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Weimar murrt

Es dauerte nicht lange – und in Weimar hob ein allgemeines Kopfschütteln an!

Im Volk war man verwundert, in den Bürgerkreisen geärgert und bei Hofe vielfach empört.

Was war das nur für ein neues Wesen, das da plötzlich eingerissen war? Ausgerechnet, seit dieser hoffärtige junge Frankfurter Advokat auf der Bildfläche erschienen war und den unerfahrenen, kaum flügge gewordenen Herzog förmlich in die Tasche steckte! War der neue Regent schon in den ersten Monaten seines Herrscherantritts – so urteilte man – einigermaßen überspannt und schwer zu zügeln gewesen, so war er jetzt wie vom Gottseibeiuns geritten und gleichsam aus dem Häuschen geraten. Er war völlig von der neumodischen Geniesucht befallen! Lärm machen schien die Hauptsache – und sei es auch bloß, mit Hussa und Hallo, mit Peitschenknallen und Pferdegetrappel, im wilden Schwarm durch die erschrockenen Gassen jagen! Rücksicht nehmen gab's nicht mehr, noch weniger Höflichkeit und feine Sitte. Sporenklirrend marschierte man in Wasserstiefeln über frischgebohnerte Parkettböden; warf sich in wohlgepflegte Seidenfauteuils, daß es nur so krachte und ächzte; führte pöbelhafte Ausdrücke und Fluchworte im Munde – oder vielmehr, um in der neuen Sprache zu reden, »im Maul« und tat sich Gott weiß wie groß mit Ungeschliffenheit, die man »Natürlichkeit«, und mit Unflätigkeit, die man »Wahrheitsliebe« nannte.

Am bedauerlichsten aber war der Ton den Damen gegenüber entartet. Wofern man überhaupt zugab, daß es »Damen« noch gäbe! Man warf da mit einem neuen Ausdruck herum, der »Misels« hieß und den der vom Teufel besessene Frankfurter aufgebracht hatte – irgendwo im Elsaß wollte er ihn aufgeschnappt haben! »Misel« hieß jedes gefällige Frauenzimmer, mit dem man sich gradheraus amüsieren konnte – und etwas anderes schien man vom weiblichen Geschlecht ja kaum noch zu erwarten. Was man mit Tänzerinnen und Komödiantinnen oder auch mit Wirtstöchtern und Dienstboten sich erlauben konnte, das durfte man sich aber doch noch lange nicht wirklichen »Fräuleins« gegenüber herausnehmen. Doch Gott sei's geklagt, selbst in guten alten Adelshäusern fanden sich vergnügungssüchtige und auf Neumodischkeit erpichte junge Dinger, die keinen höheren Ehrgeiz zu kennen schienen, als sich wie »Misels« zu betragen. Das war ein Gerenne und Gekicher und Geknutsche, bald in heimlichen Ecken, bald auch ganz offen vor aller Augen, daß in Ehrbarkeit erzogene Leute und Herrschaften oft die Hände überm Kopf zusammenschlugen. Und einer der Schlimmsten war – leider, leider – der junge Herzog selber: der damit, so glaubte man herauszufühlen, dem bösen Geist an seiner Seite, diesem landfremden Doktor Goethe, gefallen und imponieren wollte. Ganz unverblümt hatte der Herzog herausgesagt, daß er niemanden leiden könne, der auf feines Benehmen halte. Denn, so hatte er sich wörtlich ausgedrückt, »alle Leute mit Anstand, mit Manieren könnten nicht den Namen eines ehrlichen Mannes tragen«.

