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Halbnaturen und Vollnaturen

Vier Tage später traf Goethe wieder in Zürich ein. Er war so vollgesogen mit großer Natur, so im Innersten ausgefüllt mit heimlicher Liebeserwartung, daß ihn gar wenig nach Umgang mit Menschen gelüstete. Zudem regnete es in Strömen. Da war es gut, daheim zu bleiben, in dem gastlichen Hause Lavaters, der ihn mit unveränderter herzlich-warmer Freundschaft empfing. Goethe entwarf begeisterte Schilderungen von den Herrlichkeiten seiner Alpenfahrt, und Lavater und sein Anneli saßen da mit leuchtenden Augen und lauschten ihm, stolz darauf, ihre Heimat aus dichterischem Munde so gepriesen zu hören. Gern machte sich auch Goethe, über Hunderte von Silhouettenblätter gebückt, zusammen mit dem Freunde über ihre gemeinsamen physiognomischen Studien her. Und beide waren unermüdlich, aus den Schattenrissen von Köpfen menschliche Charaktere und Eigenarten, auch wohl seltsame Schicksalsmöglichkeiten herauszulesen.

In einer gemütlichen Abendstunde wußte Frau Anneli allerhand zu erzählen von dem Eindruck, den Goethe bei seinem ersten Zürich-Besuche bei den dortigen Vertretern der »anmutigen Gelehrsamkeit« hinterlassen hatte. So weltfremd Lavater in diesen Dingen war, so vortrefflich verstand es sein »Wibeli«, bei den Leuten herumzuhorchen und so herauszukriegen, was die umgebende Welt eigentlich dachte. Man war also auf Goethe riesig gespannt gewesen. Aber – man hatte ihn sich »anders« vorgestellt! Sozusagen: verschwärmter, gefühlvoller, »brüderlicher«. Kurz und gut, man fand ihn – hochmütig! Ihm stehe der Übermut an der Stirn geschrieben, lautete das Urteil der literarischen Fachgenossen. Er bezeige nur wenig Respekt vor fremdem Geistesverdienst, erledige gern alles mit einer knappen Handbewegung und urteile über Leute und Dinge, ohne sie näher zu kennen.

»Donnerwetter!« sagte Goethe und legte sich lachend zurück.

Frau Anneli hatte dies alles so munter und lustig vorgetragen, daß eigentlich nur das Spaßige daran zurückblieb und der Stachel, der dahinter steckte, kaum zu spüren war.

Immerhin suchte Goethe sich zu verteidigen.

»Meine Schuld«, rief er, »ist's gewiß nicht, daß ich denen Kerls und ihren schiefen Mündern gleich anspüre, was sie für Geisteskinder sind. In einer Stadt, wo, wie Du sagst, achthundert Menschen am Leben sind, die etwas haben drucken lassen, muß sich ja eine Inzucht von gegenseitiger geistiger Befruchtung erzeugt haben, die direkt an Stickluft grenzt. Und muß in solcher Atmosphäre durchschmauchter Wochenschriften und gelehrter Zeitungen nicht jeder vernünftige Mensch gleich von Sinnen kommen?

»Trotzdem, wo Du wieder hier bist, solltest Du doch wohl neuerdings den Leuten Dich zeigen: das beruhigt die Gemüter!« meinte der friedfertige Lavater.

»Wir sollten doch unseren Freund mal zu unserer lieben Bäbe Schultheß bringen!« meinte Anneli ratsam. »Ich weiß, die würde sich riesig freuen und ist doch eine prächtige Frau.«

»Bäbe Schultheß?« rief Goethe. »Mit der habe ich schon Briefe gewechselt! Ja, die möchte ich kennenlernen! Klingt doch jedes Wort so einfach und grade, das sie schreibt. Auch ist sie gewiß keine Literatin!«

