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O Straßburg ...

Der Wagen donnerte über die Rheinbrücke.

Soeben hatten französische Zollbeamte die Pässe der Reisenden visitiert und, nach schikanöser Erhebung von allerhand Schwierigkeiten, freie Bahn gegeben.

Während Goethe schweigend saß und, alten Erinnerungen nachtrachtend, vor sich hinstarrte, ergingen sich die Brüder Stolberg in erregten patriotischen Wallungen.

»Dieser herrliche Strom!« rief Fritz und wies auf die Wellen des rasch dahinfließenden Rheines. »Das Herz im Leibe tut einem weh beim Anblick des bezwungenen, nun französischen Ufers!«

»Sie sollen es nicht lange mehr besitzen, diese räuberischen Welschen!« gelobte Christian. »Ich hoffe, wir werden uns endlich fühlen!«

Und trotzig stimmte er das Lied an, in dessen Gesang die übrigen nach und nach einfielen:

O Straßburg, o Straßburg,
Du wunderschöne Stadt!
Darinnen liegt begraben
So mannicher Soldat!

»Weißgott!« sagte Goethe, noch immer wie halbverträumt. »Wohl anderthalb Jahre lang habe ich hier zugebracht und kaum je gefühlt oder bedacht, daß es nicht deutsche Erde sein sollte, auf der ich wandelte. Geschwärmt und geliebt, geredet und gerungen, mit lauter deutschen Menschen, von deutschen Dingen und deutschen Dichtungen! Mit Herder vor allem, unserm großen Führer – und jetzt harrt unser dort der liebsten einer unter meinen Freunden, unser prachtvoller Jakob Lenz!«

Wie freute er sich auf dieses Wiedersehen und ebenso auf seinen guten und schnurrigen alten Mentor, den braven Aktuar Salzmann, bei dem er für diesmal absteigen würde!

Ein halbe Stunde später hielt der Wagen vor dem Hause, in dem Salzmann wohnte. Goethe trennte sich von seinen Gefährten, die einen vornehmen Gasthof bezogen, und erlebte dann im Gespräch mit dem Freunde so manches wieder, was nun bereits vier Jahre – für sein von hundert Erlebnissen aufgewühltes Gefühl eine unendlich lange Zeit! – zurücklag. Damals, als er, wie Herder sich ausdrückte, etwas dreist und spatzenmäßig in die Welt hineinguckte, und begierig alles in sich einsog, was von neuen geistigen Fruchtkeimen in der Luft lag und die Gemüter erfüllte! Schier verwundert hörte Goethe dem Freunde zu, der ausführlich berichtete. Und er sah sich selbst vor sich, fast wie einen fremden Menschen, ganz erfüllt davon, sowohl vom Leben zu lernen wie auch sich selbst zur Geltung zu bringen. Eigentlich, wenn er's so recht überlegte, waren doch diese Straßburger Studiensemester die wahre Keimzeit gewesen für all das viele, das seitdem aus ihm hervorgequollen war.

Und hatte er nicht gleichfalls von Straßburg aus die vielen tollen Ritte nach Sesenheim unternommen, wo ihm im ländlichen Hause des Pfarrers Brion Friederike in Lieblichkeit entgegengetreten war, an die er jetzt mit ebensoviel Glücksgefühl als Beklemmung zurückdenken mußte! Einen flüchtigen Einfall, jetzt wieder mal hinüberzureiten, schob er indes rasch zurück, um so mehr, als Salzmann ihm einen Brief seiner getreuen Johanna Fahlmer überreichte, der – unvereinbarer Gegensatz! – ganz erfüllt war von Lili. Doch konnte seine Neugier, was Lili zu »Erwin und Elmire« gesagt hätte, noch nicht gestillt werden. Die Aufführung des Singspiels war um ein paar Tage verschoben worden.

