Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Neuntes Kapitel

Im Februar kränkelte der Vater.

Sein Freund Joseph Morgenthau hatte eines Mittags still und friedlich, das zweite Morgenblatt der »Frankfurter Zeitung« über die Knie gebreitet, wie immer an seinem Fensterplatz gesessen. Aber als Frau Morgenthau mit der leisen Frage, »Joseph, schläfst du?« dem Eheliebsten den selbstbereiteten Kaffee und das mürbe Hörnchen brachte, hatte er nicht, wie sonst, heftig geleugnet, geschlafen zu haben und ärgerlich behauptet, nur in Nachdenken über die verrückte Politik versunken gewesen zu sein. Er leugnete und behauptete überhaupt nichts mehr. Er war tot.

Es fand sich unter seinen nachgelassenen Papieren die Bestimmung, daß bloß ein näher von ihm bezeichneter Psalm an seinem Grabe gesungen werden und mein Vater, als Einziger, ein paar Worte sprechen sollte. Eine geistliche Begleitung hatte er sich verbeten. Den Glauben seiner Väter mochte er, obschon er nur noch am Versöhnungstag im Tempel erschienen war, nicht verleugnen; aber die zahlreichen Bekannten, die über sein Bekenntnis im unklaren gewesen waren, wünschte er auch im Tode nicht aufzuklären.

Margarete Morgenthau hätte gern festlichere Veranstaltungen gesehen, denn sie war unter allen Umständen fürs Feierliche. Und sie sagte ganz richtig: man stirbt doch nur einmal. Aber sie fügte sich. Da das Wetter am Begräbnistag sehr abscheulich und der gewünschte Psalm sehr lang war, so erkältete sich mein Vater, der barhäuptig am offenen Grabe stand, an diesem Morgen schwer.

Erst schien's ein Muskelrheumatismus. Er reiste mit der Mutter nach Wiesbaden. Die Bäder halfen ein wenig. Zu Hause stellten sich die Schmerzen in alter Kraft wieder ein.

Ben, der viel Geschick und Sicherheit in seinen langen, schmalen Händen hatte, setzte dem Leidenden jeden Abend trockene Schröpfköpfe auf den Rücken.

Dann sprach der Vater mit ihm. Oft, den Schmerz verbeißend, in seiner launigen Weise, manchmal auch ernst.

»Ich glaub' nicht mehr recht an meine Genesung,« sagte er eines Abends zu Ben, der gerade wieder seinen armen Rücken mit dem heißen Sauggläschen quälte. »Du wirst sehen, der gute Joseph Morgenthau zieht mich nach.«

»Aber, Papa,« lachte Ben, »ein Begräbnis ist doch nicht ansteckend.«

»Das nicht. Aber ich will dir etwas sagen, Ben. Unsere Maler – und auch die Meister der anderen Völker – haben so viel und so gern »Totentänze« gemalt. Grusliche und ermahnende. Da ist immer ein Gerippe zu sehen, das grinsend fiedelt und lockend vorantanzt. Bald sieht sich's an, als tanze der Knochenmann einen behaglichen Ländler, bald eine feurige Mazurka. Eins haben die Herren Maler vergessen – die Chaine anglaise. Du kennst sie aus der Tanzstunde, die Tour in der Française? Einer reicht dem andern die Hand, geht vorüber und scheint ihn doch, wie an einem Bande, nachzuziehen . . . Begräbnisse im rauhen Winter, wenn ältere Leute, erschüttert vom Abschied, erhitzt vom weiten Gang, im kalten Regenwind an offenen Gräbern stehen – sind solche Touren im Totentanz. Chaine anglaise. Der eine gibt, vorübergehend für immer, dem andern die Hand – und zieht ihn nach.«

