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Eine Ballnacht

Nach der vollzogenen Weihe solch geheimer innerer Selbstreinigung durfte Goethe mit doppeltem Vertrauen ins reale Leben des Tages zurückkehren. Auch dieses diente der Fortführung der begonnenen Selbstbefreiung. So vor allem der Verkehr mit einem so überlegenen Geiste wie Zimmermann. Dessen heiterer Weltsinn, der das Leben stets gewinnbringend anzupacken wußte und der auch mit Frauen immer die richtige Tonart fand, hatte für den, der ihm näher kam, ebensoviel Beschwichtigendes wie Anregendes. In manchen Punkten brachte er Goethe zu neuem Nachdenken. So stand er beispielsweise Lavater recht kritisch gegenüber. Als ausgesprochener Freigeist fühlte er sich durch die ewige gottselige Schwärmerei, die gar zu gerne zur Proselytenmacherei überging, beengt und nannte deshalb Lavater einen » tracassier«, einen Quälgeist. Goethe nahm sich des Freundes zunächst redlich an und widersprach. Im Geheimen mußte er jedoch daran denken, wie gerne dieser Prediger mit seiner weichmütigen Schönrednerei auch ihm zugesetzt und ihn zu bekehren versucht hatte.

Im Gegensatz hierzu war Zimmermann ein Mensch, der jeden gern in seiner Eigenart gelten ließ und auch Widersprechendes zu würdigen verstand. Besonders wohltuend berührte Goethe dessen warme Liebe für bildende Kunst. Er hatte da erst kürzlich, durch Haugwitz' Vermittlung, ein ihm besonders wertes Frauenbildnis erworben, das der Mengs-Schüler Naumann nach einer älteren italienischen Vorlage angefertigt hatte. Als Dichter fühlte er sich mächtig von dem seelischen Ausdruck dieses ebenso leidvollen als schönen Frauenantlitzes ergriffen: stellte es doch die berühmte Beatrice Cenci dar, die, als Opfer und Mörderin ihres ruchlosen Vaters, schon manche Dichterherzen entflammt hatte. Wie fein verstand Zimmermann auf die hierdurch geweckten Empfindungen einzugehen, und aus den gezeichneten Zügen dieses unschuldvollen Mädchens ihr tragisches Martyrium abzulesen. Wenn Lavater für seine »Physiognomischen Fragmente« einen eindrucksvollen Abschluß finden wolle, meinte er, dann möge er dieses Mädchenbildnis reproduzieren, aus dessen geheimnisvollen Zügen sich ein ganzes Menschenschicksal offenbare.

Es tat Goethe besonders wohl, sich durch Gespräche dieser Art von den ihn umlauernden Selbstquälereien zu entlasten. Wie gern ging er auf die reiche Gedankenwelt, die Zimmermann vor ihm auszubreiten verstand, ein! Stets neue seelische Bereicherungen quollen ihm daraus entgegen. Und es verstand sich von selbst, daß er, wie der Empfangende, so auch der Spendende war. Zimmermann war bereits gut bekannt mit dem, was von Goethe bis dahin gedruckt vorlag, und vor allem mit Werthers seelischer Welt eng vertraut. Doch wünschte er, auch von dem, was noch im Werden begriffen war, »einiges zu nippen«. Und natürlich war es vor allem das Faustgedicht, von dem Lenz ihm soviel vorgeschwärmt hatte, wonach sein Trachten stand.

Goethe zauderte ein wenig, da er Unfertiges nicht gerne preisgab. Dann aber entschloß er sich doch, dem freundlich gestellten Ansinnen zu willfahren. Er lief aus dem Zimmer und kehrte mit einem sackartigen Bündel wieder, das er übermütig auf dem Tisch entleerte. Eine Unzahl verschiedenartiger und unregelmäßig beschriebener Blätter und Zettel kullerten heraus.

»Hier haben Sie meinen Faust!« rief er übermütig. »Sehen Sie selbst zu, wie Sie damit fertig werden!«

Zimmermann ließ sich nicht verblüffen. Mit ruhiger Geduld stellte er sich die Szenen zusammen und vertiefte sich darin. Und als er dann, nach ein paar Stunden, aufatmend Goethe sein Entzücken und seine Bewunderung aussprach, fühlte dieser sich wahrhaft erhoben. Er spürte die Ehrlichkeit der ausgesprochenen Anerkennung und war davon desto tiefer bewegt, je mehr ihm das Urteil gerade dieses Menschen wertvoll erschien.

