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Hundert Kerzen flammen auf!

Die beiden nächtlichen Wanderer standen vor einem patrizisch auf sie niederblickenden hochgegiebelten Hause, aus dessen erstem Stockwerk heller Lichterschein und fröhliches Stimmengewirr gedämpft herniederdrangen.

Goethe wollte sich empfehlen, als Kraus ihn zurückhielt.

»Sei doch nicht so spröde! Ich verspreche Dir gute Unterhaltung. – Komm mit und begrüße in Heiterkeit das neue Jahr!«

Goethe winkte ab.

»Mir steht der Sinn nicht danach. Ich möchte lieber ...« Plötzlich hielt er inne und lauschte empor. Langsam begannen seine Gesichtszüge sich zu erhellen.

Droben waren die spitzen, hellen Töne eines Spinetts angeschlagen worden. Dazu erklang jetzt eine noch zage und fast kindhafte, doch ungemein liebliche Mädchenstimme. Was war das für ein Liedchen, das melodisch herniederschwebte? Die Töne und mehr noch die Worte klangen sehr bekannt. Waren das nicht Verse, die er selbst, vor wenigen Jahren, in liebender Verzücktheit hervorgestammelt hatte?

Kleine Blumen, kleine Blätter
Streuen mir mit leichter Hand
Gute junge Frühlingsgötter
Tändelnd auf ein duftig Band.

Eine wundersame Wandlung war in Goethe vor sich gegangen. Heiß und leidenschaftlich drückte er seinem Freunde die Hand.

»Geschwind!« drängte er. »Gehen wir hinauf! Die so singt, ich muß sie sehen!«

Er hatte das breite Haustor aufgestoßen und betrat jetzt den von mattem Laternenschein unstet umflatterten Vorflur. Kraus hinter sich herziehend, stapfte er die breite, patriarchalische Holztreppe empor, wie seines Weges völlig sicher. Hurtig riß er den Mantel ab und faßte unternehmend nach dem Korb seines zierlichen Galanteriedegens. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Sich hastig umwendend, flüsterte er seinem Freunde zu: »Ich heiße Doktor Huber!«, warf dem sie bewillkommnenden Diener mit vornehmem Schwung die Straßenkleider zu und betrat, den Dreispitz unterm Arm, als die Flügeltür sich vor ihm öffnete, in voller Unbefangenheit einen in hellem Kerzenlicht erstrahlenden Salon. Eine elegant gekleidete Gesellschaft war lautlos dort versammelt, ganz dem Anhören des vorgetragenen Liedes hingegeben.

Erstaunte Blicke kehrten sich dem Unbekannten zu, während andere Maler Kraus vertraulich zunickten.

Die fremden Menschen konnten Goethe wenig behelligen. Er hatte nur Augen für die graziöse Gestalt der neben dem Spinett stehenden blutjungen Sängerin, deren anmutig aufgestecktes Haar, unter leichter Puderbedeckung, das ursprüngliche Blond mild hervorstrahlen ließ. Auch sie schien den leise eingetretenen Fremdling mit flüchtigem Blick wahrzunehmen – ein rosiger Hauch der Verlegenheit flog über ihr liebliches Antlitz – doch, ohne sich stören zu lassen, brachte sie beherzt ihren Liedvortrag zum Abschluß.

Fühle, was dies Herz empfindet,
Reiche frei mir Deine Hand!
Und das Band, das uns verbindet,
Sei kein schwaches Rosenband!

Reicher Applaus von allen Seiten belohnte die mit hurtigem Knixen anmutvoll dankende junge Dame. Doch schien sie die besondere Huldigung eines fast aufdringlich auf sie zueilenden jungen Herrn wenig zu beachten. Ihre neugierigen Augen schweiften vielmehr zu ihrer in der Mitte des Kanapees zwischen zwei alten Tanten thronenden Mutter hinüber, vor der der interessante Eindringling soeben von Maler Kraus als irgendein »Doktor Huber« präsentiert wurde. Aber trotz des unbedeutenden Namens schien der sicher auftretende junge Herr in den Augen der gestrengen Mama Schönemann bestens zu passieren. Sie lächelte ihn ungemein huldvoll an, nahm gnädig einen exakt ausgeführten Handkuß entgegen und winkte dann ihre Tochter »Liese« herbei, um ihr den neuen Gast gleichfalls zu präsentieren.