Der Zufall wollte es, daß auch Fritz Stolberg in Straßburg Nachricht von seiner »Braut« bekommen hatte. Goethe traf den Freund völlig erschüttert und gradezu in Tränen aufgelöst. Sophie Hanburry hatte ihm abgeschrieben! Sie könne nicht Liebe, sondern nur Freundschaft für ihn empfinden. In seiner Eigenliebe ebensosehr wie in seiner Schwärmerei getroffen, sprach der junge Reichsgraf davon, seinem Leben ein Ende zu machen. Bei ein paar Flaschen feurigen Rheinweines jedoch, und in angeregter Freundesgesellschaft, zu der auch der junge Dichter Lenz gestoßen war, ließ der Tiefgekränkte nach anfänglicher Obstinatheit sich nicht ganz ungern zu neuem Lebensmut zurückbekehren. Schwer geladen, wurde er von seinen Freunden zu Bett gebracht und, nachdem er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, blieb zwar eine interessante Melancholie, aber sonst kein lebenzerstörendes Gift bei ihm zurück.

Den folgenden Tag hatte Goethe ganz für seinen Freund Jakob Reinhold Lenz sich vorbehalten und sich darum von den übrigen getrennt. Er liebte Lenz nicht bloß, er schätzte auch dessen poetische Begabung unter all seinen Weggenossen am höchsten. Er war der einzige, den er neben sich selbst als »Original« gelten ließ. Auch schmeichelte ihm die fast schrankenlose Bewunderung und Verehrung, die der um anderthalb Jahre jüngere Livländer ihm entgegenbrachte. Schwärmte doch der rasch in höchste Ekstasen sich verlierende Lenz von seiner und Goethes geistiger »Ehe«, wobei er sich selbst die Rolle des anschmiegsamen Weibes zuerteilt hatte!

Einen ganzen langen Vormittag lang waren die beiden Freunde in der Natur herumgeschweift, in intimen Gesprächen und »Ergießungen«. Jetzt saß Goethe – während Lenz für kurze Zeit in die Stadt zurückgelaufen war, um eine Besorgung zu machen – in einer Gastwirtschaft »Zum Wasserzoll«, unter vielreihig sich kreuzenden Linden, und hatte für sie beide ein Mittagessen bestellt. In glücklichster Stimmung genoß er die schöne Landschaft um sich her: die weit sich dehnenden, baumbestandenen Wiesen, die schimmernd sich schlängelnde Ill und den Blick auf das in der Ferne herübergrüßende Straßburger Münster. Er fühlte sich so warm, so bewegt. Zehn Tage lang war er nun unterwegs und alles bisher hatte so glücklich und zu seiner vollen Zufriedenheit sich abgespielt. Fast alle Menschen waren ihm mit Freundlichkeit, viele mit Auszeichnung entgegengekommen. Und die wenigen, die mißgünstig gezischelt hatten, durfte er getrost in ihren Ecken stehenlassen, als arme Schelme.

Was war's nur, daß solch eine stille Sehnsucht plötzlich in ihm aufstieg? Sehnsucht nach Liebe? Vielleicht gar – nach Lili? Aber er war doch der durchgebrochene Bär, der in die Freiheit der Wälder entlaufen war! Und jetzt ertappte er sich beinahe auf dem Gedanken, Lili einen schriftlichen Gruß zu schicken. Unsinn, das durfte nicht sein! Solange er unterwegs war, durfte Lili nicht eine Zeile von ihm erhalten – das gehörte zu seinem strengstens zu befolgenden Reiseprogramm. Seine volle seelische Freiheit sich zurückzugewinnen, war ja sein ausgesprochenes Ziel. Nun – dazu fühlte er sich schon auf dem besten Wege! Also kein Wort an Lili! Aber ein paar Zeilen an die »Tante«! Die durfte er schon hinkritzeln – und Lilis, so ganz nebenher, dabei gedenken. Aber natürlich ließ er auch viele andere grüßen: Fritz Jacobi, der immer noch in Frankfurt steckte, Mama La Roche, die Maxe und selbstredend Vater und Mutter.

