Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Elftes Kapitel

Aber damals sind meine fröhlichen Beobachtungen jäh unterbrochen worden durch neue Betrübnis, durch tiefe Trauer, die über die Familie kam. Und ich muß von dieser Trauer ausführlicher reden; denn sie ist mit Bens Werdegang und Schicksal aufs innigste verknüpft.

Die Schatten, die sich um Tante Leonies Seele legten, wurden damals dichter und dunkler. Den Tod meines Vaters, den sie, wie alle Frauen der Familie, verehrt hatte, glaubte sie nicht. Er lebte – für sie –, aber er verbarg sich. Er wollte sie nicht mehr sehen, er zürnte ihr und hielt sich versteckt. Oder die Familie verbarg ihn vor ihr. Die Gereiztheit der Kranken mehrte sich täglich. Sie deklamierte viel und laut; und wenn sie sich in unbewachten Augenblicken mit einer wilden Hast ans Klavier setzte und spielte, so waren es Phantasien, die plötzlich mit jähen Dissonanzen abbrachen.

Tante Emma widmete sich ganz der Pflege. Nur ihre Hände, nur ihr Zuspruch machten die Kranke zuweilen noch ruhig. Wenn Schlafpulver nicht halfen, ließ sie, hinter dem Bett auf einem Schemel stehend und auf den Kopf der schwer Atmenden gebeugt, den Magnetismus ihrer festen kleinen Hände wirken, die in ruhigen, gleichmäßigen Strichen vom Scheitel der Schlummerlosen niederglitten bis zu den blassen Wangen. Wohl tausendmal strich sie so – stunden- und stundenlang.

Sie führte kaum ein eigenes Leben mehr. Sie war nur da für die Kranke. Die aber war nie bei ihr. Ihr verwirrter Geist hörte bald Lenaus zarten Geigenstrich aus dem Turme der Weibertreu von Weinsberg, bald fuhr er mit Lord Byron nach Portugal, nach Malta, nach Missolunghi.

Und ihr unerhörtes Gedächtnis schäumte noch immer von deutschen, italienischen, englischen Versen. Sie spielte, immer sicher im Rhythmus und Wortlaut, mit den schwierigsten Terzinen des »Inferno«, wie mit dem Wohlklang der Ottaverimen des »Don Juan«, und hauchte dann wieder ein Lenausches Schilfliedchen, rein, wie Kinderatem, aus.

Den ernsten Rat des Arztes, den leise geflüsterten Wunsch der Familie, die immer unruhigere Kranke, die niemand mehr erkannte, Tote für Lebende und Lebendige für Tote hielt, einer Anstalt zur Pflege zu übergeben, wies die Schwester mit entrüsteter Energie zurück. Die Mutter hatte sie beide zur selben Stunde in den Kampf der Welt geschickt; sie waren von Geburt, Natur, Schicksal aufeinander angewiesen und hatten sich die Treue gelobt und gehalten. Das sollte, das durfte nicht anders werden, weil der Geist der einen sich verwirrt hatte.

Aber Ernst und Anstrengung der Pflege untergruben wohl die Gesundheit der Pflichtgetreuen. Ohnmachtsanfälle kamen und mehrten sich. Ida, das treue Dienstmädchen, das den Schwestern wohl fünfzehn Jahre schon den Tisch deckte, flüsterte bei jedem Besuch meiner Mutter und Tante Tüßchen ins Ohr: »So darf's awer nit weitergehe, gnädiche Frau.«

Aber wer wollte, wer konnte Gewalt anwenden?

