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Abschied von der Heimat

Es war alles fest verabredet. Karl August hatte, als er mit seiner jungen angetrauten Frau auf der Heimreise Frankfurt streifte, Goethe noch einmal aufgesucht und ihm mitgeteilt, daß in wenigen Tagen sein Kammerjunker von Kalb mit einem in Baden neugebauten Landauer vorfahren und Goethe als lieben Gast mit sich nach Weimar nehmen werde.

Nun wartete also Goethe auf Kammerjunker von Kalb. Acht Tage verstrichen, ohne daß dieser kam. Es verstrichen auch noch mehr Tage und er kam immer noch nicht. Goethe hatte, in Erwartung der Abreise, sich bereits von all seinen Bekannten verabschiedet. Sie wähnten ihn unterwegs und so mochte er von ihnen nicht wieder betroffen werden. Darum hielt er sich zu Hause in Verborgenheit. Worüber der Vater sich weidlich lustig machte. Glaubte er doch mit seiner Voraussage recht behalten zu haben, wonach Fürstenworte Schwindelworte seien. Der Sohn ließ sich indes die Laune nicht verderben und harrte ruhig weiter.

Tag für Tag saß er über seinem »Egmont«. Die erzwungene Muße kam dem Werk bestens zustatten. Keinerlei Störungen von außen entfremdeten ihn seinen Gesichten, seinen Gestalten. Er lebte mit ihnen, als seien sie sämtlich auf seiner Stube um ihn versammelt. Bangte, weinte, lachte, hoffte und jubelte mit ihnen – wie's gerade kam. Und auch wenn er nachts vermummt durch die Straßen strich, was er jetzt weniger denn je unterließ, fühlte er sich in dieser selbstgeschaffenen Gesellschaft glücklich. Er wandelte wie in Entrückung, wie in künstlichem Nebel. Und mußte sich manchmal fast zwingen, die Augen zu öffnen und in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Einmal konnte Goethe – es war schon zehn Uhr nachts geworden – der Versuchung nicht widerstehen, das Schönemannsche Haus am Kornmarkt zu umschleichen. Er hatte Licht dort erblickt und sah durch die herabgelassenen grünen Rollos hindurch Gestalten sich bewegen. Da schritt eine von ihnen, der ganzen Erscheinung nach mußte es Lili sein, zum Klavier, setzte sich dort nieder und präludierte. Hart an die Mauer gedrückt, mit pochendem Herzen, lauschte Goethe empor. Da quollen die ersten Gesangstöne empor, es war sein an Lili gerichtetes Lied:

Warum ziehst Du mich unwiderstehlich,
Ach, in jene Pracht?
War ich guter Junge nicht so selig
In der öden Nacht? – –
Träumte da von allen goldnen Stunden
Ungemischter Lust!
Ahndungsvoll hatt' ich Dein Bild empfunden,
Tief in meiner Brust.

Alle diese Strophen, so voll peinvollen Glücks, so voll seliger Plage, glitten an ihm vorüber, das Bild vergangener Zeiten in ihm weckend. Tief erschüttert aber war er – so erschüttert, daß ihm die hellen Tränen über die Backen liefen – als die Schlußzeilen des Liedes sein Ohr trafen:

Wo Du, Engel, bist, ist Lieb und Güte,
Wo Du bist, Natur!

Die ganze Schwere seines Verlustes kam ihm noch einmal drückend zu Bewußtsein. Zugleich fiel ihm jene andere Nachtstunde ein, da er zum ersten Male mit Bewußtsein vor diesem Hause gestanden hatte, und da auch damals eins seiner Lieder, ein frühes, noch in älteren Tönen befangenes, aus Lilis Munde zu ihm herniedergeschwebt kam und ihn hinaufgetrieben hatte in sein Schicksal. Das Gleichartige beider Situationen enthüllte ihm um so mehr das Verschiedenartige der seelischen Lagen. Damals so ahnungs-, so hoffnungsvoll – und heute so resigniert, so voll Entsagung! Wieder wollten ihm die Tränen kommen. Ach, er liebte ja Lili immer noch, und er mußte sich Gewalt antun, nicht ins Haus zu eilen, ins Zimmer zu dringen und vor der Singenden niederzuknien, um ihr von Anbetung zu stammeln. Eiligen Schrittes entfloh er durch die schmale, dunkle Gasse, seitlich des Hauses. Er hätte sonst der ihn bedrängenden Stimmen nicht Herr werden können.