Auch Vater Goethe unterhielt sich gerne mit Hofrat Zimmermann, dem er als einem weitgereisten und belesenen Manne besondere Aufmerksamkeit schenkte. Mittlerweile hatte sich die Mutter aufs herzlichste mit dem so anlehnungsbedürftigen Mamsellchen Ursula angefreundet und das stilldürstende Seelchen unter ihre besondere Obhut genommen. Sie verstand es, auch ihren Sohn für das gute Kind ein wenig einzunehmen, und war geradezu glücklich darüber, ihn dazu zu bringen, sie auf jenes Ballfest, zu dem er von Lili eine etwas hochmütige Absage erhalten hatte, als seine »Dame« mitzunehmen. So konnte also der schwarzgelbe Ritteranzug doch noch zu Ehren kommen, und das tat dem gekränkten Dichterherzen im Grunde recht wohl.

 

Im »Römischen Kaiser« auf der »Zeil« brannten drei mächtige Kristallüster, die, unterstützt von zahlreichen Armleuchtern zwischen funkelnden Spiegelwänden, ein festliches Licht verbreiteten. Auf dem glänzend gewichsten Parkettboden des großen Saales bewegten sich in zierlichen Tanzpas' zahlreiche wohlgeputzte Paare. Der altdeutsche Ritter in neuem Prunkgewande, eine stattliche Erscheinung, wurde mit seiner blutjungen »Versailler Schäferin«, die in schmachtendem Blau und Rosa an seinem Arm schwebte, von vielen bewundernden und beneidenden Blicken umschwärmt. Natürlich hatte man den allbekannten Doktor Goethe rasch erkannt und mit Verwunderung vermerkt, daß sein bisheriger »Schwarm«, die entzückend-schöne Demoiselle Schönemann, nicht mehr an seiner Seite erschien. Wer war nur das gänzlich unbekannte, doch auch sehr charmante Persönchen, das ihn diesmal begleitete? Etwa eine neue Flamme? Man durfte es ihm schon zutrauen!

Viel zum Tanzen kam Goethe vorerst nicht. Sein Mädel hatte einen Husten und mußte sich schonen. So beteiligte er sich nur an zwei Menuetts, das zweite Mal mit der schönen Antoinette Gerock. Sonst hielt er sich galanterweise an Ursula, die anfangs wohl schüchtern dasaß und die vielen fremden Menschen mit ihrer für sie ungewohnten Mundart befangen musterte. Um so reizvoller war es, sie allmählich zum Aus-sich-herausgehen zu bringen. Wenn ein pochender Vater, dachte Goethe, sie vielleicht allzusehr in sich zurückscheuchte, so mochte ein leise lispelnder Liebhaber die nur scheinbar vorgeschobenen Riegel zu ihrem Innern vorsichtig öffnen. Sie hatte gleichsam »die Tür nur leise angelehnt« und wartete darauf, daß jemand einträte. Waren in Urselchens blassem runden Gesichtlein die Mundwinkel und Nasenflügel anfangs streng oder ängstlich verschlossen, so kündeten doch die großen, blanken, arglos aufgeschlagenen Augen, daß sie nicht abgeneigt war, das Weltgetriebe ein wenig auf sich wirken zu lassen. Nur der dumme Husten, der sich in der dicken und heißen Ballsaalluft sogar noch verschlimmerte, hinderte, daß Ursula so voll, als sie wohl gemocht hätte, aus sich herausging. Doch dünkte es Goethe äußerst lieblich, wie sie sich sanft von ihm bestricken ließ.

Es war schon zu ziemlich vorgerückter Stunde, als Vater Zimmermann plötzlich mit zwei besonders vornehm blickenden Herren in Goethes abgelegener Nische erschien. Welch wundersame Überraschung: es waren Karl August, der junge Herzog von Weimar, und sein Kammerherr, Baron Knebel! Freudig erregt fuhr Goethe empor: eine erwünschtere Begegnung hätte ihm gar nicht bereitet werden können. Auch der achtzehnjährige Herzog war wie außer sich vor Begeisterung! Morgen, ganz sicher, hatte er sich vorgenommen, bei Goethe vorzufahren. Wie köstlich, daß er ihn gleich heute traf! Karl August strahlte vor eitel Lebenslust und aus seinem unternehmend geröteten Gesicht leuchteten ein Paar prächtige junge Herrscheraugen.