Goethe stand dem schönen blonden Mädchen gegenüber. Und während die Lippen, wie die Höflichkeit es forderte, ein paar abgezirkelte Komplimente murmelten, versenkten die Augen sich in die mit anmutigem Kopfneigen dankende Gestalt der ziervollen Erscheinung. Welch reine entzückende Natürlichkeit lugte da hinter einer gesellschaftlich zurechtgestutzten Wohlerzogenheit hervor! Für den Dichter war die künstliche äußere Schale wesenslos. Divinatorisch erschloß sich ihm die knospenhafte Schönheit einer jugendlichen Mädchenblüte, wie er sie in solch berückender Unschuld und Lieblichkeit noch niemals glaubte wahrgenommen zu haben. Als aber gar die Schöne die Augen aufschlug und mit einem wonnig-klaren Blick ihrer veilchenblauen Sterne ihm entgegenstrahlte, fühlte er solch starke innere Bewegung, daß er mit Mühe an sich halten mußte, um in den gebotenen Formen rein gesellschaftlicher Artigkeit zu verharren. So ungestüm hämmerte es in ihm, daß er am liebsten wie ein Urmensch seine selige Überraschung hinausgeschrien, das berauschende Geschöpf mit seinen Armen ergriffen und gleichsam, als seine Beute, hinausgetragen hätte. Kaum wußte er, was er sprach, noch was er hörte. Er lauschte nur entzückt dem silberhellen Klang der ungetrübten Mädchenstimme, die mit Glöckchenreinheit verwirrend an sein Ohr schlug.

Doch, es wäre unschicklich gewesen, als Neueingeführter der Gesellschaft sogleich die Haustochter gleichsam mit Beschlag zu belegen. Wie ein mahnender Engel war Freund Kraus neben ihm aufgetaucht, faßte ihn am Ärmel, zog ihn hinweg und stellte den Widerstandslosen, nur mit einiger Mühe sich Sammelnden, noch einer Reihe weiterer Persönlichkeiten, als seinen Freund Dr. Huber, vor. Goethe vernahm lauter Namen, die in der Frankfurter Gesellschaft vornehmen Klang hatten, und blickte in selbstbewußte, wohlgenährte, doch leider recht dutzendmäßige Gesichter. Es wimmelte von würdevoll herausstaffierten Onkeln und Tanten, die mit abgemessener Gnädigkeit, einige konventionell zuvorkommend, andere hochnäsig-herablassend, seine Begrüßung entgegennahmen. Auch die jüngeren Herrschaften gefielen sich zumeist in gespreiztem Getue, wofern sie nicht wie ein gewisser Herr Jacques Manskopf, Direktorial-Adjunkt beim städtischen Magistrat – derselbe, der vorhin Fräulein Liese so aufdringlich applaudiert hatte – eine wenig angebrachte Betulichkeit an den Tag legten. Goethe fühlte sich unbehaglich und wie unter lauter Fremden, die ihn nicht das mindeste angingen. Wäre nicht das schöne blonde Mädchen gewesen, das ihn so gefesselt hätte, er wäre am liebsten gleich wieder auf und davon gegangen.

Unwillkürlich suchte er sie mit seinen Augen. Da stand sie in einem Kreise schwatzender Nichtse, lächelte bezaubernd vor sich hin, und ließ gleich ihm die Augen unbeachtet umhergehen, bis sie mit den seinen sich verfingen. Ein rascher Blick, ein verstehender Gruß – dann kehrten sich die Augen wieder ab.

Soviel hätten sie einander zu sagen gehabt. Doch in dieser Umgebung war dies nicht möglich. So begaben sie sich in eine Unterhaltung über Musik. Und waren beiderseits begeistert, schon auf diesem Gebiete einander gleichfühlend zu begegnen. Im Nu waren sie miteinander einig, daß man den so vielgefeierten und verhätschelten Georg Wilhelm Telemann, für den die Mütter schwärmten und der eine Frankfurter Lokalgröße war, kaum noch anhören konnte. Am schönsten und ursprünglichsten war doch eigentlich stets die italienische Musik. Aber da war nun das neue deutsche Originalgenie aufgetaucht, das es dreist mit jedem Italiener aufnehmen konnte, dieser entzückende junge Wiener oder Salzburger, der Wolfgang Amadée Mozart – ach, für den mußte man unbedingt schwärmen! Fräulein Liese Schönemann wurde ganz warm, wenn sie von ihm sprach. Sie kannte auch bereits Liedchen von ihm und sang sie besonders gern. Eines stammte von demselben jungen Dichter, von dem sie vorhin eines gesungen hatte. Da bat Goethe sie, warm und innig, doch auch dieses Lied noch freundlichst vortragen zu wollen. Er habe gleichfalls von dem jungen Dichter bereits gehört; es solle eine ganz ansprechende Begabung sein.

»Es ist ein Hiesiger«, ertönte neben ihnen eine selbstgefällige Meckerstimme. Schau an, abermals der, wie es schien, unvermeidliche Herr Jaques Manskopf, der, als ein weitläufiger Cousin des Hauses, sich besondere Wichtigkeit beizumessen schien! Gleich bot dieser sich an, den neuen Liedervortrag zu inszenieren. Geflissentlich holte er den braven Onkel Bernard herbei, um seine Nichte zu »accompagnieren«, und ließ es sich nicht nehmen, zuvorkommend den Flügel des Spinetts eigenhändig aufzuklappen.

Goethe blickte darüber hinweg und hing mit seinen Augen desto mehr an jeder Bewegung der anmutvollen Blondine, wie sie zum Instrument hinschritt; wie sie mit leiser Hand in den Noten blätterte; sich dann mit ihrem Partner flüchtig verständigte; und nun in heiterer Natürlichkeit dastand, um zu beginnen.

