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Die Schlange im Grase

So war Lili denn zurückerobert?

Weit eher hätte er sagen müssen, daß er selbst sich zurückgefunden habe. Lili hatte, während er in der Welt umherschweifte, fast über das Maß menschlicher Kraft hinaus an ihm festgehalten. Nun freilich wollte sie dafür sehen, daß er treu und unbeirrbar zu ihr stand; daß er auch Opfer nicht scheute, um sie ganz und auf immer für sich zu gewinnen. Würde er standhalten können?

Täglich kam er jetzt mit Lili zusammen. Bei seinem Freunde André, gegenüber der d'Orvilleschen Villa, hatte er sich einquartiert. Sooft er nur konnte, huschte er hinüber. Überall suchte er Lili und war eifersüchtig auf jeden Blick, den ein anderer von ihr geschenkt bekam. Schier außer sich geriet er, wenn Verwandtschaft und Kavalierbesuch eintraf; und wenn dann die Geliebte nicht umhin konnte, sich diesem zu widmen, schön mit den Leuten zu tun, zu lachen, zu scherzen, sich verehren zu lassen, dann konnte er bitter stumm und ungerecht werden. Und litt gleichzeitig darunter, daß er es ward!

Wenn es nur möglich wäre, Lili allein für sich zu gewinnen, um sie ganz nach seinen innersten Bedürfnissen zu formen! Also fliehen mit ihr? Nach Amerika? Das war so eine Wallung bei ihm gewesen, an die er selbst nicht mehr glaubte, weil er ihre Unausführbarkeit klar durchschaut hatte. Um so hartnäckiger, seltsamerweise, hielt Lili daran fest. Mit kindischem Eifer und romanhaftem Phantasieaufwand vermochte sie, sobald der Anlaß dazu sich bot, die Herrlichkeiten einer Flucht und eines exotischen Abenteurerdaseins sich auszumalen.

Geradezu verstimmt aber wurde sie, wenn Goethe ihr hierin vorsichtig entgegentrat. Er suchte ihr vorzustellen, was sie alles aufgeben müsse, wenn sie ihrer Vaterstadt, ja Europa den Rücken kehre. Und wie in dem Amerika, von dem sie so schwärmte, noch ganz unsichere und primitive Verhältnisse herrschten. In diesem fernen Kolonistenland, das zum großen Teil noch von rothäutigen Wilden bewohnt war und wo die europäischen Ansiedler sich oft mit der Axt einen Weg durch den dichten Urwald hauen mußten, um dann in einer aus selbstgefällten Stämmen errichteten Holzbaracke ein von allem Lebenskomfort entblößtes Dasein zu fristen. Oder wenn sie in einer der jungen Hafenstädte sich niederließen, dann saßen sie unter vielseitig hergelaufenem Gesindel, nicht selten ausgestoßenem Verbrechervolk, oder unter harten, raffgierigen Tatsachenmenschen, die für zartere Empfindungen und gar künstlerische Verfeinerung keinerlei Sinn aufzubringen vermochten.

Und was sollte er dort? Er, der doch ein deutscher Dichter war und nur zu Leuten sprechen konnte, die ihm zu antworten vermochten?! Wurzelte er denn nicht mit seinem ganzen Wesen – mehr noch wie Lili in ihrer Familie – im deutschen Volkstum? Sprudelte nicht einzig dort der heilige und geheimnisvolle Quell, aus dem er unablässig schöpfen mußte, um als dichtender Gestalter, als Diener und Vermehrer gottgeschenkten Sprachgutes seine Sendung zu erfüllen?

Wenn Goethe derart sich warmgeredet hatte und an das Geheimste und Tiefste, das ihn erfüllte, gerührt hatte, dann mußte es ihn aufs schmerzlichste bewegen, wenn Lili naserümpfend dasaß und dies alles nicht gelten lassen wollte. Sie hörte nur heraus, daß Goethe sie nicht tief genug liebe, um wirklich ernste und große Opfer zu bringen, während sie selbst sich bereit erklärt habe, ihre ganze Existenz daranzusetzen, um ihren Liebesbund zu ermöglichen. Ob dies sein »Alles um Liebe« sei? fragte Lili spöttisch. Sie hege davon ganz andere Vorstellungen und kenne in solchen Dingen nur ein »Alles oder Nichts«. Ganz kühles Weltdämchen erhob sie sich.

O, was hätte er dafür geben mögen, wenn er sie jetzt hätte hassen können! Aber in all ihrer Geziertheit stand sie in so vollendeter Lieblichkeit, eine kindhafte Prinzessin, vor ihm da, daß er nur aufs neue – und je unglücklicher desto aufreizender – in sie verliebt war. Ob er wollte oder nicht, ja, ob er sich dawider bäumte, er fühlte von diesem blonden, süßen, törichten Geschöpf eine Macht auf sich überströmen, der er in blöder Seligkeit unterlag.

Ja, er ging so weit, allein sich selbst die Schuld beizumessen, wenn jetzt in ihre Liebesbeziehungen neue Gespanntheit sich einschlich. Vor seinem Gewissen klagte er sich an, daß er diesen Engel unglücklich mache: er, ja er! – indem er ihre heiteren Tage unnötig trübe. Und war er nicht ebenso unglücklich wie sie selber?