Der Mann, um dessen Persönlichkeit all dieses Übelreden sich rankte, befand sich mittlerweile in bestem Wohlsein. Es konnte ihm zwar nicht verborgen bleiben, daß er manchen Leuten zum Stein des Anstoßes geworden war. Aber wieviel man ihm eigentlich in die Schuhe schob, davon hatte er doch kaum eine rechte Vorstellung. Jedenfalls war er durchaus nicht darauf versessen, der ganzen Welt zuleide zu sein. Ihn freute nur die herrliche Losgebundenheit, der man am Hofe dieses lebenshungrigen jungen Fürsten sich überlassen durfte. Daß hie und da einer über die Stränge schlug, ließ sich natürlich nicht vermeiden. Goethe suchte, wo es drauf ankam, ohnehin zu dämpfen und zu zügeln. Aber ließ der achtzehnjährige Herzog, der sich wie ein Student im ersten Semester vorkam, sich denn zurückhalten? Der wollte jetzt den vollen Lebensbraus auskosten und faßte dies naturgemäß in etwas roher Junkerweise auf. Der »Stimme der Natur« wollte er folgen, statt sich an oft willkürliche und sinnlos gewordene Gesetze und Vorschriften zu binden: »die doch nur von Menschen erdacht waren!«

Er selbst aber, Goethe, war dankbar dafür, sich betäuben zu können. Noch zitterten die letzten zehn Frankfurter Monate, mit all ihrem Wirbel, ihrer vergeudeten Leidenschaft, ihrem dichterischen Geschwärme und ihrem schwindelnden Hinwandeln an hundert Abgründen vorbei, in heimlichen Schauern in ihm nach. Gewiß, er fühlte sich auf dem Weg zur Gesundung. Aber wieviel war in ihm aufgestaut, das stets wieder von neuem in ihm losbrechen wollte! Da tat ihm dieses sich-selbst-vergessende Austoben an einem ihm bisher ganz fremden Orte, und in neuer, von ihm fortgerissener und über ihn hinwegschäumender Umgebung wohl. Am meisten aber fürchtete er sich vor der Erinnerung an Lili. Gerade weil er sie noch so seltsam mächtig in sich fühlte. Darum griff er, selbst ohne viel Wahl, nach flüchtigen sich bietenden Abenteuern. Er log und trog sich – so gestand er sich selbst – bei allen hübschen Gesichtern herum und hatte dabei das Glück, immer im Augenblick dasjenige zu glauben, was er sagte. Geradezu dankbar war er diesen »Misels«, die ihm zu solchem Selbstbetrug verhalfen. Nur nicht sich tiefer fesseln lassen! Lieber von einem Arm in den anderen gleiten! Vergessen wollte er – – vergessen!

Und nun bekam das tolle Weimarer Treiben noch einen neuen Impuls durch das Auftreten der beiden Brüder Stolberg. Sie waren seit langem erwartet und wurden desto stürmischer begrüßt. Mit wahrem Jubel drückten sie Goethe als Bruderherz an die Brust, und waren selig, ihn »so herrlich aufgelegt zu allem wilden Genietum« zu finden. Der von ihm in Weimar angeschlagene und fast bis zum Überkippen getriebene Ton behagte ihnen außerordentlich, und sie verstanden es, ihn noch ausschweifender, noch phantastischer zu gestalten. In gewissem Sinne trugen sie so dazu bei, Goethe vor der Hofwelt zu entlasten. Was man dem Frankfurter Bürgerlichen übelgenommen hatte, das war man bereit, den Herren Reichsgrafen großmütig nachzusehen. Wenn diese reichsunmittelbaren Herren von Stolberg etwas taten, so konnte das so unvornehm doch nicht sein. Es war dann eben der »neue Ton« – dagegen konnte man nichts machen. Er mochte einem mißbehagen, aber man mußte ihn leider hinnehmen. Besonders, wenn er durch die Autorität des eigenen Herzogs gedeckt wurde. » Tempora mutantur«.

 

An allerhöchster Stelle, nämlich bei der Frau Herzogin-Mutter, war man der Veränderung im äußeren gesellschaftlichen Gebaren mit Aufmerksamkeit gefolgt. Nicht ohne Sorge; doch auch nicht ohne Nachsicht. Anna Amalia hatte ein felsenfestes Vertrauen auf Karl Augusts gute, im Kern gesunde und rechtschaffene Natur. Er mochte sich wohl einmal vergessen, verlieren konnte er sich nie. Und vor allem gönnte das zärtliche, in Liebe entflammte Mutterherz ihrem stolzen Erstgeborenen dieses geniehafte Sichaustoben. Gleichfalls hatte sie zu Goethe Vertrauen. Sie fand keinerlei Anlaß, sich über ihn zu beklagen und fühlte sich von seiner überlegenen Geistigkeit und ursprünglichen Natur aufs stärkste gefesselt. Anna Amalia liebte Menschen, die aus dem Alltag herausschlugen, und war dann auch bereit, einmal fünf gerade sein zu lassen.

