Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Vierundvierzigstes Kapitel

Als ich auf dem hochgelegenen Bahnhof von Lugano einfuhr, sah ich schon Peter Pütz, den schwarzen Hut in der Hand, eilig auf mein Abteil zukommen. Ein Lächeln lag auf seinem sauber rasierten, schon leicht von der Sonne gebräunten Gesicht, und der tadellos gezogene Scheitel glänzte.

Selten hat mich das Lächeln eines Mannes glücklicher gemacht. Ich wußte: Ben lebt, und es geht besser.

Das bestätigte Peter Pütz auch auf meine erste hastige Frage.

»Die gnädige Frau hat mich entgegengeschickt – wegen des Gepäcks,« fügte er hinzu. Und da er, meinen Handkoffer nehmend, wohl sah, daß ich nicht ganz verstand: »Die gnädige Frau aus Heidelberg.«

Wir fuhren mit der Drahtseilbahn hinunter. Am Kai der von Fremden belebten Piazza Giardino lag der Motor bereit. Ein blitzblank sauberes Schiffchen mit winziger Kajüte, darin ein Blumenstrauß auf dem Tisch, ein paar Bücher und Karten, ein Fernglas. Die deutsche Fahne am Heck. Gaëtano, in blauer Matrosenbluse, gebräunt und einen blauen Anker in die Halsgrube tätowiert, grüßte und half mir über die schwellenden venezianischen Kissen beim Sprung von der nassen Steintreppe. Gleich darauf ratterte der Motor. An den Hotels, Villen und Gärten von Paradiso vorbei, ging's leicht und hurtig am Fuß des Monte S. Salvatore hin, quer über den See auf ein freundliches Städtchen zu.

»Campione,« erklärte Peter Pütz zuvorkommend, »das ist italienisch, mitten im Schweizerischen. Es gab da, sagt Herr Doktor, eine berühmte Bildhauerschule. Aber das ist lange her, vier Jahrhunderte, glaub' ich, oder mehr noch.«

So lockend schön die Landschaft die Ufer in der Sonne breitete, ich war jetzt nicht begierig, den Ruhm dieser lachenden Städtchen zu hören, noch die Namen der dunklen Berge, die sie hoch überschatteten.

»Er fiebert noch?«

»Heute nur 39,4 – gestern 40,3. Der Doktor aus Melide erwartet heute oder morgen die Krise, der Professor aus Lugano übermorgen. Aber wenn ich mir ein Urteil erlauben darf, der Doktor scheint mir diesmal gescheiter, als der Professor. Auch die gnädige Frau hat mehr Vertrauen zu ihm.«

»Und wie kam das Schreckliche?«

»Der Herr Doktor müssen wissen, wir haben in unserem Hafen – einen eigenen kleinen Hafen haben wir, ja, mit einer Trauerweide darüber. Oh, ein wunderschöner, man möchte fast sagen: ein poetischer Baum. Ja, da haben wir nun ein Schiffchen zu liegen, neben dem Motor – den hat der gnädige Herr nur gemietet vorerst, aber das Bootchen hat er gekauft. Wir haben zusammen – Gaëtano und ich, und der gnädige Herr hat mitgeholfen, ja – wir haben die deutschen Farben an den Rand des Boots gestrichen. Dabei ist leider der eine Flanellanzug des gnädigen Herrn, der englische – aber das wird Herrn Doktor weniger interessieren – ich hab' ihn eben dicht bei San Lorenzo zur chemischen Reinigung getragen. Oh, Lugano ist ja nicht groß – aber sehr vornehm durch die vielen distinguierten Fremden. Man kann da alles haben, ja – sogar ein »Jeu«, ja. Wem Monte Carlo zu weit ist, der . . . Aber der gnädige Herr spielt nicht, er nimmt anderen nichts ab, auch nicht einer Spielbank, und – –«

»Und was war mit dem Boot?«

»Gleich als die gnädige Frau mit dem Jungen kam – oh, es ist ein so lieber Junge – wenn ich mir das erlauben darf, ein ganz prächtiges Kerlchen, so zutraulich und vergnügt – und er sieht – es gibt solche Naturspiele, nicht wahr – sieht dem gnädigen Herrn wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Auch – wenn ich mir das erlauben darf, mit dem Herrn Doktor hat er etwas Ähnlichkeit so um die Stirn und – ja . . .«