»Nein, das ist sie wahrlich nicht!« lachte Lavater. »Sie liebt zwar die Dichter – nämlich, die ihr zusagen! – aber sie selbst macht nichts weniger als gedrechselte Worte! Nur: ich meine, sie steht doch kurz vor ihrer Niederkunft!«

»Ja, sie erwartet ihr fünftes Kind«, bestätigte Anneli. »Aber das macht bei der Bäbe nichts. Darum wird sie sich vor dem Goethe nicht genieren. Sie hat sich sogar gewundert, daß er noch nicht 'kommen ist!«

»Also, Bäbe wird aufgesucht!« entschied Goethe. »Gleich morgen geh' ich zu ihr hin!«

Und es gab in der Tat eine herzliche Berührung. Ein Vollmensch! fühlte Goethe. Und das gleiche schien auch Frau Bäbe zu fühlen. Schranken zwischen den beiden waren von vornherein nicht spürbar. Ein Blick gegenseitig in die hellen Augen, ein kräftiges Händeschütteln – und sie waren Freunde! Die Last ihres zu erwartenden Kindes – das eine Woche später das Licht der Welt erblickte – trug Frau Schultheß mit soviel Würde und fröhlicher Selbstverständlichkeit, daß ordentlich ein Glanz daher über ihre ganze kräftige Volkserscheinung glitt. Sie zählte dreißig Jahre, also vier Jahre mehr als Goethe, und war im übrigen vor allem Mutter, Hausfrau und Schweizer Bürgerin. Eine Männin, nannte sie Lavater. Aber das wollte Goethe nicht gelten lassen. Für ihn war Barbara Schultheß vor allem und in erster Linie: Weib! Und zwar im Sinne eines vollen und rückhaltlosen Vertrauens. »Ihr kann man alles sagen – und sie wird alles verstehen: rascher und instinktiver und vollständiger als je irgendein Mann.«

Als Goethe, höchst befriedigt von dieser neuen Bekanntschaft, mit Lavater nach Hause ging, machte dieser ihm einen neuen Vorschlag.

Da lebte, nicht weit von Zürich, auf seinem Pachtgut, Katzenrütihof am Katzensee, ein alter Bauer, Jakob Gujer, der aber allgemein nur der Chly-Jogg, das ist: der kleine Jakob, genannt wurde. Das war ein wahres Original und wurde von seinen gebildeten Freunden der »bäuerliche Sokrates« genannt. Den suchten alle auf, die die Züricher »Berühmtheiten« kennenlernen wollten, selbst fürstliche Persönlichkeiten. Erst voriges Jahr war der Prinz Eugen von Württemberg bei Chly-Jogg gewesen und hatte ihm geradezu seine Ehrfurcht bezeugt. »Ich steige nicht zu Dir hinunter, ich steige zu Dir hinauf«, hatte er gesagt. »Du bist besser als ich.«

Goethe fühlte unwillkürlich ein Mißtrauen in sich aufsteigen. »Wenn das nur nichts Absichtsvoll-Zurechtgemachtes ist!« sagte er. »So ein moralisch-philosophischer Bauer in Reinkultur! Weiß nicht, ob derlei gezüchtetes Original nach meinem Geschmack ist.«

»Warten wir ab!« meinte Lavater. »Die Grafen Stolberg haben auch schon vom Chly-Jogg gehört und brennen darauf, seine Bekanntschaft zu machen. Ich denke, wir schließen uns ihnen gleich morgen an! – Übrigens, vielleicht erinnerst Du Dich, Goethe: Der Chly-Jogg hat auch mal einen Brief an Herder geschrieben, der diesem tiefen Eindruck gemacht hat: nämlich über dessen »Älteste Urkunde des Menschengeschlechtes.« Hat Dir Herder nicht davon gesprochen?«

»Ah, jetzt erinnere ich mich«, erwiderte Goethe. »So! Ist das der? – Ja, Herder war damals ganz aufgeregt und voll ehrlichen Staunens! Solch einen Brief, sagte er, habe er noch nie erhalten und von einem einfachen Bauern gar nicht für möglich gehalten. Natürlich, diesen Mann muß ich kennenlernen. Topp!«

Auch diesmal hatte Goethe nichts zu bereuen.