An einem milden Frühsommertag wurde die ganze Familie alarmiert. Ida kam, verweint und entsetzt, ohne Kopftuch, atemlos gelaufen. Die Nacht war furchtbar. Die Kranke hatte »ihren Bräutigam« erwartet. »Den Lord«, sagte die Ida, »mit dem, wo sie's immer hat, Sie wisse schon.« Sie wollte das Haus festlich erleuchten. Mit einem Licht versuchte sie Gardinen und Teppiche anzuzünden – er sollte von fern schon die Fackel ihrer Freude sehen. Mit vereinten Anstrengungen war es Tante Emma und der treuen Magd schließlich gelungen, die Schwärmende aufs Bett niederzudrücken. »Ei, Sie glauwe nit, was die noch for e Kraft hat!« schluchzte Ida. Und während Ida die immerfort Verse Murmelnde sanft in den Kissen niederhielt, strichen die blassen Hände der Schwester ihre letzte magnetische Kraft in die eingefallenen Schläfen der Kranken. »Un denke Se,« schloß Ida ihre Erzählung, »ei, ich hawe des noch nie gesehe – zum erstemal hawe die Händ' von der Fräulein Emma gezittert, als wie Elspelaub, so wahr als daß ich leb'! Und schließlich is se mir ohnmächtig geworde – awer die Fräulein Leonie, weiß Gott, hat wahrhaftig geschlafe.«

Als wir – die Mutter und ich, Ben war im Gymnasium und sollte gleich nachkommen – leise in die liebe, altjüngferlich adrette Wohnung der Tanten eintraten, saß eine barmherzige Schwester am Bett der Tante Emma.

Die Schwester drehte ruhig ihre weiße Haube zu uns hin, zeigte ein gütiges, lebenstrahlendes Gesicht und sagte mit der Milde berufsmäßigen Trostes: »Es war zuviel für sie. Das Herz will nicht mehr recht. Wir haben Kampfer eingespritzt und etwas Sekt gegeben. Aber ich fürchte . . .«

Nebenan schlief Tante Leonie noch immer. Aber selbst im Schlaf hatten ihre Züge etwas Abwesendes, Unirdisches, Weltfremdes.

Mir kam das Furchtbare zum Bewußtsein. Die beiden Frauen, die durch seltsames Spiel der Natur zusammen ins Leben eingetreten waren, würden auch zusammen wieder gehen.

Die Mutter schlich auf Zehenspitzen zwischen den Zimmern und Betten hin und her, ratlos, taumelnd, müde.

Plötzlich gab ihr die Schwester, die, den Rosenkranz betend, kein Auge von der Liegenden gelassen hatte, ein Zeichen und machte den Stuhl an Tante Emmas Bett frei, mit einer Handbewegung befehlend: »Setzen Sie sich zu ihr« – und auf die stumme Frage durch ein Nicken antwortend: »Ja, es ist das Ende.«

Ganz friedlich mit geschlossenen Augen lag die Sterbende. Nur das Röcheln war unheimlich; sonst war alles an ihr, um sie friedliche Ruhe. Ein Sonnenstrahl fiel über ihr Bett auf die farbigen Miniaturbilder ihrer Eltern. Die beiden lächelten sich freundlich an – er aus hohem Vatermörder, sie aus lichtblauem Schal –, lächelten über das Bett ihres müden Kindes, das nun zu ihnen kam.

Nebenan hörte ich leise Stimmen.

Ben war gekommen und – war's nicht so? Er sprach mit der erwachten Kranken.

Sprach englisch –?

Ich bog den Kopf nach der offenen Tür. Wahrhaftig, da stand der Junge, dicht am Lager, und hielt ihre abgemagerte Hand. Er war erhitzt vom raschen Gang, die Wangen gerötet, das volle, braune Haar, das in eigenwilligen Locken der Bürste widerstand, sorglos hochgestrichen. In seinen hübschen, guten Augen lag unsägliches Mitleid.

Und ich hörte, staunend, mit klopfendem Herzen, was die beiden miteinander sprachen. Englisch, fehlerlos beide und mit ausgezeichneter Aussprache. Und mitten in Grauen und Trauer dieser furchtbaren Stunde fiel mir ein, daß Bens fabelhaftes Sprachtalent, das mir und der Schwester abging, wohl aus der Familie der Mutter ererbt sei.

