viere starrten ihr verblüfft nach.

»Man kann nicht verlangen«, meinte nach einigem Stillschweigen Haugwitz entschuldigend, »daß Frauen unsere hohe Entrüstung verstehen sollen.«

»Ach Frauen überhaupt!« rief Fritz. »Was hatten die wohl jemals für Weisheiten im Kopf?«

»Noch niemals hat ein Weib den Geistesflug eines Mannes begriffen!« übertrumpfte Christian.

»Und Eure Schwester Gustgen?« warf Goethe dazwischen.

»Die ist doch mehr ein Mann!« riefen beide Brüder lachend, wie aus einem Munde. Und Fritz fügte hinzu: »Auguste ist ein Fall für sich!«

»In ihren Briefen ist sie ganz Weib«, trotzte Goethe.

»Ach, was so ein Frauenzimmer alles schreibt!« warf Christian großspurig hin.

»Schöne Seele!« höhnte Fritz.

»Ist noch lange nicht das Schlechteste«, suchte Haugwitz zu vermitteln und zwinkerte Goethe freundlich zu.

Der zuckte bloß geringschätzig mit den Achseln.

»Also ein schöneres, edleres Rot gibts auf der ganzen Welt nicht mehr!« ertönte da frisch und munter die Stimme der Frau Rat. Zugleich hielt sie, eintretend, eine hellgeschliffene Karaffe empor, in der es herrlich und dunkelrosig funkelte. »Frisch aus dem Keller! Echter abgelagerter Burgunder, Jahrgang 1748 – das ist, ein Jahr, bevor mei' Wolfgang auf die Welt kam!«

»Hoch die Frau Rat!« ertönte es dreifach wie aus einer Kehle.

Und während die wackere Mutter eigenhändig und freundlich-schmunzelnd die Kelche füllte, erhob sich schmetternd die Stimme ihres Sohnes.

»Auch dies, meine Lieben, betrachtet als unverfälschtes Tyrannenblut! Denn gibt es einen gefährlicheren Tyrannen auf der Welt als den Wein? Weiß er Euch nicht mit wahrhaft teuflischer List zu unterjochen? Der Weinstock ist der Universaltyrann, der ausgerottet werden sollte –«

»Oho! Oho!« schrien die beiden Stolberg dazwischen.

»Also von mir aus mag er ja meinetwegen nicht ausgerottet werden!« lachte Goethe übermütig heraus. »Wäre ja auch schade darum, ihn gänzlich zu vernichten! War nie ein abgesagter Feind des Weines und werde auch niemals einer sein – und würde ich achtzig Jahre alt, oder darüber! – Aber, liebe Freunde, dann müssen wir doch das, was tyrannisch im Weine ist, zu bekämpfen wissen – nämlich das Übermaß – und uns nicht vom betörenden Dämon Bacchus verblenden und verderben lassen! Sonst sind wir dennoch Unterjochte – und das wollen wir doch nicht sein!«

»Mei' Wolfgang ist doch allemal der Vernünftige!« lobte leise die Frau Rat. Und mit lauterer Stimme fuhr sie fort: »Also nun kostet jetzt, meine Herren, von dem wirklichen und echten Tyrannenblut, das ich für Euch heraufgeholt habe! Ich stoße selbst mit an!«

Die Gläser klangen tönend aneinander. Und dann verschwand das schimmernde Rot so gründlich in den dunklen Kehlen, als sei es ein Weihetrank, der den Göttern gespendet werden sollte.

»Ah!« machten alle und priesen die Kraft und Schönheit des wahrhaft erlesenen Tropfens.

»Wenn ich die vier Herren so froh und einträchtig beisammen sitzen sehe«, mischte jetzt die Frau Rat sich wieder ein, »dann muß ich immer an was Besonderes denken! Und an was wohl? An die vier Haimonskinder – wie die alle zusammen auf einem Roß gesessen und selband in die Welt getrabt sind.«

»Und Sie sind dann die Mutter der Haimonskinder: Frau Aja!« rief Fritz Stolberg, in jäher Erleuchtung.

»Jawohl, Frau Aja – Frau Aja!« stimmten die andern jauchzend ein.

»Dankend akzeptiert!« erwiderte die Gefeierte und machte neckisch einen ihrer berühmten schönen Knixe.

»Mutter!« rief Wolfgang, umarmte und küßte sie. »Wie freue ich mich, daß ich Dein Sohn bin! Wir passen wirklich ganz wunderbar zueinander!«

»Hört und seht mal den Schäker!« rief munter die Geküßte. »Sonst macht er seiner Mutter niemals Komplimente – und jetzt küßt er sie sogar in offener Gesellschaft!«

»Nie hat eine Mutter solche Huldigung mehr verdient als unsere Frau Aja!« rief Christian Stolberg. Und sein Bruder und Baron Haugwitz stimmten freudig zu.

»Jetzt muß ich die Herren aber verlassen«, wehrte Frau Aja lachend ab. »Sonst komme ich am Ende selbst noch in den Verdacht, eine erpichte Weintrinkerin zu sein. – Auch haben ja die Herren, wie ich höre, große Reisepläne vor. Die wollen reiflich überlegt sein!«

Und flink wie ein Wiesel war die Vierundvierzigjährige verschwunden.

Die zurückgebliebenen aber vertieften sich jetzt eifrig in ihre Pläne. Denn sie wollten alle miteinander in den Schwarzwald und in die Schweiz. Und vielleicht gar nach Italien ...


 << zurück weiter >>