Als die große und stattliche Gesellschaft beim Chly-Jogg erschien – auch Haugwitz und andere hatten sich angeschlossen – empfing er sie mit vollendeter Einfachheit. Er fühlte sich weder »hochgeehrt« noch zu besonderer »Originalität« herausgefordert, sondern bewillkommnete die Herren schlicht als seine Gäste. Er führte sie durch seine ganze Wirtschaft, erläuterte sachlich und doch auf irgendwie persönliche Weise Viehstand und Futterbereitung, sprach auch vom Stand der Saaten, recht wie ein Bauer, und saß nachher in seiner niedrigen Stube an langem blankgescheuertem Tisch bei einer Kanne selbstgezogenen Landweins frohsinnig da und unterhielt seine Gäste mit zwanglosen, aber durchaus urwüchsigen Reden, bei denen alle willig aufhorchten.

Merkwürdig war, daß er sich immer wieder vorzugsweise an Goethe wandte, obgleich er gar nicht wußte, wer dieser war. Aber er fühlte mit Sicherheit heraus, daß dieser junge Mann etwas Besonderes sein mußte und aus allen hervorstach. Was Chly-Jogg sagte, hatte Hand und Fuß, war frei von Vorurteilen und hergebrachten Meinungen und verriet, bei aller Schlichtheit, eine geistige Unabhängigkeit und kernhafte Gesundheit, von der Goethe sich aufs höchste angeheimelt fühlte.

»Kein aus den Wolken abgesenktes Ideal«, sagte er auf dem Heimgang zu Lavater, »aber eines der herrlichsten Geschöpfe, wie sie diese Erde hervorbringt, der auch wir entsprossen sind! Ich danke Dir, Freund, daß Du darauf bestanden hast, diese Bekanntschaft zu machen! Sie hat mich mit vielem versöhnt, was ich sonst hier habe in Kauf nehmen müssen.«

Einige Tage später rüstete Goethe zur Abreise – die diesmal eine Heimreise bedeutete. Daß er jetzt wieder ungescheut an Lili denken durfte, die er bald in seine Arme zu schließen hoffte, tat ihm wohl und frischte ihn auf. Was sollten auch all die spinnwebigen Gedanken, von Sichfreimachen, Vergessen, Entfliehen – die lagen jetzt hinter ihm, er hatte sie in die Mottenkiste geworfen. War ein Kuß auf Lilis volle Lippen nicht tausendmal schöner, befeuernder, kraftspendender als all dieses Gefackel und Gewürge, die vielen Tage hindurch? Er war ein junger Mensch und wollte lieben!

Es war schön, daß er zu Lavater ungescheut davon sprechen konnte, und daß dieser ihn verstand. Das liebende Herz dieses menschenfreundlichsten aller Geistlichen öffnete sich mit fast fraulich-zarter Begeisterung vor jeder echten Liebesempfindung. Aus innigster Überzeugung redete er Goethe zu, dem Zuge seines Herzens zu folgen und sich nicht durch schale Klugheitsbedenken und törichte Selbstquälereien die Ganzheit seines Liebesgefühles zerstören zu lassen. Nur zu gern lauschte Goethe auf derlei Worte. Sie rechtfertigten ihm den selbstgefaßten Entschluß und beschwichtigten, was allenfalls von leisen Zweifeln und Bedenken vielleicht doch noch in seinem Innern zurückgeblieben war.

Mit herzlicher Umarmung und Küssen auf beide Wangen verabschiedete sich Goethe von Lavater. Und er küßte auch das Wibeli und die Kinder. Ein kräftiger deutscher Händedruck den beiden Stolberg und Haugwitz, die noch tiefer ins Alpenland hinein wollten – dann brach Goethe, allein, doch von vielen glücklichen Gedanken umfächelt, gen Basel auf.


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