»Lassen wir die Naturspiele, lieber Pütz. Was war mit dem Boot?«

»Ja, der Junge hatte gleich solche Freude daran. Fast mehr noch, als an dem Garten und dem kleinen Denkmal. Schließlich Denkmäler sind ein bißchen langweilig für Kinder – der gnädige Herr hat da die Statue eines gewissen Dante – wenn ich mir das erlauben darf, es war ein Dichter, ein italienischer Dichter, den der Herr Doktor sehr schätzt. Ist aber längst tot und nicht am See geboren.«

»Danke, Pütz, ich weiß. Und das Boot –«

»Ja – der Kleine wollte immer rudern. In Heidelberg schon, sagte die gnädige Frau, hat er das auf dem Rhein – nein, es ist ja wohl der Neckar, ja – auf dem Neckar hat er das viel geübt. Ist auch gewandt und hat wohl Talent für Sport und so. – Aber der Neckar ist kein See, nicht wahr – und der Luganer See, wenn ich mir das erlauben darf, darauf aufmerksam zu machen, wie schön er ist – wir fahren jetzt dort auf den Brückenbogen des Seedamms – ja, das ist merkwürdig, mitten durch den See geht hier ein Damm, darauf fährt die Bahn, die von Lugano kommt, nach dem anderen Ufer nach Mailand. Daher kam auch der Dante in unser Gärtchen –«

»Und der Kleine fuhr also in dem Boot – allein?«

»O nein, das erlaubte die gnädige Frau durchaus nicht. Manchmal ruderte ich mit – oder Gaëtano, das ist der dort – jetzt lacht er, er hat seinen Namen gehört, ja – er hört immer zu und versteht doch gar nichts. Ist Tessiner, Schweizer, spricht aber nur italienisch. Das ist schade. Ja, und meist ruderte der gnädige Herr mit dem Kleinen. Oh, es war eine Lust zu sehen – ich habe den gnädigen Herrn, wenn ich mir das erlauben darf, nicht mehr so fröhlich gesehen, seit er aus dem Orient kam. Damals, direkt vom Sultan, der ihm dann später den schönen Orden – Herr Doktor wissen. Wir haben ihn leider vergessen, den Orden, bei der Abreise von Berlin. Es ging so rasch und – Aber nun wird ja der gnädige Herr wohl bald die Rettungsmedaille – die gibt's doch sicher auch in der Schweiz?«

»Ich weiß nicht. Also mein Bruder fuhr mit dem Jungen im Boot – und der fiel heraus, oder wie –?«

»Doch nicht. Der gnädige Herr war in der Rosenlaube – oh, sie ist herrlich, direkt am blauen Zimmer – ganz grün umsponnen ist die Laube, jetzt sind ja nur wenige Rosen – aber wenn man denkt: November! Gaëtano sagt, im Sommer blühen da Hunderte, Tausende. Und der gnädige Herr nahm mit der gnädigen Frau den Tee, ja – ich hatte serviert und mich zurückgezogen – aber Gaëtano, der draußen am Gitter vorbeiging – er bummelt gern, wenn ich mir das erlauben darf, so am Gitter, wenn er nichts zu tun hat. Ein netter Kerl, ja, aber mit dem Fleiß, da ist er nicht so recht . . . Ja, also er strich so am Gitter hin und sah – und sagt – – Aber das ist ja so natürlich, nicht wahr, wenn ich mir das erlauben darf, wo doch der liebe Junge durch das Spiel der Natur . . . Und nach der langen Zeit – Der gnädige Herr hatte die gnädige Frau in den Arm genommen – sagt Gaëtano – und so saßen sie und schauten nach dem Denkmal – Es ist wirklich schön, so auf der grünen Wand. Nur die Nase ein bißchen lang – aber der gnädige Herr meint, die habe der Dante genau so im Gesicht gehabt, als er noch lebte. In Verona, glaub' ich. Gewiß, es gibt solche Nasen – der Schwiegersohn vom Herrn Pfarrer Knospe, oh, ein wahrhaft edler Mensch, das kann ich wohl sagen – der hatte auch eine Nase, die – – aber niemand hat im . . . hm, hat dort, wo ich damals war, gelacht über die Nase. Denn es kommt darauf an, wenn ich mir das erlauben darf, wer die Nase trägt . . .«

