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Hochzeitsgewitter

Im Andréschen Hause herrschte eifriges Treiben. In wenigen Tagen sollte Hochzeit gefeiert werden: Pfarrer Ewald heiratete die blitzäugige Rahel du Fay! Dazu hatte Goethe ein »Bundeslied« gedichtet, das von André vertont worden war und in einem Quartett zum Vortrag gebracht werden sollte. Mit Feuereifer widmete sich der Komponist der Einstudierung. Außer ihm selbst und seiner Gattin, der munteren Annemine, die, trotz ihrer bevorstehenden Entbindung von ihrem dritten Kinde, wacker mittat, war Goethe zum Mitsingen herangezogen worden, und als vierte und Hauptkraft wegen ihrer hellschmetternden Sopranstimme – Lili.

Dies hatte Goethe zunächst einen kleinen Herzstoß gegeben. So kam er durch diese Quartettproben wieder regelmäßig mit Lili zusammen – und spürte sofort aufs neue die Wirkung, die sie auf ihn ausübte.

Lili, in ihrer gesellschaftlichen Wohlgeschultheit, verstand es, über alle Verstimmungen, die ihr natürlich nicht verborgen blieben, gewandt hinwegzugleiten. Sie war lieb und freundlich und brachte die Audréschen Eheleute, da sie mit deren Kindern reizend zu spielen verstand, alsbald zum Schwärmen. Sollte da Goethe, Lilis »deklarierter« Bräutigam, etwa schmollen und abseitsstehen? Bloß weil er seiner Zwitterstimmungen nicht Herr werden konnte? Wie albern hätte das ausgesehen! So zeigte auch er sich liebenswürdig und heiter, und weil er schnell in Stimmung kam, so sprudelte er bald über vor Munterkeit und Unterhaltsamkeit.

So kam der Vermählungstag heran und alles war in richtiger Feierstimmung. Es war der zehnte September, ein Sonntag. Das Hochzeitsmahl zu bestellen, hatte, aus besonderer Freundschaft für Pfarrer Ewald, das d'Orvillesche Haus übernommen und auch hier war Lili eifrig beschäftigt. Aber auch die ganze Ortschaft feierte mit. Schon in der Frühe gab es für das Brautpaar ein Trompetenständchen. Es wurde zwar nicht durchweg richtig geblasen, aber die ernste Mühe, die die braven Dorfburschen sich gaben, kam unter den rotschwitzenden Gesichtern so ehrlich zum Vorschein, daß alle falschen Töne gleichsam von der Harmonie der Herzen verschlungen wurden. Einige Buben aber hatten es sich trotz Verbotes nicht nehmen lassen, Böllerschüsse abzubrennen. Doch außer ein paar verbrannten Fingern war nichts weiter dabei zu beklagen. Das junge Paar jedenfalls war über all die dargebrachte Liebe, und nicht zuletzt über die vielen Blumenspenden, bis zu Tränen gerührt.

Einen vorübergehenden, nicht von allen bemerkten Mißklang gab es nur um Mittag, bei der kirchlichen Trauung. Dort fehlte nämlich Goethe. Der war um diese Zeit auf kurzer Visite bei Lottchen Nagel. Er hatte dem neugierigen Mädel das Versprechen abgelegt, sich im hochzeitlichen Festgewande ihr zu zeigen. Das Staunen und Betrachten des guten Kindes, das vor Stolz und Freude sich kaum zu lassen wußte, bereitete ihm ein innerstes Ergötzen und prägte sich ihm wohltuend ein. Er hatte auch wirklich an jenem Tage ein besonders strahlendes Aussehen, nachdem die Spannungen, unter denen er soviel gelitten hatte, in letzter Zeit ein wenig nachgelassen hatten.

Auf der großen Gartenterrasse des d'Orvilleschen Hauses versammelten sich mittlerweile die Festgäste. Vierzig bis fünfzig an der Zahl, alle nach bestem Vermögen herausgeputzt. Lili erschien wieder in großer Gala, schlohweiß gepudert und mit Schönheitspflästerchen. Dementsprechend war auch ihr Benehmen steifer und gezierter als sonst. Auch ihre Mutter war anwesend, gleichsam eine Wolke von Vornehmheit um sich verbreitend und gegen Goethe von herablassender Zugeknöpftheit. Da zeigte sich Frau Dorothee d'Orville, mit der sich in Offenbach ein beinahe kameradschaftliches Verhältnis herausgebildet hatte, immerhin familiärer und natürlicher.