Strenger beurteilte ihre erste Hofdame, Frau Oberstallmeister von Stein, die Situation. Als Tochter eines Zeremonienmeisters mochte sie auf gute Formen besonders viel geben. Aber dies war nicht der tiefere Grund ihrer Verstimmung. Ihr leichtverletzliches Gemüt ruhte vielmehr auf ihrer mit sittlichem Ernst gepflegten hohen und im wahrsten Wortsinne idealen Gesinnung. Sie litt beinahe körperlich unter jedem rohen Auftreten, und dies war wohl auch der Grund, weshalb sie sich von ihrem Gatten, der soviel Stallduft und Stallmanieren mit sich herumtrug, innerlich entfernt hatte. So führte sie, nach elfjähriger Ehe, und nachdem sie vier Töchter im zartesten Kindesalter begraben hatte, beinahe ein Witwenleben, nur der Pflege und der Erziehung ihrer drei übriggebliebenen Söhne hingegeben.

Bei dem burschenhaft-derben und bewußt manierlosen Ton, der jetzt am Weimarer Hofe sich auszubreiten begann, berührte es sie am peinlichsten, daß dieser just auf Goethes Einfluß zurückzuführen schien. Sie hatte dessen Kommen, nachdem er ihr von ihrem Freunde Zimmermann in den vorteilhaftesten, ja verführerischsten Farben geschildert worden war, mit besonders hoffnungsvoller Erwartung entgegengesehen. Und die Schwärmerei des jungen Herzogs, nicht zuletzt auch die seiner jungen Gemahlin Luise, hatte sie darin bestärkt. Goethe, so hatte sie es sich ausgemalt, würde, wie das geistige, so auch das sittliche Niveau des Hofes fühlbar heben. Und nun diese Enttäuschung! Wie ein Rüpel, so urteilte sie, zog dieser gepriesene Dichterjüngling einher; hatte Redensarten und Ausdrücke, die man in guter Gesellschaft kaum wiederholen konnte; gebärdete sich launenhaft und unberechenbar; konnte eine Zeitlang bezaubernd und im nächsten Augenblick unausstehlich sein; und litt an einem derartigen Eigendünkel, daß er sich jede Nichtachtung anderen gegenüber glaubte erlauben zu dürfen. O, sie sah ihm, ob auch aus gemessener Ferne, scharf auf die Finger, und sie machte, ihrer Umgebung gegenüber, kein Hehl daraus, wie sehr er ihr mißfiel. Gerade weil sie so viel von ihm erhofft hatte! Und, weil er als der erkorene »Götterliebling« alle Welt, trotz all seiner Unarten, immer wieder für sich einnahm und bestach. Besonders aber die Frauen, bis zur Herzogin-Mutter hinauf!

Es konnte nicht fehlen, daß Goethe davon Kunde erhielt, welch ernst zu nehmende Gegnerin er, im innersten heiligen Bezirk, gerade bei der hochangesehenen Dame gefunden hatte, in der er einmal ein besonderes »Medium der Liebe« hatte entdecken wollen. Mit Schreck fiel ihm bei, daß er ihr den geschuldeten Pflichtbesuch bisher nicht abgestattet hatte; und daß darauf wohl eine gewisse innere Fremdheit in ihren Beziehungen beruhen mochte. Also kühn in die »Höhle der Löwin« sich begeben! Es konnte nur nützlich sein, solch erlauchte »Feindin« etwas näher bei Licht zu betrachten.