»Morcote!« rief Gaëtano feixend herüber, sichtlich froh, auch mal etwas sagen, etwas zeigen zu dürfen. Sein Arm wies auf das Städtchen, das in freundlichen Terrassen anstieg und sich in Rebenhängen fortzusetzen schien. Der hohe, rötlich schimmernde Turm der Madonna über den Zypressen des Friedhofs reckte sich stolz in die klare Luft. Unten an der Piazza konnte man schon die echt italienischen Bogengänge der Häuser, die sich wie ein durchlöcherter Gürtel hinzogen, deutlich erkennen.

»Wir müssen erst noch um den Ausläufer des Bergs, es ist der Monte Arbostora, ja – »Monte« heißt Berg, Arbostora ist der Name – um den müssen wir herum. Dann sieht man erst die Villa. Ja, der Junge – Gott, wie so Kinder sind, wenn ich mir das erlauben darf – hatte wohl gesehen, daß der gnädige Herr und die gnädige Frau ihn nicht beachteten – und da war er hinuntergegangen, nicht wahr, und hatte das Boot losgemacht. Das Boot war noch ganz mit den Nelken geschmückt vom Tag zuvor – da war so ein kleines Fest gewesen in Morcote, und alle Leute trugen Blumen – und wir hatten die vielen schönen Nelken aus dem Garten genommen – – Der See lag ganz still, nicht wahr, es schien wirklich keinerlei Gefahr – ich denke wohl, es ist auf dem Neckar nicht anders. Der Junge wollte sicher auch nicht weit hinausrudern – nur so ein paar Ruderschläge – so immer bloß an der Kette ist niemand gern; wenn er jung ist, schon gar nicht. Aber es sind da doch Strömungen – es treibt leicht weiter, als man will – das ist ja im Leben überhaupt so. Man spielt bloß so mit dem Ruder – und schon treibt man. Und nun kam das Schreckliche – Mein Gott, wenn ich daran denke! . . . Das Dampfboot kam von Brusimpiano – in voller Fahrt. Den Steuermann trifft keine Schuld – er hat richtig den Kurs gehalten. Es war auch eigentlich wohl keine Gefahr für den Nachen – aber er kam doch in die Schraubenwellen des Dampfers. Das Geschaukel hat den Kleinen wohl ängstlich gemacht – Der See ist kein Neckar, nicht wahr – er verlor ein Ruder, neigte sich, wohl zu rasch, nach der linken Bootswand, das Schiffchen legte sich zur Seite, nahm Wasser über – der Junge schrie . . . ein-, zweimal – ganz gell in Todesangst – – und dann – Ja, das hab' ich nun alles oben vom Fenster gesehen – ich legte gerade die Wäsche des gnädigen Herrn in den Schrank, die aus Lugano gekommen war – da hör' ich den Jungen schreien – sehe hinaus – – lieber Gott, da kenterte gerade der Nachen – – Der gnädige Herr, der an die Gartenmauer gelaufen ist auf den Schrei – der sieht den Jungen – ich werd's nie vergessen, wie der arme kleine Kerl in seiner Todesangst die Ärmchen hob, als wollt' er sich am Himmel festhalten – – Ja, aber der Himmel, wenn ich mir das erlauben darf, der Himmel hält keinen fest, der mal die Erde unter den Füßen verliert oder die Schiffsplanken . . . Und der gnädige Herr wirft den Rock hinter sich – er trug den rohseidenen Anzug, den er in Wien gekauft hat, ja – und klettert auf die Mauer – sie ist ja nur kniehoch und fällt direkt ab in das Wasser – und mit einem weiten Sprung in den See! . . . Das waren ein paar ganz schreckliche Minuten – vielleicht war's auch nur eine – aber das läßt sich wirklich nicht messen, wenn das Herz stillsteht vor Schrecken – Die gnädige Frau an der Steinmauer – ich glaubte jeden Augenblick, sie stürzt sich auch in den See – und ich oben am Fenster, immer mit dem lilafarbenen Hemde des gnädigen Herrn in der Hand – von Steinhardt Unter den Linden, ja – ich hatte das gerade zusammengelegt, um es in den Schrank . . . Wie gelähmt war ich – und dachte immer nur: lieber Gott, das ist doch nicht möglich – das darf doch nicht sein – das träumst du bloß, Peter Pütz . . . Und gerade wie der Junge untertauchen will, ganz still schon, wie ein Sack mit Schwämmen, denk' ich mir – da faßt der gnädige Herr, oh, er schwimmt herrlich – es sah einfach schön aus, wie er so das Wasser teilte und – – ja, also, da faßt er ihn – und jetzt ist auch schon Gaëtano mit dem Motor heran . . .«

