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Ein Mensch fleht um Rettung ...

Für Goethe hatte die aussichtsvolle Möglichkeit, den Mann, den er vor allen anderen als seinen geistigen Lehrer und Anreger verehrte, in den Kreis weimarischer Musenfreunde einführen zu können, etwas Wohltätig-Befeuerndes. Er bewunderte in Herder die prachtvolle Zusammenfassung aller geistigen Kräfte zu einheitlich-schöpferischem Werk; die tiefe Grundlegung lebensspendender Einsichten auf dem Boden des Volkstums und der strömenden Überlieferung; die nie unterbrochene Fortarbeit fruchtbarer Ideen im Dienste einer langsam sich aufhellenden Zukunft. Mochte Herder im äußeren Verhalten mitunter jäh, launenhaft, ja ungerecht sich zeigen, in allem Wesentlichen war er eine selten starke und unbeirrbar geschlossene Persönlichkeit. Darum hielt Goethe fest und unerschütterlich zu ihm und der Gedanke, vielleicht einmal mit ihm zusammen an gemeinsamem Werke tätig sein zu dürfen, hatte etwas ungemein Verlockendes. Was würde aus dem kleinen Weimar sich gestalten lassen, wenn sie beide vereint, mit Wieland als Drittem, ihre kulturellen Aufbauideen hier ins Werk setzen würden und damit eine Saat ausstreuen könnten, die weit hinaus in deutschen Landen Fruchtkeime erzeugen und seelische Belebung und Ausweitung spenden mußte! Wenn etwas imstande sein würde, ihn an Weimar zu fesseln, so diese Berufung Herders! Karl August, so jung noch, so lenksam und vor allem so willig, bot alle Aussicht, daß er den Ehrgeiz haben würde, ihr gemeinsames Schöpferwerk in seine Obhut zu nehmen und zu hoher Verwirklichung zu führen.

Ein Zukunftsbild – kein unmögliches! Nur mit gesammelten Kräften mußte daran gearbeitet werden! Nichts durfte diese Kreise stören!

Da stand eines Morgens, als er erwachte – als seltsame Überraschung –, Jacob Lenz an seinem Lager, lachte ihn strahlend und treuherzig an, umarmte und küßte ihn.

Lenz, wie kam der auf einmal nach Weimar? Goethe mußte sich ordentlich erstaunt den Schlaf aus den Augen reiben. Niemanden weniger hätte er jetzt hier erwartet als gerade Lenz. Entschwebte da nicht, ironisch-segnend, die hehre Traumgestalt seines priesterlichen Freundes Herder?

Da saß nun also Lenz auf seinem Bett, zutraulich und brüderlich, mit starker Gegenwart. Brachte Grüße von Cornelien, die er kürzlich erst in Emmendingen besucht hatte, die »Herrlichste der Frauen«, und beschwor das halbversunkene Reich der Erinnerungen an gemeinschaftlich durchschwärmte Jugendnächte und Freundschaftsverbrüderungen. Hand in Hand vergraben, Aug' in Auge getaucht, waren sie bald aufs wunderlichste wieder beisammen, die vor einer Viertelstunde noch so weit voneinander getrennt gewesen waren. Mochte nun auch, an Stelle eines Fest-in-sich-Geschlossenen, Wegweisend-Voranschreitenden, ein Wunderlich-Zerfahrener, Phantastisch-in-die-Irre-Schweifender sich eingefunden haben, so ging doch solch ein Strom liebender Wärme von ihm aus, daß dem zu widerstreben sich verbot.

Freilich, wie abgerissen, fast heruntergekommen sah der Freund aus, der da so kindlich-ausgelassen, zuweilen unter nervösem Gelächter, zu ihm hin schwatzte. Lenz hatte die lange Strecke von Straßburg nach Weimar zu Fuß zurückgelegt: »ganz nach Handwerksburschenart«, wie er, halb verschämt, halb eitel, unter Lachen gestand. Und so waren auch seine Erlebnisse gewesen. Zumeist auf Strohmieten oder in Scheunen hatte er geschlafen, mit bissigen Hofhunden sich herumgeärgert, von Feld- und Baumfrüchten oder wohltätigen Gaben sich notdürftig genährt. Und mit solcher Vagantengesinnung war er jetzt in der kleinen herzoglichen Residenz gelandet, in der Erwartung, daß man ihn pfleglich aufnehme und als Dichter gar hofieren möge. Wo sein Herzensfreund Goethe so zum »großen Tier« avanciert war, da konnte es doch auch ihm nicht schlecht ergehen, zumal er den Herzog bereits kannte und von ihm, man kann wohl sagen, freundlich eingeladen war!