So: das war getan! Und nun durfte Lenz endlich von seinem Stadtgang zurückkommen!

Richtig, da bog er soeben um die Ecke und winkte ihm schon von weitem lebhaft zu. Der liebe, allzeit aufgeregte Junge! Im Grunde ein ewiges Sorgenkind!

Der kleingebaute, rundliche junge Mann näherte sich mit eiligen Schritten. Wie seine wasserhellen Augen aus dem fast fraulich-weichlichen Gesicht in hingebungsvoller Ergebenheit leuchteten! Immer wieder winkte er und rief etwas herüber, das noch gar nicht zu verstehen war. Goethe mußte unwillkürlich lächeln.

Gleich sprudelte Lenz los, obgleich er eigentlich gar nichts Dringendes mitzuteilen hatte. Es war ihm bloß unterwegs eingefallen, daß er vor ein paar Monaten den Mannheimer Antikensaal durchwandert hatte und wie er dabei unwillkürlich immer an seinen Bruder Goethe hatte denken müssen.

»Es durchdrang, durchbebte, überfiel mich Dein Geist«, rief er exaltiert, »der Geist all Deines Tuns und Deiner Schöpfungen – mit einem Entzücken, dem sich nichts vergleichen läßt! Ich sah Dich an meiner Seite gehen, ich fühlte die Glut Deiner Augen, die, während mir die Begeisterungstränen über beide Wangen rollten, die himmlische Gruppe des schlangenumwundenen Laokoon und seiner beiden Söhne in seelischem Heißhunger verschlangen. Ach, wer sollte den Gott in solchem Bildwerke nicht anbeten – mögen auch traurige Banausen derlei ›Götzendienst‹ nennen! Aber wir beide, dies fühlte ich damals und weiß es heute mit heiliger Gewißheit, können im Anblick wahrer und großer Kunst nur den Gleichschlag unserer Herzen spüren – und die innige Verbundenheit unserer geistigen Ehe, die uns durch unser Leben begleiten soll.«

»Mein liebes Jaköble«, sagte Goethe und legte warm seine Hand auf Lenzens Arm, »Du rührst mich förmlich durch die Überschwänglichkeit Deiner Zuneigung und Deines Vertrauens! – Komm, setz Dich nieder! Soeben bringt man uns das Essen. Sei mein Gast und laß uns miteinander recht fröhlich sein!«

Sie tafelten wie zwei Brüder miteinander und tranken sich gegenseitig von dem hellen Elsässer Landwein zu, der in blinkender Karaffe vor ihnen auf dem Tische stand. Nach genossener Mahlzeit, während Goethe sich behaglich zurücklehnte, schien in Lenz erneut etwas wie Unruhe zu arbeiten. Seine Augen irrten umher, seine Finger zerkrümelten unstet eine Brotrinde.

»Bruder«, stammelte es aus ihm hervor. »Ich muß Dir ein Geständnis ablegen ... Aber Du darfst mir nicht zürnen ... Ich habe nämlich Deine Friederike aufgesucht ... in Sesenheim ... Mein Herz trieb mich hin ... und ich habe es nicht bereut ... sie ist ein herrliches Mädchen ...«

»Aber Lenz!« sagte Goethe mit mildem Vorwurf. »Das hättest Du nicht tun sollen! – Du hast Dich wohl gar in das Mädchen verliebt? Gesteh's nur! Und findest Du so etwas geschmackvoll? – Du weißt doch, wie eng Friederike und ich einst miteinander verbunden waren! Und daß, was einmal in meinem Herzen lebte, nie ganz tot für mich sein kann! Auch, wenn das Schicksal rauh dazwischen getreten ist – und uns auseinandergerissen hat! – Und da willst Du – wie soll ich sagen? – mein Erbe und Nachfolger sein? – Ich verstehe Dich nicht, mein Lenz!«

Mit puterrotem Gesicht hörte der Gescholtene zu.