Und ein andermal sagte der Vater lächelnd zu seinem jüngsten Sohn, als er das Hemd wieder über den schmerzenden Rücken heruntergelassen: »Nun sieh mir mal fest in die Augen, Ben. Weißt du, manchmal muß ich denken, wenn du dich später deines Vaters erinnern willst, siehst du nichts, wie einen über die Stuhllehne gekrümmten nackten Buckel voller kleiner, roter Kreise. Siehst nichts, wie einen von der modernen Medizin geschundenen Märtyrer von hinten. Ich aber möcht', daß du deines Vaters Antlitz siehst, wenn du an ihn denkst. Und daß du ihm immer – immer, mein Jung'! – so offen und ehrlich in die Augen schauen kannst, auch wenn diese Augen längst nur noch in deiner Erinnerung sich aufschlagen.«

Da wurde Ben ernst: »Glaubst du denn nicht an ein Wiedersehen, Vater?«

Der Vater blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin. Dann sagte er:

»Setz dich mal hier zu mir her, mein lieber Ben. Ich will dir was erzählen. Du bist alt genug dazu. Meine Mutter, deine Großmutter, war eine einfache Landpastorsfrau. Sie hatte für Mann und Kinder zu sorgen, das schmucke Pfarrerhäuschen sauber zu halten, den Garten zu besorgen, den Kranken in der Gemeinde zu helfen und für die Armen Bittgänge zu den reichen Bürgern zu tun. Zum Grübeln und Nachforschen blieb ihr wirklich nicht viel Zeit. Sie glaubte, was ihr Mann sagte, den sie liebte, und dem, das wußt' sie, kein unwahres Wort je aus dem Munde ging. Nicht auf der Kanzel, die feierlich die geschnitzten Engel in der Kirche trugen, nicht auf dem Strohstuhl daheim am Familientisch. Ich aber, ihr Ältester, ging in die Welt, studierte die Philosophen, las die Dichter, hörte Priester und Ketzer. Und mein geliebter Lehrer in Tübingen, Friedrich Vischer, der Ästhetiker, der das hübsche Buch »Auch Einer« geschrieben hat – lies es und ärgere dich nicht daran, daß der Held darin immer den Schnupfen hat! – der schrieb mir, als ich Abschied nahm als junger Doktor und um des verehrten Mannes Bild bat, unter das Blatt: »Unser Gott ist ein immanenter Gott. Seine Wohnung ist überall und nirgends. Sein wahrer Tempel der Menschengeist. Diesen Gott zu verherrlichen, ist die höchste Aufgabe der Kunst.« Nicht ohne weiteres willig, stets in verba magistri zu schwören, hatte ich doch dies Bekenntnis zu dem meinigen gemacht. Hatte auch da und dort manches veröffentlicht in diesem Sinne. Da wurde – grad' hatte ich mich als junger Lehrer hier niedergelassen – meine Mutter schwer krank. Ein Telegramm rief mich in mein Elternhaus. Spät abends fuhr ich über den Rhein – damals stand die Brücke noch nicht. Ich sah von fern schon das Lichtchen im Zimmer, drin, wie ich wußte, die Kranke lag. Und mir schien: das Lichtchen, das aufblinkte und wieder zu verlöschen drohte, winkte mir: »Eile dich, komm!