»Du bist's? – Endlich du!« Die Stimme der Kranken war klar und ruhig, wie sie lange, lange niemand von uns gehört, und in dem »You are it – at last« lag eine Welt von scheuer, weiblicher Zärtlichkeit. »Ich habe mich um dich geängstigt – und wie hab' ich Angst um dich gehabt!«

»Sei ruhig und ohne Sorge, meine liebe Freundin.« In Bens junge Stimme kam eine suggestive Kraft. Er fühlte sich als Helfer und Tröster. Das Mitleid gab ihm die seltsame Sicherheit seines Spiels: »Ich bin's und bin gesund.«

Die Kranke setzte sich auf und sah ihn mit hoffenden Augen an:

»Kommst du mich holen, mein Freund?«

»Möchtest du denn verreisen?«

»Ja – ja« – sie haschte Bens Hand und hielt sie an ihre Wange –, »weit, weit über ein blaues Meer, blau wie die Veilchen, die du mir so oft geschickt hast. Mit dir, Hand in Hand, stehen am Mast . . .! Ach, und all die weißen Segel, die uns vorausfahren. Voraus ins Blaue, wo der Himmel auf dem Meer ruht, siehst du sie – all die weißen Segel . . .«

»Weiße Segel? Ich sehe sie.«

Ist das Phantasie, ist's Suggestion – wie nennt man's richtig? Ben schien mir, als er mit gütiger Zuversicht dieses »White sails? I see them« aussprach, tatsächlich dem Bildnis Byrons zu gleichen, das den jungen Lord in seinem zwanzigsten Jahre darstellt, kurz, ehe sein Weltruhm begann.

»Lauter Boote – lauter bekränzte Boote siehst du? Und in dem einen sitzt meine Schwester Emma. Sie winkt mir . . . Und in dem anderen dort der schöne große Mann, das ist mein Schwager Hubert – nicht tot, wie sie gesagt haben. Ich hab's ja gewußt! . . . Oh, und du bist bei mir, und wir beide – wir gleiten hinter all den weißen Segeln her . . .«

In diesem Augenblick fuhr die Hand der barmherzigen Schwester mit ganz sanftem, sicherem Griff über die Augen der Tante Emma und legte die Lider über den gebrochenen Blick.

»Sie hat vollendet,« sagte sie ernst und fest, schlug das Kreuz und trat zur Seite.

Nebenan aber sprach die Gestörte noch immer mit Lord Byron. Aber jetzt klang's beruhigt, sanft, fast froh, was sie sprach.

Und Ben antwortete ihr, unverwandt in ihr zärtlich suchendes Auge schauend, in tadellosem Englisch. Und er sah alles, was sie sah, und glaubte alles, was sie glaubte.

Vier Stunden später, als der Abend langsam dämmerte, zog ihre still gewordene Seele der Schwester nach.

Ben hat bis zuletzt ihre Hand gehalten. Und er war mit so inbrünstigem Ernst aufgegangen in seiner Rolle, daß er, als sie mit einem befreiten Lächeln in die Kissen zurücksank, leise den Kopf zu uns wendend, sagte:

»She does not breath anymore, the poor thing – she is dead

*

In dieser Minute aber – und das ahnte er nicht und wir alle nicht – war Ben ein vermögender Junge.

Denn, wie ich später als Testamentsvollstrecker feststellte, lag der Fall so. Tante Emma hatte Tante Leonie zu einer Zeit, da sie – immer etwas herzleidend – erwarten mußte, daß die scheinbar robustere Schwester Leonie sie überleben würde, diese zu ihrer Universalerbin eingesetzt. Leonie aber hatte an jenem Abend von Mathildens Hochzeit in Dankbarkeit für Bens wunderliche Gewaltkur an ihrer schwärmerischen Liebe ganz ordnungsgemäß den Zusatz zu ihrem Testament gemacht, durch den Ben ihr ganzes Vermögen erben sollte, wenn die Schwester Emma vor ihr die Augen schlösse. Da das Vermögen beider Tanten aber zum größten Teil in der reichen ertragbringenden Fabrik des Onkels Braun arbeitete und den einfach und sparsam Lebenden eine jährlich wachsende Rente abgeworfen hatte, so war Ben, wenn er großjährig wurde, Herr eines Kapitals, das von dreiviertel Millionen schon jetzt nicht weit entfernt war. Und das war damals noch ein hübsches Vermögen. Selbst in Frankfurt.