Der Vater war unterdes immer unruhiger geworden und hatte von Tag zu Tag eindringlicher gepredigt, daß der Herzog von Weimar den Doktor Goethe aus Frankfurt nichtachtend habe aufsitzen lassen. Somit wurde im Familienrate beschlossen, daß der Sohn jedenfalls jetzt abreisen sollte. Aber nicht nach Weimar – sondern, wie der Vater es immer schon gewünscht hatte, nach Italien.

Es war mittlerweile Ende Oktober geworden, und eines frühen Morgens erhob sich Goethe aus den Federn, um die größte Reise seines bisherigen Lebens nunmehr anzutreten. Der Vater ließ ihm aus dem Bett heraus Lebewohl sagen. Die Mutter war bereits auf und umarmte den Sohn warm und innig. Als er auf die Straße trat, fühlte er sich kühl und beinahe unheimlich angeweht. Ihn fröstelte äußerlich und innerlich. Der geschlossene Schuhmacherladen nebenan blickte so fremd und tot auf ihn hin. Nur auf dem Kornmarkt, wo Lili wohnte, war bereits einiges Leben. Der Spenglersjunge machte dort rasselnd seinen Laden zurecht und begrüßte die Nachbarmagd im dämmrigen Regen. Auf den Abend, wer weiß, gingen die beiden miteinander aus! Goethe drückte sich einsam beiseite und schlich kleinlaut zum Postwagen hin, auf dem sein Gepäck bereits verladen war. Der Postillon tutete ins Horn, knallte ein paarmal kräftig mit der Peitsche – fort gings in munterem Trabe.

In Eberstadt, halbwegs Darmstadt, wurde zum ersten Male Rast gemacht. Goethe, innerlich aufgefrischt durch die wehende Spätherbstluft und durch das genossene warme Frühstück, saß da und schrieb etwas in sein mitgenommenes Tagebuch. Es war ihm ganz eigen zumute, noch einmal schweiften seine Blicke zurück.

»Lili, adieu«, schrieb er, »Lili zum zweitenmal! Das erstemal schied ich noch hoffnungsvoll, unsere Schicksale zu verbinden! Es hat sich entschieden – wir müssen einzeln unsere Rollen ausspielen. Mir ist in dem Augenblicke weder bange für Dich noch für mich, so verworren es aussieht! – Adieu –!«

Er machte eine kleine Pause im Niederschreiben. Der Schatten jener anderen war ihm nahegetreten, die zwar nur flüchtig in sein Leben getreten war, doch soviel an Liebe ihm geschenkt hatte. Tief atmete er aus bewegter Brust. Dann setzte er die Feder an und schrieb weiter.

»Und Du! wie soll ich Dich nennen, die ich wie eine Frühlingsblume am Herzen trage! Holde Blume sollst Du heißen! – Wie nehm ich Abschied von Dir? – Getrost! denn noch ist es Zeit! – – O, lebe wohl!«

Vor Bewegung konnte er nicht weiterschreiben. Ihm war, als habe er diesem liebenden Geschöpf gegenüber, das so ganz sich ihm gab, neue Schuld auf sich geladen! Gewiß, sie selbst hatte ihn fortgeschickt, hatte ihn nicht wiedersehen zu wollen vorgeschützt! Aber hatte er so schwachherzig gehorchen müssen? Wenn sie nun dennoch auf ihn gewartet hatte! »Bin ich denn nur in der Welt«, schrieb er nieder, »mich in ewiger unschuldiger Schuld zu winden – – –?«

Da blies der Postillon. Er klappte sein Buch zu, stieg ein und, an Darmstadt vorüber, gings weiter gen Heidelberg. Noch wiederholt machte er unterwegs Eintragungen in sein Tagebuch. Er tat's, um sich von sich selber abzulenken. Immer war, das Leben zu beobachten, Menschen zu studieren, Landschaften zu gewinnen, das beste Mittel dazu. Es mußte auch dieses Mal aushelfen. Wenn nur »das liebe unsichtbare Ding, das ihn leitete und schulte« – er meinte »Gott« damit – ihn gnädig in Hut nahm!