Nicht ohne Bedenklichkeit musterte Goethe Haltung und Habitus des sorglos Herbeigeschneiten. Ein Traurig-Entwurzelter, mit bleich-verwüstetem Antlitz und unstet flackernden Augen, bot sich ihm dar, halb prahlerisch, halb eingeschüchtert. Unmöglich, ihn in dieser Verfassung zu Hof gehen zu lassen, mochte man dort auch noch so vorurteilsfrei sein!

Freundlich zuredend, öfters unter burschikosen Scherzworten, suchte Goethe Lenz darauf zu bringen, daß er sich ein wenig mehr in Zucht nehmen müsse, wenn er in höfischer Gesellschaft sich blicken lassen wollte. Mit großartigen Ideen und dichterischen Aspirationen allein sei es denn doch daselbst nicht getan. Man müsse auch äußerlich etwas vorzustellen wissen. Darin wolle er Lenz gern behilflich sein, vor allem sich der Sorge annehmen, ihm mit Kleidern und Wäsche ein wenig auszuhelfen.

Worüber Lenz zunächst sich »königlich amüsierte« und Goethe wegen seines »philisterhaften Korrektheitswahrens« übermütig aufzog! Von seiner braven alten »Kluft« sich zu trennen – fast wie eine Treulosigkeit könnte ihm das erscheinen! Indes, wenn's sein mußte, warum nicht! Wenn es Goethe Spaß bereiten würde, ihn neu in Wichs zu werfen, warum sollte er ihn durch unverständigen Widerstand kränken! Und Goethe zeigte sich großzügig. Drei Häuser weiter wohnte ein erfahrener alter Jude, der hatte in seinem dunklen Kellerloch Staatsröcke und Fältelhemden, fix und fertig, auf Lager: bei dem sollte Lenz sich neu equipieren! Versteht sich, alles auf Kosten und Verantwortung des guten Freundes!

Rasch wurde ein ausgiebiges Frühstück eingenommen, und als dann Lenz sich entsprechend umgewandelt und »einen neuen Adam angezogen« hatte, blickte er nicht ohne Wohlgefälligkeit an sich herunter. In jeder Hinsicht kam er sich jetzt »sieggerüstet« vor. Er erließ es Goethe in Gnaden, sich vorerst weiter um ihn zu bemühen, und zog ganz auf eigene Faust ab, in der neuen Montierung sein Heil zu versuchen. Auch ein paar Münzen hatte sein sorglicher Mentor ihm weise zugesteckt. So mochte er also das Leben keck herausfordern!

Wie er so unternehmend dahinstiefelte, blickte ihm Goethe nicht ohne ahnungsvolle Besorgtheit nach. Lenz war ein so guter Kerl und, in all seiner oft überströmenden geistigen Beweglichkeit, ein so kindhafter Mensch, daß man ihm nur das Beste wünschen mochte. Aber er lebte zu sehr in einem Wunderlande goldener Märchenschlösser. Innerlich völlig losgebunden und phantasievoll erregt, schwelgte er dahin. So naiv, so weltverloren konnte nur ein echter Dichter schwärmen. Und war dabei stets in Gefahr, an Widerstandsblöcke anzurennen, an Unmöglichkeiten sich zu verlieren. Fast Mitleid wollte sich in Goethe regen, trübe Ahnungen drängten sich ihm auf.

Indes, Lenz hatte zunächst in Weimar einen geradezu unwahrscheinlichen Erfolg. Gerade das »Ausgefallene« seiner geistigen und körperlichen Erscheinung machte Sensation. Und das Geniehafte, das ihn umwitterte, ließ seine Unerzogenheiten und Taktlosigkeiten als Originalität erscheinen. Einige ganz Fortschrittliche fanden sogar, daß er den Doktor Goethe direkt in Schatten stellte. Seine Paradoxe wurden belacht, seine Phantastereien bewundert und beklatscht. Auch Karl August ließ sich blenden und war gegen den in all seiner Fahrigkeit manchmal so bestechenden als beistandsbedürftigen Fremdling voller Freundlichkeit.