Als Ben von seinem Erbe erfuhr, schwieg er sehr verblüfft. Dann erklärte er, das ginge durchaus nicht. So sei das von der gerechten und gütigen Tante Emma gewiß nicht gemeint gewesen; und die arme Tante Leonie sei sicher schon damals nicht mehr richtig klar im Kopf gewesen, als sie jenen Zusatz schrieb. Wir müßten alle teilen. Nicht genug damit: er entwarf in einer Cicero-Stunde, die ihn eigentlich über die verwerflichen Machenschaften des Catilina hätte aufklären sollen, einen sinnig gestaffelten Plan, wie seine Erbschaft unter die Familie aufzuteilen wäre. Auch das Davidchen war bedacht, und unsere Sophie, die treue Seele, war nicht vergessen. Ja, es fand sich sogar ein etwas rätselhaft begründeter Posten unter dem Namen der Annemarie. Das Ganze war, von einigen Rechenfehlern abgesehen, eine hübsche und menschenfreundliche, wenn auch für eine Cicero-Stunde etwas ungewöhnliche Arbeit.

Mit dem ganzen Eifer des Juristen, der's noch nicht lange ist, belehrte ich ihn, daß er unbedingt alleiniger Erbe und daß nach dem Wortlaut der allein gültigen, in der gesetzlichen Form niedergelegten letztwilligen Verfügung ein anderer Sinn ausgeschlossen sei. Tante Leonie, das gab ich zu, war zwar zur Zeit der Abfassung jener Zusatzbestimmung etwas exaltiert und vielleicht auch schon in den Nerven angegriffen; aber keinesfalls hatte sie der geistigen Klarheit so sehr entbehrt, daß ihr Testament als anfechtbar gelten oder seine Ungültigkeit erklärt werden konnte.

Nun schämte sich Ben plötzlich, daß er einmal reicher, viel reicher sein sollte, als wir. Er schlug vor, wir sollten wenigstens seinen mühsam in der Cicerostunde ausgearbeiteten Verteilungsplan in eine wohlwollende Erwägung ziehen. Ich hatte Mühe, dem sonst gescheiten Kerl zu beweisen, daß er vor Vollendung seines einundzwanzigsten Jahres gar kein Recht habe, selbständig über dieses Vermögen zu verfügen oder gar wesentliche Teile davon zu verschenken. Er fand das blöd und benützte die Gelegenheit, zu erklären, daß er in der ganzen Juristerei eine sehr üble Angelegenheit, gewissermaßen eine Verirrung der menschlichen Vernunft erblicke und deshalb persönlich bestimmt nicht Jus studieren werde.

Aber sein Lieblingsgedanke tauchte nun wieder auf: Schauspieler werden.

Der Vater, als er noch lebte, hatte ihn erst ausgelacht und dann ernst ermahnt: »Alles kannst du werden, mein Jung', von mir aus. Zwei Berufe aber erwählst du mit meiner Zustimmung nicht. Du wirst nicht Offizier und nicht Schauspieler. Zum Offizier hast du nicht Geld genug. Schulden machen oder auf reiche Heirat angewiesen sein – das fehlte noch! Und Schauspieler? Wer da nicht sehr viel Talent – und Glück – hat und eine ganz besondere Note und kräftige Ellenbogen, der bringt's über eine ewige Unbefriedigtheit, eine neidzerfressene Streberei selten hinaus. Und die Welt des Scheins sieht sich hinter den Kulissen ganz anders an, als vom bequemen Parkettsessel aus. In dir steckt von den Vätern her, die alle Magister und Pastoren waren, zu viel – nenn's Korrektheit, nenn's Philistertum, nenn's bourgeoise Rückständigkeit –, um an der Hand des Theaterteufels ins grelle Glück des Ruhms zu taumeln.«

Nun war der Vater tot, die Verhältnisse hatten sich geändert – wenigstens für Ben – und die Mutter war gut und schwach. Das Abiturium sollte er zwar bestimmt machen, aber dann, wenn schließlich Talent da war . . . und wenn sein Herz daran hing . . . Auf große Gagen war er ja nun nicht angewiesen.