»Si, Signore, Gaëtano -!« Er hat aufmerksam zugehört und wohl begriffen, von was die Rede ist. Jetzt reckt er sich, stolz über seinen Anteil am Rettungswerk, und lächelt: »Si, Signore, Gaëtano.«

»– ist heran und stoppt und reicht dem gnädigen Herrn die Stange über Bord. So – nicht wahr. Der greift zu – im anderen Arm hält er den Jungen. Der ist ganz blaß vor Todesangst – aber er lebt und hat die Augen auf und schluckt immer noch Wasser. Das Wasser läuft ihm aus den Haaren. Und so sind die drei – –«

Ein Schauer war mir über den Rücken gekrochen. Während Peter Pütz erzählte, umständlich, abschweifend und doch so beängstigend in seinem unmittelbaren Miterleben, stieg der Traum wieder in meiner aufgepeitschten Seele empor, den ich in jener Nacht gehabt, die Bens wunderlicher Verlobung folgte. Ich hatte, schlafend, einen kleinen, blonden Jungen erblickt, in einem schmalen Nachen, der vollgepackt war mit geflochtenen Körben. Dann wuchsen Nelken aus den Körben, lauter herrliche Nelken aus all den Körben, und überrankten und überwucherten das spielende Kind, bis ich es nicht mehr sah. Und unter der Last der vielen, vielen Blumen ging der beladene Kahn immer tiefer ins Wasser nieder; tauchte, nahm grüne Wellen über, sank und verschwand . . .

»Aber jetzt können der Herr Doktor die Villa sehen! Dort – dort ist die Trauerweide, nicht wahr, die beugt sich über den Hafen, wie eine Frau, die weint, wenn ich mir das erlauben darf – Ja, und da liegt das Unglücksbootchen fest, ja. Und alles darunter ist voll Nelken – man merkt's gar nicht, daß wir so viele für das Boot genommen hatten. Und bemerken der Herr Doktor jetzt, dort am offenen Fenster – über dem Gartenportal mit den Steinlöwen, die hat der gnädige Herr in Lugano gekauft, ja – da, sehen Sie, steht die gnädige Frau und winkt mit einem Tuch . . .«

Gaëtano stellte den Motor ab. Sanft glitten wir an der rissigen Steinmauer des Gärtchens entlang. Die Trauerweide streichelte uns freundlich mit ihren feuchten, schleifenden Zweigen, als wir in den kleinen Hafen einfuhren. Gaëtano sprang auf die feuchte Treppe und zog klirrend die Kette an.

Über die wippende Holzplanke stieg ich in meines Bruders kleines Paradies.

. . . Es war später Nachmittag und die Kanten der Berge zeigten schon die leichtgetönten Farben des Abends, als ich an der weißen Büste Dantes, die von der grünen Laubwand den edlen lorbeergeschmückten Kopf hob, vorbei auf Ev' zuschritt. Sie stand jetzt in der Tür zum Garten und hielt mit der Linken dicht an sich geschmiegt einen süßen Knaben. Der sah mich unter blonden, wuscheligen Locken mit Bens guten, großen Augen an.

