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Die »Zwirnsfädchen« knüpfen sich

Lili war in Offenbach, im Hause ihres Vetters d'Orville und dessen munterer Gattin Dorothee, geborener Bernard. Von dem anmutig gelegenen, komfortabel ausgestatteten Landhaus führte ein weitläufiger, parkähnlicher Garten bis fast zu den Ufern des Mainstromes hinunter. Lili wurde dort wie ein Kind vom Hause gehalten und durfte Goethe des öfteren bei sich empfangen.

In voller Pracht war der Frühling eingezogen. Noch vor Mitte April gab es Tage, so warm oft wie im Juni. Da war es herrlich, zu wandern. Und Goethe, der jede freie Stunde nutzte, um in die Natur hinauszupilgern, war jetzt unaufhörlich unterwegs. Der Frühling »arbeitete« ordentlich an seinem Herzen. Er dichtete im Dahinschreiten, summte gern allerhand Verslein vor sich hin und ließ sich zuweilen auf einem Stein oder Baumstumpf nieder, um rasch etwas in sein Notizbuch zu kritzeln. Die Anwaltsgeschäfte lagen fast ganz beim Vater, der sich brummend damit abfand. Er selbst, der hochgemute »Herr Filius«, vernachlässigte sie »schändlich«. Oder, wenn er sie ausübte, »so heimlich-leise, als triebe er Schleichhandel«.

Es gab der Wege viele, die er wanderte. Warum also nicht einmal gelegentlich über die Gerbermühle, nach Offenbach? Ins Haus d'Orville durfte er jederzeit ungeniert eintreten. Der Hausherr, zwei Jahre älter als er, war aus Lilis Verwandtschaft immerhin der Erträglichste und nicht ganz ohne künstlerische Interessen. Sonst ein resoluter und rühriger Geschäftsmann, seit einer Reihe von Jahren Teilhaber der gutgehenden Offenbacher Schnupftabakfabrik, einer Gründung des in der Familie hochangesehenen Nicolaus Bernard, eines Oheims der jungen Frau d'Orville. Diese, im Alter zwischen Goethe und Lili, war eine äußerst lebenslustige junge Frau, hielt aber die Zügel des Haushalts stramm in der Hand. Sie teilte sich mit Lili in die Beaufsichtigung und Pflege ihrer vier kleinen Kinder, dreier herziger Mädel zwischen sieben und drei Jahren und eines geliebten kleinen Tollpatsches von Jungen, der gerade das zweite Jahr zurückgelegt hatte. Auch hier waren die Kinder wie verliebt hinter Goethe her, der voll lustiger Einfälle steckte und zusammen mit »Tante Liese« so reizend mit ihnen zu spielen wußte.

Er selbst konnte stets Unterschlupf finden bei seinem um etwa acht Jahre älteren Freunde Johann André, der sich in Frankfurt einen Musikverlag gegründet hatte und in Offenbach dem d'Orvilleschen Hause gegenüber wohnte. André war auch Komponist, und Goethe hatte ihm sein Singspiel »Erwin und Elmire« anvertraut, das ihm schon deshalb besonders am Herzen lag, weil er mancherlei Anspielungen auf sein Verhältnis zu Lili dort hineingeheimnist hatte.

Wenn er nur das Mädchen nicht so lieb gehabt hätte – so daß jeder Tag ihn ein verlorener dünkte, an dem er sie nicht, ob auch noch so kurz, zu Gesicht bekam! Sie dünkte ihn, wenn sie auf Gartenwegen ihm entgegenschritt oder am Parkgitter verstohlen auf ihn wartete, noch weit lieblicher als in der Stadt. Hier war sie der Natur näher – und da fiel so manches von ihr ab, was sonst mitunter als Konvention um sie stand. Und wie voll sie hier erblüht war! Ihre Hautfarbe schimmerte in wunderbarem pfirsichfarbigem Hauch, ihre Augen leuchteten klar und frisch, und ihr Blondhaar, jetzt kaum je von einem Körnchen Puder berührt, blinkte in entzückendem Glanz – gleich als hätten sich neckische Sonnenstrahlen darin verfangen. Sooft Goethe mit ihr allein sein konnte, fühlte er sich selig. Lilis ganzes Wesen strömte eine Einfachheit, Heiterkeit und Güte aus, die ihn völlig umstrickte. Ihre Art, mit den Kindern zu tollen und zu lachen, entzückte ihn nicht minder, und gern ließ er sich in dieses Gejauchze mit hineinziehen. Wäre es nur immer so geblieben! Doch schlimm wurde es, wenn junge Herren sich beigesellten und, ziemlich aufdringlich, die Galanten herauskehrten.

Was ihn aber am meisten beunruhigte, war, daß in solcher Umgebung selbst Lilis Benehmen sich seltsam änderte. Sie zeigte sich dann plötzlich wieder als Gesellschaftspuppe. Und »Herr« Goethe war nur einer der vielen Courmacher, die sie um sich versammelte.

Es lag ihm aber nicht, vor den scheelsüchtigen Augen der Mitbewerber Gnaden von ihr zu erbetteln oder gar ein wenig Aufmerksamkeit sich zu erschleichen, während dies alles sich doch für ihn von selbst verstand! Oder sollte er sich etwa als Rivale des Herrn Manskopf fühlen?