So war die Idylle, die er sich erträumt hatte, bereits wieder zerflossen ... Lag da nicht, wie das Bibelwort sagt, »eine Schlange im Grase«? Verborgen lag sie da und blinzelte zu ihm empor, ihn tückisch in die Ferse zu stechen!

Nur allzu rasch war der Offenbacher Aufenthalt ihm verleidet. So brach er ihn ab und entwich – selbstredend, ohne Abschied zu nehmen – nach Frankfurt.

 

Doch auch daheim ward es nicht besser mit ihm. Der Wurm saß in seinem Innern und ließ ihn nicht los. Ganz abscheulich dünkte ihn diese menschenleere, »wie mit Besemen gekehrte« Stadt, mit ihren verödeten, von der Hitze ausgetrockneten Gassen. Und die Menschen darin, die alle etwas von ihm haben wollten und ihn dabei unaufhörlich mißverstanden, wie widerwärtig dünkten sie ihn! Aber wer hätte ihm denn auch genügen sollen, wo er nur nach der einen sich sehnte, an die er nicht denken durfte, weil die bloße Vorstellung ihres engelhaften Reizes ihn verrückt zu machen drohte? Und gar erst die Geschäfte! Und der Vater, der sie zu erledigen drängte! Und die ganze Nüchternheit und Prosa des Alltags, die sich anspruchsvoll an ihn heranmachte! Voll derben Ingrimms schrieb er an Freund Merck: »Ich bin wieder scheißig gestrandet und möchte mir tausend Ohrfeigen geben, daß ich nicht zum Teufel ging, da ich flott war.« Auch an Herder schrieb er in verwandter Tonart, immer im gleichen Sinne, daß daheim ihm der Boden unter den Füßen brenne und das er »wieder abdrücken« möchte.

Doch wohin? Das war die große Frage und im Grund eine närrische Frage! Über »Amerika« lachte er nur noch. Also vielleicht nach Italien? Wo er soeben erst auf der Gotthardhöhe so glorreich kehrtgemacht hatte! Und wo sein wackerer Herr Papa sich gewiß bedanken würde, dem eben erst Heimgekehrten zum zweiten Male für die gleiche Sache den Beutel zu spicken! Eher ließe sich an Weimar denken. Der junge Herzog hatte ihn herzlich eingeladen. Aber der hatte jetzt wohl den Kopf viel zu sehr mit anderen Dingen voll, als daß er sich an dergleichen erinnern mochte. Jedoch, wie wäre es mit einer Spritztour nach dem Norden – nach dem ihn ganz sagenhaft dünkenden Kopenhagen, wo die Geliebte seines Geistes, das wundersame Gustgen Stolberg, saß und Briefe der Sehnsucht zu ihm herüberflattern ließ!

O Gustgen, ja Gustgen, warum bist Du so fern? Wieviel Trost und Beruhigung könntest Du in die aufgewühlte Seele eines ewig Zwiespältigen spenden, der sich in vielen einsamen Stunden nach Dir verzehrt, ohne Dich je gekannt, ohne Dich je erschaut zu haben! Zumal wenn das Dunkel sich herniedergesenkt hatte und er einsam zum funkelnden Nachthimmel emporstarrte, mußte er an Gustgen denken, und die Vorstellung gewann eine fast fieberhafte Macht über ihn, daß er bei jener fernen Seelenfreundin »Verständnis und Aufrichtung« finden möchte. Konnte er ihr nicht alles beichten? Nicht die letzte Falte seines Herzens öffnen? Zu ihren Füßen hätte er liegen mögen, den Kopf in ihren Schoß vergraben, und wie ein Kind von Mutterhand sich sanft über Stirn und Haare streichen lassen mögen.

Tat er Lili unrecht damit, daß er mit solch liebender, ja lechzender Sehnsucht an Gustgen dachte? Er glaubte: doch gewiß nicht! Ließ nicht Lili eine wichtige Stelle in seinem Innern unausgefüllt, wo Gustgen gnadenreiche Spenderin war? Und war er nicht gerade dessen aufs innigste bedürftig, was Gustgen, die nie Erschaute, ihm aus feinster, fühlsamster Weibesseele heraus so reich zu gewähren wußte? War nicht trotzdem Lili immer wieder, selbst wachend, in seinen Träumen? Wie wahnwitzig das Verbot, an sie zu denken! Schon einmal hatte er es, in der Welt umherschießend, erfahren müssen, daß es nicht zu halten war! Auch jetzt spürte er, wie es, fast hörbar, vor ihm in Fetzen zerriß!

Was wollte er dawider machen? Er war nun einmal jetzt – er, der große Dichter Goethe! – ein Spielball seiner Empfindungen! Und wenn er sich entschließen wollte, ihrer Herr zu werden – mit der Zeit, versteht sich, mit der Zeit –, diesmal war es noch zu früh dafür! Eine tiefe Sehnsucht zog und sog an seinem Herzen und scheuchte ihn aus der ach, so liebeleeren Vaterstadt wieder von dannen.

Zu ihr hin – zu ihr!


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