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Von Freund zu Freund

Wolfgang Goethe und Fritz Jacobi schlenderten durch die Stadt.

Es war ein heiter leuchtender Wintertag. Die Frühnachmittagssonne glitzerte in Fensterscheiben und auf Dächern und warf blanke breite Felder auf die mit dünner Schneeschicht bedeckten Straßen und Plätze. Morgen war Sonntag. Darum eilten viele Frankfurter Bürgersfrauen und Mädchen hinaus, um noch rasch ihre letzten Besorgungen zu machen. Dies ergab ein eifriges Flanieren, da nun natürlich auch die Herrenwelt nicht zu Hause bleiben wollte und sich, wohl herausgeputzt, vor dem anderen Geschlecht blicken ließ.

Goethe hatte an derlei nicht gedacht. Ihn und seinen Freund lockte lediglich der schöne Tag. Das viele Getümmel um sie her war ihnen eher leid. Auf der Neuen Kräme und am Liebfrauenberg drängten sich die Menschen, und selbst als sie auf die breitere »Zeil« hinaustraten und dem Paradeplatz sich näherten, war ihnen des Gewimmels noch zu viel. Vor der Hauptwache waren Soldaten aufmarschiert. Gaffer standen umher und viel junges Frauenvolk der unteren Stände hatte, zusammen mit Kindern, sich angesammelt und beglotzte mit stiller Begeisterung jeden Gewehrgriff, jedes »Kehrtum!« Die beiden Spaziergänger ließen den gleichfalls recht belebten Roßmarkt links liegen und strebten über den Steinweg dem stilleren »Comoedien-Platz« zu, an dessen Stirnseite sich das Schauspielhaus, genannt »Der Junghof«, erhob. Dort befand sich auch die Pasteten- und Tortenbäckerei des kaiserl. Hoftraiteurs Johann Michael Lerpscher, in deren gemütliches Dämmerstübchen man sich, bei anwandelnder Laune, getrost zurückziehen konnte.

Einstweilen verspürten die Freunde hierzu noch keine Lust. Sondern es war verlockend, in der schönen Sonne auf dem wie eine Galerie langgestreckten Platz in eifrigen Gesprächen auf und nieder zu wandeln, stets umweht von der für junge Dichterherzen so labsamen Theaterluft.

Jacobi hatte sich angelegentlich bemüht, Goethe zu weiterer und recht reichlicher Mitarbeit an der von seinem Bruder Georg herausgegebenen Monatsschrift »Iris« zu ermuntern, und er war glücklich, vom Freunde eine vielversprechende Zusage zu erhalten. Jetzt schwärmte er von seinem Roman »Allwill«, den er in Vorbereitung hatte, und in dessen Helden er keinen anderen als Goethe selbst, in einer Art von Idealgestalt, zu porträtieren hoffte.

»Du verstehst mich«, entwickelte er. »Es ist ein Mensch, groß genug, sich an keinerlei Gesetz oder Zwang zu binden. Nur sich selbst und nicht etwa das enge Gebot der Sitte anerkennt er als Maßstab seines Handelns.«

»Das muß ja ein wahrer Teufelskerl werden«, lachte Goethe. »Aber wieviel er mit mir zu tun hat, das wollen wir erst noch abwarten. – Der Dichter, dies ist wenigstens meine Erfahrung, kann nie völlig aus seiner eigenen Haut heraus. Und wenn wir darum, glaub' ich, Deinen Herrn Allwill bei Tageslicht betrachten, so wird letzten Endes doch wohl so etwas wie ein Friedrich Heinrich Jacobi dabei herausspringen.«

»Glaube mir, Freund«, erwiderte Jacobi mit Wärme, »ich könnte mir nichts Herrlicheres denken und würde gradezu den höchsten meiner Wünsche erfüllt sehen, wenn es mir gelänge, in meinem Allwill unser beider Seelen zusammenfließen zu lassen. Ich in Dir – und Du in mir: das gilt mir als das Ideal meiner Allwill-Gestalt!«

Goethe verschluckte ein kleines Unbehagen. Er sah den anderen in ehrlichen Flammen stehen, fühlte vor allem dessen ihm entgegenschlagendes liebevolles Herz – da mochte er ihn nicht durch vorzeitige Skepsis ernüchtern. Eigentlich rührte ihn ja die unbedingte Anhänglichkeit dieses lieben und geistig so hoch strebenden Menschen. Und er war sich der eigenen Zuneigung zu ihm voll bewußt.

»Friederice«, sagte er und drückte des Freundes Hand. »Ich danke Dir. Ich weiß, wie wir uns im Leben aufs innigste verstehen. Warum soll nicht auch ein Dichtwerk, zum Gedenken der Menschen, uns miteinander vereinigen?«

Jacobi warf ihm einen feurigen Dankesblick zu.