Eine förmliche Wut konnte aber den vor Eifersucht Bebenden zuweilen überkommen und zu allerhand Torheiten hinreißen, wenn er sich gelegentlich zurückgesetzt wähnte. Als er seiner Angebeteten einmal ein paar Pfirsiche mitbrachte, die er daheim, an einem besonders gepflegten Bäumchen, eigens für sie herangezüchtet hatte, und sie diese mit gleichgültiger Miene hinnahm und der Gesellschaft ihrer Jünglinge präsentierte, da empörte ihn diese »Herzlosigkeit« dermaßen, daß er einen der Pfirsiche von der dargebotenen Schale herunterlangte, knirschend in den Kies warf und mit dem Fuß darauf trat. Allgemeines Entsetzen! Lili selbst erblaßte, schien sich aber irgendwie schuldig zu fühlen. Unter gespieltem Vorwand zog sie eines der Kinder, das vorhin über Leibweh geklagt hatte, an sich und verschwand mit ihm ins Haus.

Herr Doktor Goethe aber mußte sich von den anwesenden Stutzern mit vorwurfs- und verachtungsvollen Blicken strafen lassen! Zum Davonlaufen war das! Und er lief auch davon!!

Derlei Zwischenfälle, so nichtssagend sie sein mochten, waren unleidlich. Da mußte etwas von Grund auf sich ändern. Die innere Verbundenheit, die er zu Lili gewonnen hatte, mußte auch äußerlich anerkannt und respektiert werden. Also doch: ein Verlöbnis? Goethe graute vor diesem offiziellen Schritt!

Lili selbst freilich, dies war deutlich zu spüren, wäre einer ordnungsmäßigen Regelung, wie eine »Verlobung« sie bedeutete, im Grunde nicht abgeneigt gewesen. Sie zauderte nur, weil sie Goethe zaudern sah. Auch Frau Schönemann wäre herzlich froh gewesen, wenn das »Zwirnsfädchen«, das täglich reißen konnte, sich endlich fester hätte knüpfen lassen. Aber an der Entschlußkraft, hier ein Machtwort zu sprechen, fehlte es ihr gleichfalls.

Da kam der Zufall den Unentschiedenen zu Hilfe. In Heidelberg lebte eine weitläufige Verwandte der Schönemann, eine Jungfer Delph, eine resolute Geschäftsfrau und energische Person. Als diese in der zweiten Aprilhälfte für ein paar Tage nach Frankfurt zu Besuch kam, nahm sie die Sache in die Hand.

»Das ewige Gefackel nützt nichts«, sagte sie. »Klarheit muß geschaffen werden!«

Da sie überzeugt war, daß Lili und Goethe nicht bloß einander liebten, sondern auch zur Ehe begehrten, so war nach ihrer Meinung der Weg vorgeschrieben. Es traf sich gut, daß sie auch im Goethehaus keine Unbekannte war und insbesondere vom Herrn Rat wegen ihrer Derbheit und Ehrlichkeit sehr geschätzt wurde. Als sie diesen, dem Lili als »Staatsdame« galt, nach zweistündiger Redeschlacht glücklich »herumgekriegt« hatte, fühlte sie sich befriedigt. Die übrigen Nächstverwandten widerstrebten ja kaum. Und was »die sonstige Suite« dazu sagen würde, meinte Jungfer Delph in ihrer kurzangebundenen Art, »das wollen wir mal vorderhand gänzlich aus dem Spiel lassen«. »Die Leutchen«, fügte sie hinzu, »könnten ja noch immer zeitig genug ihren Senf dazugeben!«

Nach verrichteter Tat suchte sie das Pärlein, Goethe und Lili, im Hause »Am Liebeneck« auf, wo sie es im Wohnzimmer, ziemlich kleinlaut, auf dem Sofa sitzend antraf.

»Also, Kinder, steht mal auf und reicht Euch die Hände!« kommandierte Jungfer Delph mit ihrer drolligen Baßstimme. »So! Und nun seid Ihr verlobt! Fallt Euch in die Arme und gebt Euch 'nen Kuß!«

Goethe, von seinem »Glück« überrumpelt, vermochte ein Spottlächeln kaum zu verbeißen. Die ganze Situation dünkte ihn, in ihrer Gemachtheit nicht ohne eine gewisse Komik. Lili aber stand tief-ernst, mit gesenktem, rotübergossenem Antlitz da und regte sich nicht. Da faßte Goethe sie behutsam und zärtlich um den Leib. Sie blickte zu ihm auf, scheu, als gelte es eine abermalige Prüfung seiner Person. Empfing aber dann doch seine Lippen auf den ihrigen und lehnte zutraulich ihr Köpfchen an seine Schulter. Leise atmete sie – glücklich! Jungfer Delph hatte sich taktvoll entfernt.

Noch am gleichen Abend wurde ein allerliebstes Körbchen wundervoll duftender, tiefroter Rosen für Lili gebracht. Und wenige Minuten später erschien Goethe selbst, um die Lippen ein geheimnisvolles Lächeln.

»Du bist nun mein Bräutchen«, sagte er innig. »Da sollst Du auch ein Andenken von mir tragen.« Damit entnahm er einem kostbaren Saffianetui ein reizvoll geformtes goldenes Herz, das er an einem Seidenbändchen ihr um den Hals schlang.

Lili nahm es errötend entgegen, legte es dann auf den weißen Rücken ihrer linken Hand und betrachtete es mit inniger Bewegung.

»Du sollst morgen von mir ein gleiches erhalten«, sagte sie einfach. »Das mußt Du dann immer tragen und, sooft Du es auf Deiner Brust fühlst, stets mit Liebe an mich denken.«

»So soll es sein«, erwiderte Goethe. Und fand es nun gar nicht mehr so schrecklich – »Bräutigam« zu sein!


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