Frau von Stein empfing ihren Besuch mit vollendetem Anstand, sogar mit unterstrichener Liebenswürdigkeit. Und Goethe seinerseits war in jedem Wort und jeder Bewegung der wohlerzogene Frankfurter Bürgerssohn, wie er sich daheim in den Salons der d'Orville und Gontard hinreichend bewährt hatte. Nicht die kleinste Entgleisung ließ er sich zuschulden kommen und blieb dabei dennoch ganz natürlich und aufgeräumt. Gerade dies war der Zauber, der von ihm ausging und den gerade Frau von Stein aufs feinfühligste spüren mußte. Von irgendeiner Spannung, die zwischen ihnen herrschen mochte, war darum nicht einmal andeutungsweise die Rede.

Während die Unterhaltung leicht dahinfloß, höfische Dinge kaum berührte, aber bei künstlerischen und literarischen Fragen, mit denen Frau von Stein intim vertraut war, eingehend verweilte, faßte Goethe seine Gesprächspartnerin aufmerksam ins Auge. Er wußte über ihre Schicksale und äußeren Verhältnisse Bescheid und nicht ohne Bewunderung mußte er anerkennen, mit welch ungewöhnlichem Grade von Selbstzucht sie darüber Herrin geworden war. Daß ihr ganzes Wesen etwas Gedämpftes und Leises, ja, mitunter etwas Schwermütiges hatte, machte sie nur anziehender. Sie hatte eine gepflegte und gleichmäßige Sprechweise, die auch ihr Antlitz im Ausdruck nur wenig veränderte. Überaus zierlich war ihre Figur, von fast mädchenhafter Zartheit, so daß man ihr ihre dreiunddreißig Jahre wahrlich nicht ansah. Ihre Hauptschönheit aber war der dunkle und sammetweiche Teint ihrer leicht bräunlichen Gesichtsfarbe, die sich beim Sprechen zuweilen sanft rötete, und in wundervoller Harmonie zu dem tiefen Schwarz ihrer vollen, hochgesteckten Haare stand. So konnte man sie äußerlich fast für eine Südländerin halten, dem doch ihr ausgesprochen nordisches Temperament widersprach. Sanftheit, Bescheidenheit, Gelassenheit war ihr Wesen, Klugheit und ausgezeichnete Geistesbildung verrieten ihre Erziehung.

Unwillkürlich mußte Goethe sich der Atmosphäre anpassen, die auf ihn einströmte. Er tat es gern und fühlte sich wohl dabei. Er war auf eine Reihe von Vorurteilen gefaßt gewesen. Aber er fand im Gegenteil, daß sich mit dieser Frau über alle Gebiete des Geisteslebens sehr gut sprechen lasse. Mit eminenter Feinfühligkeit ging sie auf angeschlagene Themen und Betrachtungen ein, hatte gewiß ihre eigenen Meinungen, betonte sie sogar sehr bestimmt, war aber zweifellos frei von Engherzigkeit und Beschränktheit. In allem, was sie sagte und wie sie es sagte, lag ein natürlicher Sinn für Anmut und gleichzeitig – was das Bewundernswerteste war – für Wahrhaftigkeit. Ganz rein und klar breitete sie ihre Gesinnungs- und Gefühlsweise aus, fast ohne Rückhalt und dennoch nie indiskret. Ein leiser Duft von Geheimnis, jedenfalls von Zurückhaltung, blieb stets um sie ausgebreitet. Das machte sie so damenhaft, so – ja, es gab kein anderes Wort – so ehrfurchtgebietend.

Spürte Goethe, daß der so nachhaltige Eindruck, den er selbst gewann, gleichsam rückströmend auch bei Frau von Stein sich auswirkte? Jedenfalls, als er nach einer guten Stunde sich erhob – eine Viertelstunde hatte er bleiben wollen – drückte sie ihm so freundschaftlich die Hand und lud ihn mit so warmer Stimme zum Wiederkommen ein, daß nichts von irgendwelcher Fremdheit oder gar Verstimmtheit darin nachklang. War die »Feindin« schon zur »Freundin« geworden? Doch was bedeuteten Worte? Jedenfalls schwang etwas zwischen ihnen beiden, das nach engerer Verknüpfung sich sehnte. Und das mochte man denn getrost einer allmählich sich auswirkenden Zukunft überlassen.


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