O süße, kleine, helle Stimme, die wie aus einer Vogelkehle emporflatterte und den ganzen Raum mit Wonne erfüllte!

Goethe stand wie gebannt, obwohl innerlich aufs tiefste gerührt. Ja, das waren abermals seine Worte. Doch sie wehten wie von weit, weit her zu ihm herüber.

Ein Veilchen auf der Wiese stand,
Gebückt in sich und unbekannt,
Es war ein herzig Veilchen.

Hatte er wirklich einmal in solchen Empfindungen geschwelgt? Nun erschien ihm eher die Sängerin als holdes, herziges Veilchen, das um seinen Duft und um seine Schönheit nicht wußte und dennoch alle Welt damit beglückte. Ganz weh wurde ihm zumute, als das liebe Veilchen sich von den Füßen der übermütigen jungen Schäferin demütig zertreten ließ.

Die Gesellschaft hatte zum Teil nur zerstreut zugehört. Einige hatten die Köpfe zusammengesteckt und geflüstert. Nach dem üblichen Beifallklatschen trat eine etwas betretene Pause ein. Goethe fühlte, wie Blicke auf ihn gerichtet waren, als er, nicht völlig frei, auf Demoiselle Schönemann zutrat, deren Hand ergriff und, in unwillkürlich dankbarer Rührung, diese mit den Lippen berührte.

»Sollte der Dichter des Liedes nicht zufällig in unserer Mitte weilen?« hörte er plötzlich fragen.

Als er sich umkehrte, begegnete er dem forschenden, doch nicht unfreundlich auf ihn gerichteten Blick des Onkels Bernard.

Einen Augenblick lang erschrak er. Dann, einen Schritt vortretend, verbeugte er sich leicht und sagte, nun mit voller Unbefangenheit:

»Ja, ich bin es, Doktor Goethe.«

Ein Wispern entstand, »Der Dichter des Werther!« »Des Götz von Berlichingen!« »Von dem soviel Gerede gemacht wird, – soviel Spektakel!« Und scheue Blicke musterten das eingedrungene Wundertier.

Mama Schönemann aber ging beherzt auf Goethe zu, schüttelte ihm die Hand und versetzte lachend:

»Eigentlich sollte ich ja schmollen über die Mystifikation, die man sich in meinem Hause mit mir erlaubt hat. Weil aber der vielgenannte Dichter Goethe ein so manierlicher und höflicher junger Manu ist und aus ehrenwerter Frankfurter Familie stammt, wollen wir ihn herzlich willkommen heißen.«

»Ich bin glücklich, Madame«, stammelte der Angeredete und drückte auf die Hand der freundlichen Gastspenderin einen heißen Dankeskuß, bis sich diese solch feuriger Huldigung lächelnd entzog.

Jovial trat nun auch Onkel Bernard auf Goethe zu und schüttelte ihm die Hand.

»Also, Herr Dichter, ich bin ein wenig Musiker, ein ganz kleiner nur, immerhin auch sozusagen ein Musensohn, und weiß darum die Ehre doppelt zu schätzen, einen so verheißungsvollen und, ich wage das Wort: berühmten – jungen Poeten in unserem Kreise zu begrüßen.«

Es kamen auch noch andere heran, die Berühmtheit näher zu begucken und sich selbst dabei aufzuspielen. Doch was kümmerten den jungen Dichter diese zudringlichen Menschen? Was kümmerten ihn erst recht jene anderen, die fernblieben, in den Ecken standen und scheele Blicke zu ihm hinwarfen? Er sah sie alle gar nicht. Er sah nur die eine, die von Anfang an seine Blicke gefesselt hatte und von der er etwas wie scheues, feines Einverständnis ihm entgegenatmen spürte. Unwillkürlich suchte er sie immer wieder auf, und auch sie, obwohl befangener als vorher, wich seiner Nähe nicht aus. Mit geisterhaft feinem Unterscheidungsvermögen glaubte er gleichsam ihr klopfendes Herzchen zu hören.

Mit fröhlichem Ah! begrüßt, wurde eine dampfende Punschbowle in den Salon getragen und die Hausfrau selbst stellte sich dabei auf und schöpfte mit einem silbernen Schöpflöffel in die hingestreckten Gläser. Alle drängten sich munter zu.

»Jetzt aufgepaßt, meine Herrschaften! In wenigen Minuten ist Mitternacht. Dann begrüßen wir alle miteinander das neue Jahr. Möge 1775 uns allen recht viel Schönes bringen!«

Die frische Stimme war kaum verhallt, da dröhnten schon von der nahen Katharinenkirche zwölf dunkle, bedächtige Schläge, die ehrfürchtig mitgezählt wurden. Goethe stand neben der lieblichen Haustochter, deren Wangen sich in kindlicher Erwartung hochrot gefärbt hatten. Und als er beim letzten Glockenschlage mit ihr anstieß, da war ihm, als ob in seinem Herzen etwas Schicksalhaftes sich rege und als ob er seinem Stern dankbar sein dürfe, für dasjenige, was er ihm zum kommenden Jahre als Verheißung aufsteigen ließ.


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