In Heidelberg machte Goethe vorläufig Halt. Er wußte, daß Kammerjunker von Kalb hier durchkommen mußte, und da er die Hoffnung auf eine Verbindung mit Weimar, seinem Vater zu Trotz, doch noch nicht aufgegeben hatte, so zog er auf der Post Erkundigungen ein und gab seine eigene Aufenthaltsadresse an. Denn er war entschlossen, in Heidelberg einige Tage zu warten.

Wen sollte er hier anders aufsuchen, als Jungfer Delph, die ihm so gern und jederzeit als Vertraute diente? Sie hatte von dem Bruch mit Lili bereits vernommen und sich darein geschickt. Sie war nicht die Person, die gescheiterten Entwürfen lange nachtrauerte. Vielmehr ging sie rasch wieder zu neuen Projekten über.

Auch jetzt hatte sie bereits wieder ein Plänchen zur Hand, das sie mit Eifer ausbaute. Es traf sich famos, daß Goethe zu Kunststädten nach Italien wollte! Er sollte sich nur tüchtig umsehen, und, wenn er zurückkehrte, konnte er dann – Jungfer Delph würde bis dahin alles vorbereitet haben – bei Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz, der mit der Kunst große Dinge im Kopf hatte, als wohlbestallter künstlerischer Beirat in Dienste treten und einer bedeutenden Laufbahn gewiß sein. Um die Knoten aber noch etwas fester zu schürzen, hatte Jungfer Delph bereits ein zweites Projekt ins Auge gefaßt, über das sie sich aber vorsichtigerweise zunächst bloß in Andeutungen erging. Immerhin führte sie Goethe gleich am ersten Abend in die Familie des Oberforstrates von Wrede ein, der eine hübsche und kluge Tochter Susanne besaß, die offenbar zu Goethes Gunsten bereits hinreichend bearbeitet war. Sie näherte sich ihm mit viel Offenheit und Zutraulichkeit, war fröhlich und unterhaltsam und machte so immerhin einigen Eindruck auf das rasch gewinnbare Gemüt des Dichters. Aber natürlich dachte er an nichts weniger als an eine dauernde Verbindung. Das war's aber gerade, worauf Jungfer Delph hinauswollte.

Indes im Buch des Schicksals war es anders beschlossen.

Als in der zweiten Nacht Goethe mit seiner scharmanten Gastgeberin in verspätetem, aber lebhaft geführtem Gespräch dasaß, tönte von der Straße her plötzlich das Signal einer Stafette. Ein Eilbrief ward heraufgebracht, von keinem andern als Herrn von Kalb, der sehr bedauerte, Goethe verfehlt zu haben und nun in Frankfurt auf ihn wartete, um in dem endlich gelieferten neuen Landauer ihn mit nach Weimar zu nehmen.

Goethe war sofort entschlossen, Folge zu leisten – sehr zum Unmute der wackeren Jungfer Delph, die sich die größte Mühe gab, ihn zurückzuhalten. Aber alle Ströme ihrer in Schleusen aufgezogenen Beredsamkeit fruchteten nichts – Goethe war nicht zu halten.

Noch in derselben Nacht fuhr er nach Frankfurt zurück, traf den weimarischen Hofjunker im »Römischen Kaiser« und fuhr eine Stunde später, ohne auch nur seinen Eltern nochmals Lebewohl geboten zu haben, in gehetztestem Eiltempo weiter – neuen Lebenseindrücken, neuen Entscheidungen entgegen!


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