Goethe gab sich Mühe, über derlei Eindrücke hinwegzukommen. Er wollte heute teilnehmend und fröhlich und vor allem nicht Spielverderber sein. Schon um des jungen Paares willen, das er aufrichtig ins Herz geschlossen hatte! Er trug auch Sorge dafür, daß die Hochzeitsgesellschaft nicht gar zu abgeschlossen wirkte. Draußen an den Gartenzäunen standen Dutzende ungeladener und freiwilliger Festgenossen umher und blickten voll Neugierde und Verlangen auf die Tafelnden da oben. Die Untenstehenden aber sollten und durften nicht leer ausgehen. Es gab genug Überreste an Speisen und Trank, mit denen man diese Armen erfreuen konnte. Auf Goethes Verwenden ließ die Hausherrin es zu, daß diese Zaungäste nicht gar zu knapp mitbedacht wurden. Manch fröhlich sprudelndes Hoch! klang von dort, aus gelabten Kehlen, zum wachsenden Gaudium der geputzten Tischgesellschaft herüber.

Den Höhepunkt der Feier bildete dann der Vortrag des Andréschen Quartetts mit den Goetheschen Versstrophen.

Zu allen guten Stunden,
Erhöht von Lieb und Wein,
Soll dieses Lied verbunden
Von uns gesungen sein.

So schallte es über den Garten hin und in die weite Mainlandschaft hinein. Es war nur von Freude, Wein, Küssen, Brudersinn und trauter Geselligkeit darin zu hören. Grillen und Sorgen schien es auf der ganzen Welt nicht mehr zu geben. Etwas erkünstelt und darum farblos, hatte Goethe sich das abgerungen, zu einer Zeit, als ihm im Grunde ganz anders ums Herz war. Jetzt suchte er in diese Stimmung mit einer Art von Furioso sich hinaufzuschrauben. Neben ihm stand Lili, ganz von ihrer Aufgabe erfüllt, und ließ ihre hellen, hohen Kehltöne mit solch naiver Freude in die durchsonnten Lüfte hinausperlen, daß Goethe im Mitsingen sich förmlich daran berauschte. Alle Geziertheit, alle steife Reserve waren jetzt von Lili abgefallen. Sie sang wie ein Naturkind, wie ein Vogel, aus innerstem Bewegen, mit schmetternder Lust. Das wirkte ansteckend auf alle. Und so wurden die Quartettsänger mit Jubel beklatscht, und zumal Ewald und die strahlende Rahel waren außer sich vor Freude, traten heran und drückten jedem einzelnen der Sänger die Hand.

Goethe fühlte in diesen Augenblicken nur Lili. Ihre geringste nachbarliche Berührung ließ ihn in Wonne aufbeben. Wie in holdselige Benebelung war er hineingerissen. Doch Lili selbst nahm nicht das mindeste davon wahr. Im Gegenteil, nach gesungenem Quartett wendete sie sich gedankenlos von ihm ab und war ganz wieder Gesellschaftsdämchen, das sich unter die übrige Gesellschaft huldvoll mischte.

Wie mit Bleischwere festgehalten, blieb Goethe stehen, wo er stand. Nicht einmal mit Augen hinter Lili herzuschweifen, brachte er über sich. In dem Grade fühlte er sich jählings vereinsamt. Die anderen drängten sich, fröhlich schwatzend, in Hausnähe zusammen. Und immer wieder lachte Lilis helle Zwitscherstimme aus dem Haufen hervor. Goethe aber stand, von allen abgesprengt, auf dem Kiesweg am Rasenrand. Er litt in diesem Augenblick unsäglich.

Während der Mahlzeit hatte er ziemlich gut dem Weine zugesprochen. Das rumorte jetzt in seinem Kopf und stimmte ihn unruhig. Plötzlich fühlte er, beinahe körperlich, wie zwei dunkle Augen vom Zaun her zu ihm herüberloderten. Dort stand Lotte Nagel und suchte ihn mit ihren Blicken. Fast heftig wandte er sich ab.

Er mochte, er konnte jetzt Lotte nicht bemerken. Sollte er sich bis zur Unbeherrschtheit verwirren lassen?