»Lieb, daß Sie kommen!« Sie streckte mir die Hand hin, die noch weich und rund war wie damals. »Er hat sich so nach Ihnen gebangt. Ich mußte immerzu am Fenster stehen und ausschauen, ob Sie wirklich . . . Jetzt ist er so froh und liegt, trotz der Schmerzen in der Brust, lächelnd in den Kissen.«

»Ev, wir haben einmal »du« gesagt . . . Wir wollen doch wieder . . .?«

Sie nickte nur. Man sah ihr die durchwachten Nächte an. Aber ihrem Köpfchen, das nicht mehr ganz so voll und frisch war wie einst, stand das junge Leid gut. Und das immer noch herrlich reiche Haar beugte es, wie eine schwere golddurchglitzerte Krone, ein wenig nieder.

Ich küßte den Jungen. Die Knabenlippen ruhten fest und ohne Scheu auf meinem bärtigen Mund. Die Bäckchen waren braun von der Sonne, und das ganze stramme Kerlchen war Leben und Beweglichkeit. Dem hatte Sturz, Angst und See nichts geschadet!

Wir stiegen zu dritt die Treppe.

»Das Fieber ist wieder etwas stärker. Vorhin hat er phantasiert, hat englisch gesprochen – vom Lord Byron war die Rede darin, das hab' ich verstanden. Und dann plötzlich hat er Verse zitiert, deutsche Verse – aus einem Gedicht, das ich noch von der Schule her kenne – ich glaube von Chamisso ist's –«

»Die Löwenbraut?«

»Ja, so hieß es. Und mit eurer Schwester schien er dann zu sprechen. Aber jetzt ist er wieder ganz klar. Freilich die Temperatur – aber das macht vielleicht der Abend, vielleicht die Erwartung –«

»Aber sein Zustand ist doch –«

»Wir pflegen und lieben und hoffen. Mehr kann nur der liebe Gott selber tun. Er will dich aber gleich sehen – ich hab's ihm fest versprechen müssen.«

Das Schlafzimmer war hell und freundlich. Blumen standen überall in Kannen und Vasen. Nelken blühten am Bett. Durch die offenen Fenster sah man drüben die Berge, hörte den See sanft an die Mauer plätschern. Zuweilen rasselte die Bootskette. Ein Hahn krähte. Von irgendwoher flogen Stimmen über das Wasser.

Schmal und fieberheiß lag Bens Kopf in den hochgetürmten Kissen. Er saß mehr, als er lag. Der Atem ging rasch und stoßend. Der Husten quälte ihn, als er sprechen wollte, und Ev' kühlte mit einem feuchten Tuch seine brennende Stirn. Der Kleine hielt wichtig mit vorgestrecktem Bäuchlein die Schüssel.

Ben reichte mir die Hand, die war glühend und zitterte ein wenig. Dann legte er sie auf den Blondkopf des Buben, und eh' ich noch meine Erschütterung niedergekämpft hatte, war er seines Atems Herr geworden. Mit dem guten Lächeln, das ich tausendmal an ihm gesehen, das ihm treu geblieben war aus der sorglosen Kindheit durch Leichtsinn und Leid, sagte er ganz leise: »Ich bin krank, Adi. Krank, aber glücklich.«

Ich setzte mich zu ihm ans Bett. Brachte Grüße von meiner Frau, von der Mutter, die voll Sorgen noch in Frankfurt an meinen Zug gekommen, von Mathilde, die gerade mit Kurt, der dienstlich dort zu tun hatte, in Berlin weilte, und von ein paar Freunden.

Er nickte dankend zu allem und rang mit dem Atem, aber sein Lächeln blieb.

»Wir gehen ein wenig in den Garten, Sepp und ich – es sollen nicht so viel Leute zugleich im Zimmer sein, hat der Doktor gewünscht. Du rufst mich, Adi, wenn er mich braucht –«

Der Bub haschte nach Bens Hand und drückte ganz rasch einen klatschenden Kuß darauf: »Gelt, Onkel, du stehst bald wieder auf – morgen vielleicht, gelt?«

Ben nickte, und sein Auge streichelte mit unendlicher Zärtlichkeit das Kind: »Morgen vielleicht, Sepp.«

Schon hatte er die Hand der Mutter zum Gehen gefaßt, da kam der Kleine noch einmal treuherzig zurück: »Ich fahr' auch nie – nie mehr allein im Schiff.«