Goethe sah sich die Dinge mit an, suchte verschiedene Unebenheiten auszugleichen, hielt sich aber im ganzen zurück. Hätte er auf Lenzens zweifelhafte Triumphe etwa eifersüchtig werden sollen? Er sah voraus, daß es bald anders kommen würde.

Und er sollte recht behalten. Nach dem ersten Rausch, den er verursacht hatte, wurde Lenz langsam zur komischen Figur, auf dessen Kosten man sich belustigte und Witze machte. Als er sich ein paarmal in übermütiger Gesellschaft gehörig betrunken und dann verrückte und ausschweifende Redensarten losgelassen hatte, war sein Kredit fast gänzlich dahin. Zumal seine oft närrische Soldatenschwärmerei, die geradezu zur fixen Idee ausartete und ihn stundenlang als eigenwilligen Korrektor auf Exerzierplätzen verweilen ließ, wurde zum Gespött. Lenz hatte da seine besonderen, doch äußerst vagen Reformideen, die mit einem extravaganten Sozialprogramm zusammenhingen und ihn bei allen realen Sachkennern als »übergeschnappt« erscheinen ließen.

Das Übelste aber war, daß er, so ganz ohne Geldmittel, wie er dastand, sich nicht entblödete, einen offenkundigen Bettel zu betreiben. Weil man ihn bestens aufgenommen und als Gast behandelt hatte, fühlte er sich als bevorzugten Liebling der Gesellschaft und wurde von Tag zu Tag anspruchsvoller. Er wollte nicht bloß »freigehalten«, er wollte nobel verpflegt und ausgestattet werden. Bald war er wegen seiner unverfrorenen Pumpversuche in weiten Kreisen verrufen. Vergebens, daß Goethe ihm hierüber Vorstellungen machte und ihm das Versprechen abnahm, sich nicht weiter bloßzustellen. Bei nächster Gelegenheit beging Lenz neue Unvorsichtigkeiten und schien es geradezu für ein Vorrecht des Genies zu halten, die Gesellschaft sich zinspflichtig zu machen.

Schon war es soweit gekommen, daß ernsthaft überlegt wurde, wie man diesen nicht ungefährlichen Kumpan auf gute Art wieder loswerden könnte, als Lenz durch eine Unbeherrschtheit, die allem die Krone aufsetzte, sich gradezu den Hals brach. Bei Hof hatte er durch seine naiv-rührsame Art, sich zu inszenieren, zumal sie nicht ohne Scharm blieb, vor allem das Herz der jungen Herzogin Luise bewegt. Sie fühlte tiefes Mitleiden mit dieser der Zerrüttung entgegenwankenden Existenz, war allen Ernstes gesonnen, sie zu retten und bewies sich deshalb äußerst gnädig gegen diesen »armen Heimatlosen«. Die Folge war, daß Lenz sich heftig in sie verliebte, ja schließlich sich einbildete, Gegenliebe erweckt zu haben. Ungezügelt wie er war, nutzte er eines Nachmittags ein Alleinsein mit der jungen Fürstin dahin aus, der Tieferschrockenen eine stammelnde Liebeserklärung zu machen und auf den Knien vor ihr einherzurutschen. Mit Mühe riß Luise sich von ihm los, und zum Unglück hatte ihr Oberhofmeister Graf Görtz, vom Nebenzimmer her, die etwas überlebhafte Unterhaltung bemerkt, hatte es für seine Pflicht gehalten einzutreten und wurde so Zeuge von Lenzens furchtbarer Entgleisung.

Eine Verheimlichung war nicht mehr möglich. Tags darauf erhielt Lenz die Ordre zugestellt, Weimar binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen.

Es war ein furchtbarer Schlag für ihn. Alle seine Luftschlösser barsten auseinander. In schlotternder Verwirrung suchte er Zurücknahme, Aufschub zu erlangen. Überall stieß er auf verschlossene Türen. Seine letzte Hoffnung blieb Goethe.

Dieser hatte mit Erschütterung den von ihm befürchteten beklagenswerten Ausgang vernommen. Der Freund tat ihm aufs tiefste leid. Aber war er selbst nicht bis zu einem gewissen Grade mitkompromittiert, da er es war, der in der Weimarer Hofgesellschaft als Lenzens Intimus und Mentor galt?