Tante Tüßchen, zu Rate gezogen, schwankte. Sie hatte gehört, daß große Schauspieler, wie Rossi und Devrient – dieses Namens sollte es sogar mehrere gegeben haben –, durchaus kein Geld zugesetzt hätten bei dem gefährlichen Beruf. Von einem gewissen Hugo Kunkel hingegen hatte sie gehört, daß er von der Familie, die in Offenbach durch Pfeffernüsse reich geworden war, verstoßen wurde und an obskuren Sommertheatern in der abgelegten Garderobe eines mitleidigen Vetters jetzt, als Fünfziger, noch Bonvivants mit gefärbten Haaren spielte.

Ben ging mit raschem Entschluß zu Erwin Schuster, sich auf sein Talent prüfen zu lassen. Er hatte zu diesem Zweck, fleißig und sehr geräuschvoll, den Wallenstein studiert, die ganze Rolle. Als ich Fips Tomasius, dem er als einzigem Szenen daraus vorgespielt, vorsichtig befragte, wie ihm Ben als Herzog von Friedland gefalle, meinte dieser listige Jüngling: »Im »Lager« ist er am besten.«

»Aber da kommt der Wallenstein doch gar nicht vor?«

Fips nickte freundlich zustimmend. »Drum eben.«

Diese herbe Kritik war vielleicht nicht ganz gerechtfertigt, vielleicht schon ein wenig vom Neid auf zukünftigen Ruhm beeinflußt. Oder aber von dem herben Urteil, das Ben über die Juristerei fällte, der nun wiederum Fips Tomasius nach der Familientradition zustrebte.

Jedenfalls erwies sich das Studium der Riesenrolle des Wallenstein zum Zwecke der Talentprobe als unnötig. Denn Erwin Schuster legte bei der Prüfung auf andere Dinge Wert.

Der große Künstler empfing Ben in einem dick von Tabakswolken erfüllten Zimmer, den Leib sorglich in einen türkischen Schlafrock gewickelt, ein feuchtes Tuch um die oben ausrasierte Stirne. Er hatte am Abend zuvor etwas lange gekneipt und war menschlich nicht ganz auf der Höhe. Aber freundlich und gnädig, wie es einem genialen Menschendarsteller ziemt, der von einem werdenden Kollegen ausnahmsweise nicht angepumpt, sondern bloß um Rat gefragt wird.

Den Wallenstein, wie gesagt, lehnte er als Talentprobe leider ab. Auch von Egmont, den Ben anbot, wollte er für diesen Fall nichts wissen.

Hingegen ergriff er plötzlich ein grün und rot kariertes Sofakissen, schleuderte es mit kräftigem Ruck in die Diwanecke und ersuchte Ben, sich vorzustellen, daß dieses Sofakissen die schöne Desdemona sei. Er, Ben, sei jetzt Othello, der Mohr von Venedig. Er habe die Desdemona, sein heißgeliebtes Eheweib, im Verdacht, daß . . .

Ben unterbrach, errötend, mit der Anmerkung, daß ihm das Stück bekannt sei.

Schön. Dann solle Ben jetzt den Bettvorhang zurückschlagen.