« Dann saß ich stundenlang an ihrem Bett, hielt die Hand, die mir nur Liebes getan, wischte ihr behutsam mit einem feuchten Tuch die Lippen und kühlte ihre Stirn. Stundenlang. Auf ihrem Nachtkasten lag zwischen ein paar Medizinflaschen und dem Bild des Vaters das Gesangbuch. Und darauf ihre Brille. Und ich las unter der Brille die Verse des alten schönen Lutherliedes: »Ein' feste Burg ist unser Gott – ein' starke Wehr und Waffen.« Und ich dachte, wenn sie noch einmal zu sich kommt, wird ihr geängstigtes Herz nach der Wehr und Waffen greifen. Aber ich glaubte, ihre müde Seele ist schon hinüber; nur das stark gebaute Wohnhaus, das so vielem widerstand, will noch nicht einstürzen. Da, gegen Mitternacht, kam sie noch einmal zu sich. Sie schlug die Augen auf, suchte, erkannte, lächelte dankbar. Ich gab ihr Tee und sie trank. Und war schwach und müde, aber klar, wie nur Sterbende sein können, wenn sie, ohne Furcht, wissen: wir stehen am Tor. Und plötzlich zog sie mit der blassen, abgearbeiteten Hand meinen Kopf tiefer, ganz tief, zu sich, damit ich ihre schwache Stimme höre: »Hubert – ich gehe.« Ich weinte und konnte keinen Trost lügen. Aber sie wollte ihn auch nicht, sie war eine starke Frau. Da plötzlich kam eine Angst in ihre tapferen Augen. Eine Angst, wie vor etwas ganz Schrecklichem. Mich fror in diesem flehenden Blick. »Hubert – dein Vater, als er starb, hat gesagt: »Mutterchen, sei getrost, wir sehen uns wieder . . .« – »Ja, ich weiß, Mutterchen.« – »Du, Hubert – du hast anders geschrieben. In deinen Aufsätzen. Ganz anders, wie der Vater gepredigt hat. Glaubst du denn nicht – daß wir – ich und der Vater – und du – daß wir uns da drüben wiedersehen?« . . . Und siehst du, Ben, da war der Lehrer vergessen und die Lehre, der schöne Spruch und die stolze Überzeugung. Nur die Rheinfahrt blieb im Bewußtsein, die Heimkehr und das erlöschende Licht. Und ich hab' mich zu der Sterbenden, die nur noch in diesem einen Zweifel atmete, die ihr bißchen Leben mit letzter Kraft goß in diese Frage, ans Bett gekniet. Ich hab' meine weißen Schreiberhände in ihre harten gefaltet, wie Kinder tun, und hab' fest und laut bekannt: »Mutter, ich glaub', daß wir uns wiedersehen!« Da hat sie gelächelt und nichts mehr gesagt. Nur noch ein Druck der Hand, ein Aufleuchten in den Augen. Dann wurden die Finger schlaff und die Lider fielen zu. Sie war, als Glückliche, gestorben in der Zuversicht . . . Und ich – ich hab' in jener Stunde erfahren, es gibt ein Postulat des Herzens, das stärker ist als alle Vernunft, mächtiger als die Dialektik aller Lehrer, als die Logik allen Geschehens. Es ist nicht, sagt der Verstand. Und: es ist doch, denn es muß sein, sonst wär' ich nicht, sagt in heiliger Stunde das Herz . . . Ben, mein lieber Junge, du wirst zweifeln, hadern, verneinen, wie ich – das bleibt unserem Geschlecht in seinen langen, schmalen Hugenottenschädeln nicht erspart. Aber dann wird einmal die Stunde kommen, da schreit dein wundes Herz: Und es ist doch so!«