»Das weiß ich, denn du hast mir's versprochen.«

»Ein goldiger Bub,« sagt' ich, als die beiden gegangen waren. »Und wie er dir ähnlich sieht!«

»Aber die Stimme hat er von der Mutter – und das gute, gute Kinderherz.«

»Du bist auch gut gewesen, Ben, dein Leben lang.«

»Mein Leben – ist nicht lang, Adi. Aber versucht hab' ich das Gutsein wohl. Und die Vorsätze – auch wenn sie nicht immer gelingen – scheinen mir jetzt mehr wert, als alle Philosophie, die man studiert. Denn schließlich, man ist rasch am Ende der Eitelkeiten, wenn man mal so liegt, wie ich – Weißt du noch, was das arme Brettldirnchen in Triest sang? »On entre et on crie – voilà la vie . . . On crie et on sort – voilà la mort!« . . . Und ich fürchte, Adi, der böse Schrei, der zweite, der letzte – kommt bald.«

»Aber Ben! Seit wann bist du Pessimist –!«

»Fatalist – immer gewesen. Und jetzt ein wenig Hellseher, seit ich glücklich bin.«

Ich sah es, wie ihn das Reden anstrengte. Er rang mit der Luft und fuhr oft mit der Hand nach der rechten Seite: »Da sitzen scharfe Messerchen –« hauchte er, »und die Messerchen fahren tückisch nach meinem Lebensfaden. Wird er noch einmal halten –? Wird er reißen?«

»Du darfst nicht so viel sprechen, Ben – sonst geh' ich.«

»Nicht gehen!« Er faßte mit raschem Griff fest meine Hand, und seine Finger lagen wie glühende Reifen um mein Gelenk. »Nicht gehen! Ich hab' so viel noch gerade mit dir . . . so viel . . . Das Wichtigste hab' ich gestern Peter Pütz diktiert. – Jeder hat den Eckermann, den er verdient, nicht wahr? – Ich hoffe, ich hab' niemand vergessen – doch: das kleine Mädel in dem Papierlädchen, du weißt, fiel mir noch ein vorhin . . . Es sind ein paar orthographische Fehler drin in dem, was der Peter Pütz – aber sonst alles richtig, genau, wie ich ihm das . . . und meine Unterschrift mit Datum und allem, was das Papier rechtsgültig macht, steht darunter.«

»Aber Ben, das ist ja zum Lachen . . .« Ich schauderte, während ich zu lächeln versuchte, »du überlebst uns alle –«

»Das möcht' ich nicht. Ihr seid viel wertvoller. Viel – Du – Ev' auch – Wie schön ist's, in ein gütiges weibliches Herz zu schauen nach – nach – so langer Zeit! Mein Leben, Adi, ist ein unnütz Leben gewesen . . . sag' nichts, ein unnütz Leben.«

»Wie kannst du so sprechen, Ben! Du hast so vielen geholfen, hast so viele erfreut –«

»Und doch – unnütz. Adi. Nur –« Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Ich hielt ihn im Arm, kühlte ihm die Stirn und gab ihm aus dem Glase ein Eisstückchen in den brennend heißen Mund.

»Du machst das fast so sanft –« lächelte er, als sich der Anfall beruhigt hatte, »fast so sanft, wie die Ev'. Das ist das höchste Lob, das ich noch zu vergeben habe. Das ist mein türkischer Orden . . .«

Da merkte ich, daß doch das Fieber ihm auch die Rede verwirrte.