Ja, er war auf der Tour nach Karlsruhe, wo demnächst geheiratet werden sollte. Wenn er Anfang Oktober mit seiner Frau Gemahlin abermals Frankfurt passieren würde, dann, ohne Widerrede, werde er Goethe, als seinen Gast, mit nach Weimar nehmen! Das sollte dort ein Jubel werden! So einen, wie Goethe, der alles in Bewegung brachte, konnten sie dort grade brauchen. Der junge Herzog wollte ein neues Zeitalter des frischen, jungen geistigen Lebens über Deutschland herbeiführen, und Weimar, ob auch klein, sollte Mittelpunkt werden!

Goethe vermochte kaum zu Worte zu kommen, so sprudelte der junge, enthusiasmierte Herzog alles hervor. Vor wenig Stunden war er angekommen, jawohl, und im »Römischen Kaiser« ahnungslos abgestiegen. Kaum aber hatte er von dem dort stattfindenden Ballfest gehört, so mußte er dabei sein! Knebel sollte bestätigen, daß alles so stimmte. Aber eigentlich durfte er ja Goethe nicht stören in seiner Unterhaltung mit dem reizenden kleinen Fräulein. Doch wenn man's durchaus wünschte, werde er Platz nehmen. Man brachte auch soeben die bestellte Sektbowle an. Auf fröhliches Beisammensein!

Da saßen sie denn also zusammen und tafelten als gute Freunde. Hell und heiter klangen die Gläser aneinander.

Woher nur auf einmal die hübschen jungen Damen alle kamen, die lachend ihre Köpfe zur Nische hereinsteckten? Hatte Papa Zimmermann, der pfiffige Schäker, die vielleicht herbeigewinkt? Bitte nur nähertreten, meine verehrten schönen Frauenzimmerchen! Platz ist genug, man kann auch zusammenrücken! Und daß der Wein nicht alle wird in dieser Nacht, dafür wird auch gesorgt sein! So jung kommt man nicht wieder zusammen!

Vom Saal her schmetterten die Tanzweisen, drang der Schleif- oder Stampfschritt der Ballgäste herein. Auch darin lag Aufforderung. Mitmachen! Mitmachen! Karl August liebte vor allem die Allemande, mit ihren Drehungen, Armtouren und Pirouetten – gerade weil sie nicht höfisch war und aus dem Volke kam. Nur nicht soviel Langeweile und steife Abgemessenheit beim Tanz, mit feierlichem Schreiten und unaufhörlichen Verbeugungen! Gewirbelt muß man werden, umherfliegen, sein Mädel schwenken! So liebte es der Herzog und so war es auch Goethe recht. Er nahm Urlaub von Urselchen und sauste mit einer lachenden Schönen in den Ballsaal hinein. Seit zwei Stunden war Mitternacht vorüber. Da lösten sich ganz von selbst die Bande des Zeremoniells.

Welch Rausch der Vergessenheit, wenn man unter anfeuernden Musikklängen sich so drehte und dahinflog! Wo blieb da noch die Schwere? Wo haftete Bedenklichkeit? Liebeskummer? Wo gab es das? Neue Tore taten sich auf!

Die sechste Morgenstunde schlug von der Turmuhr der Katharinenkirche, als Goethe endlich das gute Urselchen, das, trotz seines Nichttanzens, brav und wacker ausgehalten hatte, nach Hanse brachte. Ihr Vater hatte sich irgendwo im Gedränge des Ballsaals verloren. Und der Herzog, von dem man sich soeben erst verabschiedet hatte, war schwer vom Trunk und vom Tanzwirbel, gestützt auf Knebel, zu seinem Zimmer hinaufgewankt. Auch in Goethes Kopf summte es. Doch die frische Morgenluft tat ihm wohl, und die Kavalierspflicht hielt ihn aufrecht.

Jedenfalls lieferte er die ihm anvertraute »Dame« wohlbehalten in die Arme der Frau Rat ab, die, bereits aus den Federn gekrochen, ihnen entgegenkam. Dann stolperte der benebelte Schwärmer selig zu seinem Stübchen hinauf, wo alsbald ein wohlverdienter Schlummer ihn umfing.


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