Als er am Abend jenes Tages, noch tief bewegt von einem Gespräch, das er soeben mit dem Herzog gehabt hatte, nach Hause zurückkehrte, löste sich am Tore der Deutschritterkomturei aus dem Dunkel ein Mann los, der wankend auf ihn zukam. Es war Lenz, der ihn hier, auf offener Straße, erwartet hatte.

»Wenn ich Dir noch etwas wert bin ... wenn Du überhaupt mich noch kennen magst ... möchte ich mit Dir sprechen«, murmelten verstört die Lippen des Unglücklichen.

Goethe blickte ihm ernst ins Gesicht.

»Selbstredend stehe ich zu Deiner Verfügung«, erwiderte er. »Bitte folge mir nach oben, in mein Zimmer!«

Lenz tappte hinter Goethe drein. Sein Schritt war unsicher, wie der eines Trunkenen.

Droben ließ er sich in dämmriger Ecke auf einen Schemel sinken und starrte, ein wahres Häufchen Unglück, in das trübschwelende Licht einer das Zimmer halberleuchtenden Öllampe.

Goethe trat zu ihm und legte ihm seine warme Rechte auf die in Erregung bebende Schulter.

»Du darfst mir glauben, daß ich Dein Unglück mitfühle«, sagte er. »Aber warum hast Du meine Warnungen nicht besser beherzigt? Jetzt wird es schwer sein, Dir zu raten und zu helfen.«

»Ach, alles ist ja ganz egal – ganz egal!« stieß Lenz in Zerrüttung hervor. »Ich bin ein gezeichneter Mann – alle Welt wendet sich von mir ab ...« Dann nach kurzem Brüten, jäh emporfahrend: »Was habe ich denn eigentlich so Fluchwürdiges verbrochen? Bin ich nicht ein Mensch mit eigenen Gefühlen? Darf ich nicht auch, wie tausend andere, mein Herz, meine Verehrung bekennen? Muß man gleich eine Schmutzerei dahinter wittern? Oder was denkt man auf den curulischen Stühlen sich dabei, daß man mich ohne Verhör, ohne die geringste Rücksprache, wie einen räudigen Hund aus dem Lande jagt?«

»Bist Du Dir denn immer noch nicht klar darüber«, fragte Goethe, »wie sehr Du durch Dein ganzes Verhalten Dir Deine Stellung hierzulande untergraben hast? Man war Dir doch, weiß Gott, mit der größten Freundlichkeit entgegengekommen!«

Gell lachte Lenz empor.

»Ich kenne diese Freundlichkeit!« keifte er voll Hohn. »Sie ist nichts anderes als Herablassung gegenüber einem Bettler. Nichts als schale Heuchelei gegenüber einem Armseligen, dem man gleich darauf einen Fußtritt geben wird! Tantalus an der Tafel der Götter ... so durfte ich unter diesen Hochthronenden mich wohlfühlen! Doch sie? ... Unendlich erhaben dünkten sie sich über mich, als sie über mich hinwegschritten, wie über eine verächtliche Made! ... Ihr Vorzug aber, was ist er in Wahrheit? ... Daß sie kalt sind! Daß sie herzlos sind!«

»Du verkennst völlig, in Deiner haltlosen Aufgepeitschtheit, die wahre Natur dieser Menschen!« widersprach Goethe. »Ich spreche selbstredend nicht von den Gecken und Schleichern, den Doppelzüngigen und Gleißnern, unter denen auch ich wahrlich genug zu leiden habe! Aber ich weiß auch, daß edle Menschen hier zu finden sind, wahrhaft Hochstehende, wie vor allem der Herzog selbst und seine erlauchte Mutter!«

»Du sprichst ja schon wie ein wohldressierter Höfling!« höhnte Lenz. »Ich aber sage Dir: die ganze Sippe ist nichts wert – ist ohne alles echtes Menschlichkeitsgefühl! Eine einzige allenfalls ausgenommen, aber die ist ein schwaches Lämmlein, das sich hilflos unterjochen läßt und kaum noch wagen darf, Mäh! zu sagen. – Mögen sie alle miteinander ihren Himmel für sich behalten! Und magst Du, erhabener Goethe, von ihrer Gnadensonne angelächelt, Dir als bevorzugtester aller Sterblichen vorkommen! – O, ich könnte Dich hassen! Hassen könnte ich Dich – Du Abtrünniger!«

»Ist dies das, was Du mir zu sagen hast?« zürnte Goethe. »Ich will es Deiner Zerrüttung, Deiner offenbaren Verblendung zugute halten. Sonst müßte ich Dir ohne weiteres die Türe weisen!«

»Du wirst mir bald genug die Tür gewiesen haben!« geiferte Lenz in ohnmächtigem Trotz. »Glaub mir, das ist die geringste meiner Sorgen!