»Soll ich vielleicht jetzt Ev' rufen –?«

»Noch nicht, Adi – Ich hab' heute nacht geträumt – ich hatte ein bißchen Temperatur, du weißt . . . geträumt, daß aus den bunten japanischen Schirmen – erinnerst du dich, in unserer ersten Berliner Wohnung – da kamen plötzlich alle Affen herausgesprungen – lauter langgeschwänzte Vettern von Tobias Moscheles. Die wollten über den Kleinen herfallen – über meinen Sepp. Da kamst du – ja, und du hattest so ein Samtkostüm an und Barett, wie damals, als du mit Mathilde – die war die Preziosa, gelt? – mit der Mathilde auf den Kostümball gingst beim Rat Tomasius – Und du hast sie verscheucht, die Affen . . . Adi, hilf ihm – versprich mir's, hilf dem Jungen! Ich hab' ihn doch gerettet – und das war das erste und einzige Gute, was mir vielleicht da oben . . . Und als die Affen sich verkrochen hatten – da hab' ich ganz deutlich die Glocken läuten hören, weißt du, die Glocken von unserem Frankfurter Dom . . . Erinnerst du dich, Adi, wenn Weihnacht war und wir alle, still wie die Mäuschen, in dem kleinen Gang standen und lauschten . . . Fahr morgen mal nach Lugano, Adi, und besuche – denk dir, im »Hotel Bellevue au Lac« wohnt Margarete Morgenthau. Endlich ist sie bis Lugano gekommen auf ihrer alljährlichen Herbstreise . . . Sie ist steinalt und hört nicht mehr gut. Sie läßt sich meist im Wägelchen auf der Piazza Giardino in der Sonne herumfahren – aber sie humpelt auch noch ein bißchen am Stock . . . Das hab' ich nicht geträumt, Adi, sie ist wirklich da – Die Träume sind nicht schön – so wirr, ich habe heute nacht in der »Stadt Athen« gesessen – mit Fips und Gollwitz – das war ganz vergnügt – aber dann bin ich mit Ruth geritten – mitten ins Auditorium von Kuno Fischer – Ich hab' ihn gleich erkannt – er stand auf dem Katheder, mit der gespaltenen Nase, spielte mit seinem Schlüsselchen, und die silbergefaßten Brillantringe funkelten, und ich hörte ihn sagen: »Im englischen Deismus fällt die Religion, nachdem sie ihre geschichtlichen Einkleidungen abgelegt, völlig zusammen mit der Moral« . . . Und neben mir saß immer Ruth zu Pferde und lächelte. Mitten im Auditorium. Auf dem Apfelschimmel, den sie vom Prinzen . . . Sag ihr, daß ich ihr danke, der Ruth – ich wär' nicht hier, Ev' wär' nicht bei mir – ohne ihre Härte damals, ohne daß sie mir das Furchtbare gesagt hätte: »Deine ehemalige Geliebte hab' ich all die Jahre erhalten – das sollst du wissen – und deinen unehelichen Jungen.« Unehelich – das ist ein dummes Wort, nicht? Kind ist Kind – Kind ist Liebe, ist Vertrauen – ist Glück . . . Ja, und Pflicht ist's auch – das hatt' ich vergessen, Adi, ganz vergessen. Und deshalb hat die Madonna mich ins Wasser geworfen – daß ich mir's wieder holen müßte, selbst holen aus der Kälte, die mich nun elend schüttelt acht Tage schon – oder ist's nicht so lang? – selbst wieder holen aus dem See – im Kampf – die Liebe und das Vertrauen und das Glück . . . Jetzt hab' ich's – jetzt halt' ich's . . . Ruth muß das Geld wieder haben, das sie ausgelegt hat, ohne mein Wissen, für Heidelberg! Alles. Sorg dafür – bald. Dann kann ich das vergessen – auskratzen aus dem Gehirn . . . Und siehst du, alles Schöne war erst gestern – und alles Schlimme liegt so weit, Adi, so weit – Das ist vielleicht die Genesung . . . Und ich werde die heilige Cäcilie in der goldenen Tunika wieder spielen hören und die sechs Engel singen . . . sie singen mit der Stimme von Ev', alle, alle – die kann nie hart sein, die Stimme, nie ungut – die hat nie »unehelich« gesagt – und nie gescholten mit mir . . . Und der alte Ackerle, der jetzt Körbe da oben flicht, immerzu Körbe, Körbe – der hat alles vorausgesagt, weißt du das –? Der einfache Mann hat anders hellgesehen – besser, als die verzückte baltische Komtesse – damals in Konstantinopel – nein, nein, es war nicht der Bosporus – wo war's doch? In Venedig, ja . . . Und siehst du, das hab' ich Ev' noch versprochen – Venedig! . . . Den Rialto und die Lagunen bei Nacht . . . In der Merceria liegt eine Kette von weißen Korallen, die will ich ihr kaufen – hol sie mir, die Kette, ja, ich bin zu müde schon – ganz weiße Korallen, nur ein rosa Hauch darüber . . . Aber der Bub darf nicht rudern, er darf nicht! Gelt, du versprichst mir's, daß du's dem Gondoliere sagst – daß er's nicht darf . . . Und das ist wunderlich, siehst du – hörst du . . . das ist gar nicht San Marco dort im Mondschein – nein, das ist doch die Heiliggeistkirche, die Heidelberger Heiliggeistkirche! Ich kenn' sie doch und das Lädchen – mit den Körben – am Gemäuer, wie ein Schwalbennest . . . und horch, hörst du den Neckar plätschern –! So plätschert nur der Neckar! Der fließt jetzt in den Main – oder . . . und die Glocken von der Heiliggeistkirche läuten – oh, wie laut sie läuten, hörst du, Adi – aber nein, das sind ja die Glocken vom Dom, vom Frankfurter Dom . . . Ruf Ev', ja ruf sie! – sie soll kommen, rasch! Sie soll die Glocken läuten hören vom Frankfurter Dom! . . . Ich hab's ihr versprochen, damals schon – der Ev'. Und man muß halten, was man . . .«