»Du Guter!« sagte er. »Aber warum erzählst Du mir nicht mehr von Dir selbst? Seit ich in Deinen ›Faust‹-Blättern gelesen habe, bin ich voll gespanntester Erwartung!«

»Dies alles ruht jetzt«, preßte Goethe hervor. »Hab' an meinem ›Faust‹ seit vielen Wochen keinen Strich mehr getan. Weiß kaum mehr, daß ein ›Faust‹ bei mir überhaupt existiert.« Und, sich selbst ironisierend, stieß er, etwas krampfhaft, hervor: »Ist das nicht ein Gedicht von einem verrückten deutschen Gelehrten, der sich mit dem Teufel eingelassen hat?«

»Sprich nicht so, Wolfgang, Du erzürnst mich!« schalt Jacobi mit weichem Vorwurf. »Dein Faustgedicht sollte Dir heilig sein! So aus Deinem Innersten heraus hast Du Dir das alles losgerungen. Dieses wundervolle Selbstgespräch, mit dem Du das Drama beginnen läßt, mit seiner tiefen Übersättigung an allem schalen Wissen, mit seiner wundervollen lyrischen Natursehnsucht und dann mit der Erscheinung des Erdgeistes – wieviel heiße Glückstränen hab' ich geweint, daß so Herrliches in unserer Zeit hat gedichtet werden können – und daß es mein Freund ist, mein geliebter Wolfgang Goethe, dessen reicher Seele dies alles entströmt ist!«

»Fritzel«, sagte Goethe gerührt, »Fritzel, Du bist ein guter Mensch! Du kannst Dich wirklich freuen an dem, was ein anderer macht! Während sonst das Literatengeschmeiß zunächst vor Neid zerplatzt! – Ja, in dem, was ich meinen ›Faust‹ da fühlen und sagen lasse, steckt viel von meinem Allerinnersten. Denn in Wahrheit ekelt mir längst schon vor allem Wissenskram. Hab' darum den Fakultäten später noch tüchtig eins ausgewischt – das muß ich Dir noch geben! – lasse da meinen Mephisto mit allem Teufelsspott, den ich nur aufbringen kann, dem ganzen Gelehrsamkeitsplunder und all seiner dicktuenden Afferei gehörig heimleuchten! Tut mir ordentlich das Herz erleichtern, wenn ich einmal so loslegen kann!«

»Hör mir auf mit Deinem Mephistopheles – das ist ein fürchterlicher Gesell!« platzte Jacobi fast ängstlich heraus. »Obwohl ich es ja eigentlich bewundern muß, daß Du auch diesen alles negierenden Sarkasmus in Dir hast! Mir würde so was jedenfalls niemals einfallen! Ja, ich würde es überhaupt nicht wagen, mit solch schneidendem Satanshumor alles kurz und klein zu schlagen!«

»Das muß eben auch sein!« erwiderte Goethe. »Das ist nur die kritisch-lustige Kehrseite von dem anderen: von dem entrückten Sichverlieren in der hohen Magie. Du, Fritzel, es gibt nichts Höheres, nichts Berauschenderes, als sich in die magische Sphäre der Geisterwelt zu versetzen! Kennst Du die ›Himmelsgeheimnisse‹ des wackeren Swedenborg? Das ist ein Buch – eigentlich ja ein Haufen schwerer Wälzer –, aber ich sage Dir: wenn man sich dahinein erst einmal versenkt hat, dann schwindelt einem ordentlich, so fühlt man sich hineingezogen in ein ewiges Aufundabschweben wirkender, flüsternder, ideendurchleuchteter Geister. Das ist mein Makrokosmus, zu dem Faust eigentlich hin will, vor dessen Übermächtigkeit er aber dann verzagt. So muß er sich mit dem weit geringeren Erdgeist begnügen – aber auch das ist ihm noch zu stark – und gerät so schließlich an dessen ganz kleinen Abgesandten Mephistopheles – der Dir, mein Guter, noch solchen Schrecken einjagt. Ist aber eigentlich ein ganz spaßhafter und skurriler armer Teufel, der nur deshalb manchmal so ergrimmt tut, weil er in Wirklichkeit nicht viel ausrichten kann!«

»Mit Freuden höre ich«, versetzte Jacobi, »wie das alles noch in Dir wogt und lebt! – Und tatest eben erst so, als ob Du allen diesen Dingen Valet gesagt hättest! – Frisch heran ans Werk! Da vor uns steht der ›Junghof‹, wo sie Theater spielen! Nächsten Winter, so hoffe ich, wird Dein fertiger ›Faust‹ dort über die Bretter gehen. Und ich verspreche Dir, ich komme eigens aus Düsseldorf angereist, um diesem Feste mit beizuwohnen!«

»Sehr freundlich, daß Du so denkst«, scherzte Goethe. »Aber mit dem Fertigwerden des ›Faust‹ hat es noch gute Weile. Das muß ich langsam, ganz langsam reifen lassen. Daran dichte ich nur, wenn ich dem Geiste, der mich dazu treibt, gar nicht mehr widerstehen kann. Treib' derweile manches andere. Das Neueste, was mich bewegt, ist ein Schauspiel für Liebende. Steht aber noch keine Zeile auf dem Papier.«

»Vielleicht weil Du selbst zu sehr liebst?« forschte der andere. Und lächelte verfänglich.