Unheimlich und beängstigend rollte er die Augen. Dann keuchte er mißtönend vor sich hin und ließ sich wie zerbrochen vom Stuhl auf die Erde gleiten. Seine Stimmung schien jäh umzuschlagen.

»Ich verdiene ja freilich auch nichts anderes!« stöhnte er in sich hinein. »Ich weiß es: ein Auswurf bin ich, ein Misthaufen! – Wie lange schon bin ich mir selber zum Ekel!« Er berauschte sich jetzt an Selbstfolterungen.

Erschüttert blickte Goethe auf ihn hin, unfähig, Worte der Erwiderung zu finden. Geringschätzung rang in ihm mit erbarmendem Mitleid. Aufs tiefste quälte ihn dieses Schauspiel einer maniakalischen Selbsterniedrigung.

»O, ich elender Mensch!« lallte Lenz vor sich hin. »Ich weiß, daß ich zerbrechen werde – zerspringen, wie ein schrill platzendes Glas! Wenn es nur bald geschähe, nur bald! – Wie ein Wurm winde ich mich im Staube und flehe um Erlösung! – Um was für Erlösung? Soll der Tod mir sie bringen? Oder gibt es noch eine Gnade?« –

Leuchtete da nicht wieder, spät und verzweifelnd, in diesem von Widersprüchen Gehetzten, ein Hoffnungsfünklein, ein schmächtiges, auf? Heiß hefteten sich plötzlich, mit flehentlicher Bitte, seine Augen auf Goethe.

Unwillkürlich trat dieser einen Schritt zurück.

Lenz kroch ihm nach.

»Goethe! Wenn einer mir helfen kann, so bist Du es! – Rette mich, Goethe! Alle sind sie hinter mir her! Alle wollen sie mich vernichten! Kein Mitleid, nirgends, unter diesen Unmenschen! – Nur Du, Goethe, wirst mich verstehen! Du bist ein Dichter, der in Herzen liest. Tief in den Herzen, selbst der Verworfenen! – Tritt für mich ein, Goethe! Sage diesen Blinden und Halbblinden, wer ich bin! Ein Dichter, gleich Dir! Kein ganz so Großer, will ich annehmen. Aber doch auch kein Geringer! Gleich Dir habe ich es auf mich genommen, die Natur der menschlichen Gesellschaft zu erforschen und sie in Charakterbildern darzustellen. Nicht wahr, Bruder, dafür vermagst Du Zeugnis abzulegen? – Und dann kannst Du diesen Menschen doch klarmachen, welch furchtbares Unrecht sie an mir verüben, indem sie mich ausstoßen. Und sag ihnen: sie sollen es zurücknehmen! Sie möchten mir neue Zuflucht gewähren, und sei es selbst als unterstem Knecht! Ich weiß sonst nirgendwo einen Ort, da ich mein Haupt hinlegen könnte.« Leise wimmerte er vor sich hin.

Goethes Herz war von Schmerzen wie zerrissen. Wie unsäglich litt er, hier nicht helfen zu können! Lenzens Stellung in Weimar war unhaltbar. Und er, Goethe, hätte alles aufs Spiel gesetzt, was er an Gutem bereits erreicht hatte, was er als schöne Zukunftsmöglichkeit winken sah, wenn er versuchen würde einzugreifen. Wohl wollten weiche Regungen in ihm hochkommen. Doch er mußte sie niederkämpfen. Auf solch vages Spiel durfte er sich nicht mehr einlassen. Hart mußte er sein – auch wenn sich in seinem Innersten tausend Stacheln wider ihn selbst kehrten.