Zu Lili strebte er hin. Umgeben von Courmachern und über die Maßen aufgeräumt, bemerkte sie sein Nähertreten nicht. Nahm jedenfalls keinerlei Notiz davon. Hingegen sprach Johann André ihn an und verwickelte ihn alsbald in ein Gespräch über Musik. Goethe ließ sich hineinziehen, obgleich ihm in diesem Moment nichts gleichgültiger war als dieses. Um so mehr ereiferte er sich, stellte kühne Behauptungen auf, die er nur halb-ernsthaft meinte, aber mit Freude an Paradoxie und fast mit Erbitterung verfocht. Auf einmal lauschte alles auf ihn hin. Gleich als stände er auf einem Podium, sprach er lebhaft und eindrucksvoll, um Beifall buhlend. Er fand auch welchen, zumal bei jüngeren Leuten; doch freute ihn noch mehr der erzürnte Widerspruch, zu dem alte Perücken sich hinreißen ließen. Nur daß Lili sich gänzlich teilnahmlos zeigte, ärgerte ihn. Sie stand da und lächelte mitleidig. Sie schien das Komödiantische, das ihn befallen hatte, zu durchschauen.

Jählings brach er ab. Ging auf weitere Herausforderungen gar nicht mehr ein. Zeigte sich vielmehr unwirsch und eher geneigt, das, was er so dreist behauptet und so hitzig verteidigt hatte, fallen zu lassen oder gar zurückzunehmen. War er plötzlich verrückt geworden? Jedenfalls wußten die Menschen nicht mehr, was sie mit ihm anfangen sollten, und wandten sich ab.

Langsam hatte sich der Himmel mit grauen Wolkengespinsten überzogen und ganz in der Ferne wetterleuchtete und grollte es. Der Abend war nicht mehr fern. Die Gäste zogen sich nach und nach ins Hausinnere zurück. Goethe aber verstand es, sich heimlich zu entfernen. Seinen Mantel umgeschlagen, pilgerte er aus der Ortschaft heraus und stand bald mutterseelenallein auf freiem Felde.

Das Gewitter war langsam näher gekommen, dicke Tropfen schlugen um ihn her, Blitze zuckten, von nahen Schlägen begleitet. An die Wand einer Scheune gedrückt, nur notdürftig von dem überhangenden Dache geschützt, starrte Goethe in das sich entladende Unwetter. Er fühlte das Spuken des Gewitters in sich, seine Nerven vibrierten. Aber er mußte jetzt ausharren, weit und breit gab es keinen anderen Schutz.

Bald goß es in vollen Strömen. Mantel und Kleider waren durchnäßt. Es schudderte ihn über die ganze Haut, als sei sie in Nacktheit entblößt. Ganz aus der Ferne klang immer noch das Summen der Hochzeitfeiernden herüber, grüßten durch das Dunkel erleuchtete Fenster. Doch bei jedem Blitzschlag schien alles zu versinken und der rollende Donner vergrub jeden anderen Laut. Goethe stand im Toben der Elemente und starrte in das von Flutströmen zerrissene Dunkel.

Doch schnell, wie das Gewitter sich entladen hatte, zog es auch wieder von dannen. Fast wie mit einem Schlage hörte der Regen auf. Es tropfte nur noch vom Scheunendache hernieder. Goethe verließ seinen Schutzort und trat ins Freie hinaus. Wie köstlich war der Atem der Natur, der ihm in voller Frische entgegenschlug! Die Felder dufteten und dampften. Vogelzirpen lag in den Lüften. Und das Grollen des abziehenden Unwetters war wie verhallendes Orgelbrausen, das den hohen Raum eines Domes durchzittert.

Goethe schritt langsam und wie taumelnd umher. Unter einer breitastigen Linde machte er halt. Er wollte nicht wieder unter Menschen gehen. Am wenigsten Lili noch einmal treffen. Ihre Gegenwart hätte ihn bloß verstimmen können. Tiefer und inniger liebte er sie – aus der Entfernung! Den Gedanken an sie – den Traum von ihr! Ach, den hatte er nun viele Monate lang mit sich herumgetragen. Und fühlte jetzt innerste Herzensangst, daß ihm bald all' diese gepflegte Seligkeit unwiederbringlich zerrinnen möchte.

Aus dem d'Orvilleschen Garten klang der Ton eines Waldhorns empor. Dunkel, schmelzend, voller Sehnsucht. Es war, als griffen die Töne nach seinem Herzen, brünstig, voll Verlangen ihn umkreisend. Doch er rührte sich nicht. Nur leise, langsam flossen breite Tränenströme sickernd über seine reglosen Wangen.

O Welt! O Rätsel! O ewige Wirrnis der Liebe!


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