»Du könntest recht haben«, lächelte Goethe zurück, doch mit einem fast schmerzlichen Ausdruck. »Verliebt sein und dichten, beides zu gleicher Zeit, das schickt sich nicht recht zueinander. So oder so muß man erst frei sein. Dann wird das eine die Quelle des anderen.«

»Du sprichst in Rätseln«, meinte der Freund. »Und bist auch sonst von Widersprüchen voll. So glücklich-unglücklich, so unglücklich-glücklich. – Sag' mir, was ist mit Dir, Goethe? So ungemein ich Dich verehre – aber ganz gefällst Du mir nicht.«

»Ich gefalle mir selbst am allerwenigsten«, klang es fast düster zurück. »Himmel und Hölle liegen bei mir allzu verschwistert-nahe.«

»Möchtest Du Dich nicht näher erklären?«

In diesem Augenblick öffnete sich in der Konditorei Lerpscher die Tür. Und drei Damen traten hinaus auf den mit dem ersten Dämmerscheine sich überziehenden Platz. Eine ältere und zwei jüngere. Die Jüngste mit mehreren kleinen Paketen in der Hand.

Schier entgeistert starrte Goethe hinüber.

»Das ist sie«, flüsterte er, mehr zu sich selbst als zum Freunde.

Die Damen schlugen einen raschen munteren Schritt an, direkt den beiden zur Seite stehenden Freunden entgegen.

Devot zog Goethe den Dreispitz und verneigte sich voll Ehrerbietung. Etwas gedämpfter folgte Jacobi seinem Beispiel.

Die Damen lächelten huldvoll im Gegengruß, besonders jene Jüngste, die sanft errötete. Dann verschwanden sie in der Richtung zur Hauptwache.

»Wer waren die?« forschte Jacobi. »Ungewöhnlich feine Erscheinungen!«

»Eine Frau Schönemann mit ihrer Nichte Frau d'Orville und –«

»Na, und –«

»Der Frau Schönemann Töchterchen, ein Fräulein Lili Schönemann.«

»Und das ist sie also?« Jacobi lächelte verschmitzt. »Vor Deinem Geschmack allen Respekt! Etwas Reizvolleres vermag ich mir nicht zu denken. Hast Du übrigens bemerkt, wie sie, bevor sie um die Ecke bog, noch einmal ganz verstohlen sich umguckte.«

»Wirklich, der Schlaumeier hat das auch beobachtet?« höhnte Goethe. »So wird er es wohl gar auf sich bezogen haben?«

»Warum stichelst Du, Goethe? Fühlst Du nicht, wie ich mich mit Dir freue?« fragte Fritz Jacobi, beinahe verletzt.

»Verzeih mir, Freund! Ich bin manchmal so häßlich!« brach es aus Goethe hervor. »Ja, ich sehe, Du freust Dich – hast die edelste Mitfreude! Von meinem Friedericus konnte ich ja nichts anderes erwarten. – Ist sie nicht herrlich? Ist sie nicht das entzückendste Geschöpf, das unsereinem begegnen kann? Ja, dieser Blick, den sie auf uns zurückwarf, so voll von Liebe, – von jener Liebe, die ihr Mund noch nicht zu bekennen wagt – und die sie dennoch nicht verhehlen kann! Gewiß, ich bin glücklich, Freund! Glücklicher, als ich's verdiene!«

Wie er das hervorstrudelte! Wie er glühte! Jacobi blickte voll freudigen Stolzes auf den erregten Freund. Dann schloß er ihn in die Arme, mitten auf dem Platz, und küßte ihn auf beide Wangen.

»Jetzt mußt Du mir von ihr erzählen!« sagte er begierig. »Komm, wir gehen hinein in die Konditorei, aus der sie kamen. Dort finden wir gewiß ein stilles Plätzchen – und dann beichtest Du mir!«

»Himmlischer Gedanke!« jubelte Goethe. »Dort, wo sie gesessen hat, werden wir jetzt sitzen! Dann umschwebt uns noch der Hauch und Duft ihrer süßesten Gegenwart.«

Sie traten ein. Der Tisch, an dem, wie sie sich genau erkundigten, die drei Damen soeben noch gesessen hatten, war noch frei und so nahmen sie Platz. Es war ein kleines Holztischchen in einer Ecke. Mitten darauf stand in einem irdenen Krug ein Busch duftender Tannenzweige mit Zapfen. Goethe ergriff das Gefäß und führte die Zweige zum Antlitz. Und indem er ihren Duft einsog, hatte er das selige Gefühl, die Nähe der Geliebten in allen Poren zu spüren.


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