»Ich kann Dir nur raten, Lenz«, sagte er zögernd, »Dich in Geduld zu fassen, und einstweilen Dich zu entfernen! – Wie jetzt Deine Lage ist, würde ein falsches Auftrotzen den Widerspruch, die Abneigung gegen Dich nur verschärfen. Vielleicht, daß später einmal der Augenblick sich ergibt, wo man wieder für Dich eintreten kann – und daß man dann Dich zurückruft. – Dies ist die einzige Möglichkeit, die ich sehe. Zur Zeit heißt es jedoch, Dich fügen und das Kreuz auf Dich nehmen, das – Du kannst nicht widersprechen – letzten Endes Du selbst Dir aufgeladen hast.«

Wie ein getretener Hund, halb voll Demut, halb voll Ingrimm, blickte Lenz zu Goethe empor.

»Also kein Mitleid mit mir, Du Unbarmherziger!« stieß er unter Ächzen hervor. »Die Todeswunde, tief in meiner Brust, sie läßt Dich ungerührt? Du fühlst nicht, willst nicht fühlen – wer vor Dir steht: so trostlos – so trostlos – daß die Steine vor Erbarmen sich bewegen müßten! – Doch Du, in Deiner Erhabenheit, bist ja ein Unberührbarer! Alles Irdische weißt Du kalt zu überragen! – Muß denn«, brach es stürmisch aus ihm hervor, »muß denn alles, was vollkommen ist, ewig gefühllos sein? – Goethe, der Gott! – Wie darf da ein elender Sterblicher noch wagen, zu ihm emporzublicken – noch wähnen, eine Hilfe, einen Beistand von ihm zu erlangen? –«

»Weiß Gott, Lenz«, würgte Goethe aus sich hervor, »wie gern ich Dir helfen würde! Aber ich kann nicht! – Soll ich denn aller Vernunft ins Gesicht schlagen? – Mein eigener Weg ist mir klar vorgezeichnet. Es ist ein heiliger Weg und ich muß ihn beschreiten. – Ich kann Dir nicht helfen, Lenz, ich kann nicht! –«

»Du ... kannst ... nicht!« Dumpf, mechanisch murmelte Lenz ihm die Worte nach. Dann erhob er sich langsam. Blickte wie in voller Verstörtheit um sich her, vermied aber, Goethe anzuschauen. »Er kann nicht! Goethe kann nicht!« Ein krankes, krampfhaftes Gelächter brach aus ihm heraus.

Goethe stand steif. Blicklos.

»So darf ich denn gehen«, stammelte Lenz. »Was bleibt mir anderes übrig? Vielleicht habe ich noch irgendwo eine Heimat? – Vielleicht! – Aber auch dort bin ich wohl überflüssig! – Bin ich doch ein überflüssiger Mensch ... auf der ganzen Welt!«

Damit wankte er zur Tür hinaus.

Stolpernd erklangen seine Schritte draußen auf der Treppe, als könne er auf jeder Stufe stürzen. Dann ein tappendes Geschlurf unten im Flurgang. Ein Schlagen des Haustores. Stille.

Goethe stand immer noch reglos.

Von tiefem Verhängnis wie zu einer Salzsäule erstarrt.

Endlich rührte er sich leise. Ein schauerndes Frösteln kroch über ihn.

Dieses erleben zu müssen!

Sein Herz war wie zerrieben.

War er denn so fühllos?

Und hatte doch den Fühllosen spielen müssen – wo er innerlich fast zerbrochen wäre.

Öden Sinnes blickte er umher.

Lag da nicht auf der Erde ein weißes Stück Papier? Beschrieben mit ein paar Zeilen abgehackter Lettern?! Langsam hob er es auf. Lenzens Schriftzüge blickten ihm entgegen. Verse. Das Blatt mochte ihm, als er auf der Erde lag, aus der Tasche gerutscht sein. Jetzt hielt Goethe es in Händen. Nicht ohne Mühe entzifferte er:

»Aus meiner Abschiedsode.

Ich kann aufs höchste doch nur lächeln,
Mit trüben Augen nur mich freun.
Mein Atem klagt, mein letztes Röcheln
Wird auch noch eine Klage sein.
Wem[*] unter Jünglingen und Schönen
Ich ohne meine Schuld mißfiel,
Der denk': Er spielt die letzten Szenen
Von einem frühen Trauerspiel.«

Da lösten sich aus Goethes Augen Tränen. Er fühlte noch einmal mit ganzer Macht, wie sehr er Lenz dereinst geliebt hatte.


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