»Ich konnte nicht anders, Goethe!« suchte er zu erklären. »Grade aus meiner Liebe zu Dir heraus quoll mein Mitleid mit der Verlassenen. – Ich habe ihre Tränen gesehen, die sie um Dich weinte! Und diese Tränen bedeuteten meinem Herzen süßeste Wollust. – Ja, Du lebst noch in ihr, wirst ewig in ihr leben! Wenn sie auch tapfer und heldenhaft resigniert hat! Und mir eine schwesterliche Zuneigung nicht verwehrt, die für mich, das Stiefkind des Schicksals, schon ein Glück bedeutet. Mehr Glück, als Du vielleicht ahnen magst – Du Allseitig–Verwöhnter, Du Hätschelkind des Schicksals!«

Es glitt etwas durch Lenzens Augen, das Goethe bisher noch nie darin bemerkt hatte. Sollte auch diese enthusiastische Freundesseele, die sonst nur in voller Reinheit sich ihm erschloß, vom schleichenden Gift des Neides angefressen sein? Ein Schmerz durchzuckte Goethes Brust. Rasch suchte er ihn niederzukämpfen. Liebte er nicht Lenz – fast mehr wie je einen anderen Freund? Und sollte nun solch Schatten zwischen sie treten?

»Wir wollen von diesen Dingen nicht mehr sprechen«, sagte er nach einigem Stillschweigen, leise. »Hörst Du? Niemals wieder! Es soll zwischen uns begraben sein! – Und nun laß uns aufbrechen! Die Sonne lacht so verlockend – wir wollen hinaus nach Schittigheim pilgern!«

»Du bist mir auch nicht böse, Goethe?« murmelte Lenz und seine Hand umkrampfte, während sie sich auf den Weg machten, des Freundes Ärmel. »Sieh, ich könnte ohne Deine Liebe und Achtung nicht leben! Kein Mensch hat mich bisher so verstanden wie Du! Auf keines Menschen wahre Freundschaft lege ich solch Gewicht wie auf Deine! Ich bin ja im Grunde ein armer unglücklicher Vogel! Von widersprechenden Empfindungen hin und her geworfen! Ein Bruder Deines Werther – ach, allzusehr! Aber nicht so über ihn Herr geworden, wie Du!«

Goethe lächelte schmerzlich.

»Was sagst Du, Freund, was wähnst Du?« entrang es sich ihm. »Auch in mir steckt Werther leider noch viel zu tief! – Aber freilich, ich sehe, daß ich dorthinaus muß! – Noch trage ich seine Tracht ... die Freunde wünschen es und ich gebe ihnen nach ... aber ich fühle sie schon beinahe wie eine Livree, die ich abwerfen sollte. Und bald, so hoffe ich, wird sie mir nur mehr Maskerade bedeuten. – Glaub es mir, Lenz, dies ist unsere wichtigste Aufgabe: den Werther in uns zu überwinden! Das wird freilich noch viel sauren Schweiß kosten.«

»Du wirst es vollbringen, ich fühle es!« erwiderte Lenz enthusiastisch. »Du als erster von uns allen! Stets bist Du uns vorangeschritten und wirst es auch weiterhin! Es geht eine Kraft von Dir aus, die unbezwinglich ist ...«

In Lenzens großen, hellgrauen Augen strahlte wieder jene Innigkeit auf, die ihnen so etwas Bezwingendes und zugleich Rührendes zu geben vermochte. Auch Goethe konnte sich dieser Einwirkung nicht entziehen. Wenn er auch ein leises Weh der Enttäuschung noch in sich nachzittern spürte, so fühlte er doch, daß er dem Freunde wieder gut war.

Sie verabredeten, daß sie noch länger zusammenbleiben wollten. Lenz hatte eine alte und tiefe Verehrung für Goethes Schwester Cornelia. Wenn der Bruder in wenig Tagen nach Emmendingen hinüberreiten würde, sie zu besuchen, sollte Lenz ihn begleiten dürfen. Von den Stolbergs würden sie sich vorläufig trennen.


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