»Credo, quia absurdum,« sagte Ben, der das einmal wo aufgeschnappt hatte.

»Nicht mit Mönchslatein verwirren, Ben, was groß, deutsch, menschlich ist! Mit beiden Füßen auf der Erde stehen, mein Jung', auf der lieben, schönen deutschen Erde – aber den Blick manchmal in die Sterne schicke und, so weit's gehen will, über die Sterne hinaus! Und die Toten, die man geliebt hat, und die uns geliebt haben, mitgehen lassen im Leben! Damit sie uns nicht fremd geworden sind, wenn sie vielleicht doch einmal – weit hinter allen Sternen – uns entgegenkommen.«

Zwei Tage nach diesem Gespräch lag mein Vater im Fieber.

Acht Tage später war er tot. Rippenfellentzündung, Lungenentzündung. Das Herz hatte nicht ausgehalten.

Als Frau Margarete Morgenthau in tiefer Trauer ihren Kranz brachte, stand Ben im Sterbezimmer und nahm von den vielen, vielen Blumenarrangements die Karten der Spender ab. Er hatte tiefliegende Augen und war sehr blaß.

Frau Morgenthau, die mit Küssen sehr freigebig war, umarmte und küßte den Jungen unter vielen Tränen: »Ben – lieber Bub' – du weißt doch, ich war die Erste, die . . .«

Ben wußte es und verhinderte die Erzählung.

»So rasch hinter meinem Joseph . . . Wer hätte das gedacht, Ben . . . An was ist denn dein lieber Vater . . .?«

Da sah sie Ben aus großen, traurigen Augen an und sagte nur: »Chaine anglaise

Da zuckte Margarete Morgenthau zusammen, ging rasch in die gute Stube und schluchzte der erschreckten Tante Tüßchen ins Ohr, so furchtbar das zu sagen sei, sie glaube, der arme Ben sei im Oberstübchen nicht mehr ganz richtig . . .

Ben aber war in diesen dunklen Tagen ein anderer.

Die letzten Gespräche, die er mit dem Vater geführt, beschäftigten ihn unausgesetzt. Er fühlte, daß der vom Tod schon Gezeichnete, der das Zeichen selbst fühlte, dem jüngsten Sohn noch etwas mitgeben wollte auf den Lebensweg. Ein Stück von sich selbst, einen Trost in Kämpfen, die kommen mußten. Und er fühlte auch das andere: daß ein starker, reifer, fertiger Mann sich selber, lächelnd, einen Halt suchte in bangem Zweifel, sich selber, als Letztes, einer Hoffnung Brücke baute zu einem Land, das er nicht sah. Zu einem Glauben: daß doch nicht alles verloren untertauchen müßte ins Nichts.

So kam es, daß Ben in einer stolzen Trauer um den toten Vater war. Daß er umherging, wie ein verschwiegener Freund, der einen letzten Auftrag bekommen, ein Vermächtnis gehört hat.

Still, mit zurücksinkendem Kinn, den schmalen hochstirnigen Kopf schwer im Atlaskissen, lag der Tote unter Palmen und Zweigen vom Lebensbaum, unter Riviera-Veilchen und deutschen Rosen.

Und Ben war immer um ihn, als ob er seinen Schlaf bewachen müßte. Hatte kein Auge, kaum ein Wort für Ruth Baddach, die, vom dunklen Kleid die knospenhafte Schönheit betont, einen wundervollen Kranz von Orchideen zu Füßen des Sargs legte; kein Auge für die blonde Elsbeth Tomasius, die scheu und ängstlich den ersten Toten ihres jungen Lebens, wie etwas Furchtbares, mit dem Blick streifte und in zitternden Händen den Nelkenstrauß krampfhaft festhielt. Auch die dralle Annemarie sah er nicht, die immerzu neue Kränze und Sträuße brachte und mit bettelnden Augen leise Fragen an ihn richtete.

Er sah nur den Vater. Den Freund, den Toten.

Und als am letzten Abend vor der Beerdigung alle hinausgegangen waren, auch die arme Mutter, die ganz klein und gebückt einherschlich unter der Last ihres Schmerzes, und nur die beiden silbernen Leuchter brannten, die schon im Haus auf der Zeil den frohen und ernsten Festen der vier Schwestern geleuchtet, da öffnete Ben die Flügeltür weit nach dem grünen Zimmer, in dem das Harmonium stand.

Er konnte das wächserne Antlitz des Toten sehen von dem Stuhl, den er sich an das Instrument heranzog. Und er behielt ihn im Auge, als hoffe er auf ein Lächeln, eine Bewegung.

Der Atem von unzähligen Blumen, deren Duft die Nacht verstärkte, schwamm durch den Raum.

Und erst zaghaft, dann mit sicherem Anschlag die Akkorde greifend, ließ Benjamin das Instrument brausen: »Ein' feste Burg ist unser Gott – ein' starke Wehr und Waffen« . . .

Ben spielte das alte Lutherlied für den toten Vater.

Haus und Straße schwiegen.

Im Zimmer neben mir weinte die Mutter in die Kissen.


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