Ich war ans Fenster geeilt und winkte in den Garten.

Ev' kam in fliegender Hast mit dem Jungen.

Ben sprach nicht mehr. Er hatte die Augen auf, weit auf, und lauschte angestrengt. Nichts war zu hören, als die plätschernden Wellen des Luganer Sees, die in sanftem Spiel die hängenden Zweige der Trauerweide an die Mauern schlugen von Bens Paradies.

»Will der Onkel schlafen –?« Die Stimme des kleinen Sepp zitterte ein wenig. Etwas Unheimliches rührte sein Herzchen an.

Ev' führte ihn ganz dicht ans Bett. Ein schmerzliches Begreifen und ein fester Entschluß war deutlich ihren blassen Zügen aufgeprägt.

»Sepp, mein Büble – du hast ihn lieb, gelt?«

»Arg, Mutter, arg!«

»Es ist dein Vater, Kind, nicht dein Onkel.«

Ich hab' nie eine Frauenstimme so sanft, so gütig und so ganz erfüllt von Liebe gehört, wie die ihre, als sie zu dem Knaben sprach: »Sag jetzt mal recht laut und lieb »Papa« zu ihm!«

Ein leuchtendes Erstaunen flog über das offene Knabengesicht. Selig und ein bißchen verschämt beugte sich das Bübchen ganz dicht zu dem Liegenden, und die Lippen formten, wie etwas Ungewohntes, Fremdes, Wunderschönes behutsam und leise die zärtlichen Worte:

»Papa – mein lieber Papa!«

In Bens Augen flackerte sekundenlang ein dankbarer Glanz. Wie eine reine Heiterkeit breitete es sich über sein Antlitz. Aber er sprach nicht mehr.

Kurz vor Sonnenuntergang starb er.

Ev' saß auf dem Bettrand, totenblaß, gefaßt. Sein Kopf, der langsam die Röte verlor, lag fest in ihrem weichen, vollen Arm.

Der Junge war, sein Händchen in des spät gefundenen Vaters Hand gegraben, im Sitzen eingeschlafen. Er atmete ganz ruhig, das blonde Köpfchen tief auf der Brust.

Ein gelber Falter war vom Garten her ins Zimmer geflogen und schaukelte über das Bett zu den Nelken in der Vase.

Da erhob sich Ev'. Das Gold des Abends wob ihr eine Tunika, wie jene heilige Cäcilie sie trug, deren himmlisches Spiel in des Sterbenden letztes Fieber geklungen. Sie beugte sich nieder und küßte meinem Bruder Ben leise Stirn und Mund. Dann schloß sie ihm mit der weichen, guten Hand, die er geliebt hatte, die gebrochenen Augen.

Wir sprachen nicht, und wir weinten nicht laut. Es war ein Schweigen um ihn, wie im Tempel.

Nur der Atem des friedlich schlafenden Kindes strich, leise hörbar, durch das stille, stille Gemach.


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