Der war nicht da. Aber Schuster machte das mit großer Geste vor, wie man solchen Bettvorhang, der nicht da ist, mit einem imponierenden Griff in die Luft beseitigt. Dann faßte der Künstler wieder an den schmerzenden Kopf. Hierauf stellte Erwin Schuster dem aufmerksam lauschenden Ben diese künstlerische Aufgabe: er solle – mit dem Hintergedanken, daß er die schöne Desdemona später erwürgen werde – zu dem Sofakissen nur diese Worte sprechen: »Hast du zur Nacht gebetet, Desdemona?«

Ben hat später zugegeben, daß ihn diese konzentrierte Prüfung befangen machte. Aber er meinte, daß er trotzdem vielleicht der neuen und schwierigen Aufgabe Herr geworden sei, wenn nicht das Sofakissen, als er sich zu der gewünschten Frage niederbeugte, ob es zur Nacht gebetet, so infam nach Pfeifentabak gerochen hätte.

Diese Wahrnehmung habe ihn aller Illusion beraubt, und er glaube selbst, daß seine Frage nach dem Nachtgebet nicht sehr mohrenhaft, sehr shakespearisch oder auch nur sehr venezianisch ausgefallen sei.

Erwin Schuster äußerte nichts weiter über den Eindruck, den er von Bens künstlerischer Leistung empfangen hatte. Er nahm vielmehr ein Buch aus seiner Bibliothek, die sich Ben reichhaltiger gedacht hatte, und fragte über die Achsel, ob Ben die Lessingsche »Emilia Galotti« bekannt sei.

»Gewiß,« beteuerte Ben und überlegte bei sich, ob am Ende wieder das üble Sofakissen eine Rolle in der Komödie spielen sollte. »Ich würde mich da,« fügte er zögernd hinzu, »am meisten für die Figur des Kammerherrn Marinelli interessieren.«

Erwin Schuster runzelte die Stirn. »Der Marinelli verlangt eine reife Kunst. Eine ganz reife. Ich spiele ihn selbst erst seit fünfzehn Jahren. Nein – aber der Prinz, das wäre Ihre Rolle! Wir wollen einmal versuchen. Nehmen Sie das Buch, bitte. Nein, nicht ganz am Anfang – wir probieren nur ein charakteristisches Moment. Ich bin jetzt der Maler Conti – ich habe Ihnen eben das bestellte Bildnis der Gräfin Orsina gebracht. Sie haben's gleichgültig weggestellt und Vortreffliches über die Kunst gesagt.«

Ben war sehr froh, daß er das Vortreffliche schon gesagt hatte.

»So – jetzt –« Erwin Schuster nahm zu Bens großem Erstaunen ein Porträt von der Wand, eine Photographie in etwas verschmutztem Goldrahmen. »Jetzt – stelle ich plötzlich das Bild der Emilia Galotti vor Sie hin – Sie wissen: der Prinz liebt die Emilia . . .«

Ben wußte das. Aber ihm wurde übel zumute. Denn das Bild, das angeblich die schöne Emilia Galotti darstellen sollte und das Erwin Schuster jetzt, die Finger voll Staub, auf einem Armsessel aufbaute, zeigte durchaus keine schöne Frau. Überhaupt keine Dame, sondern zu Bens Entsetzen die wohlbekannten Züge des Direktors Tycheles, der, ein Jugendfreund Schusters, diesem zu seinem Bühnenjubiläum kein sinnigeres Geschenk hatte zu machen gewußt, als sein Konterfei im hochgeknöpften Bratenrock und mit allen Würdefalten des Schultyrannen.

»So« – Schuster war von seiner Inszenierung befriedigt – »ich gebe Ihnen jetzt – haben Sie's? Hier, bitte, Seite zehn – gebe Ihnen jetzt das Stichwort. Also –« Schusters Antlitz glättete sich blitzartig zu höfischer Verbindlichkeit. Sein Blick war milde und seine Rede Öl, als er, sein Schädelweh vergessend und in die Rolle des Malers Conti kriechend, auf das Bild deutete und nach Lessings Vorschrift zum Prinzen Ben sagte:

»Eine bewundernswürdigere Kunst gibt es, aber sicherlich keinen bewundernswürdigeren Gegenstand, als diesen

Ben gab sich alle Mühe, ein Prinz zu sein. Aber die Verzücktheit des vom Anblick des heimlich geliebten Wesens jäh Betroffenen gelang ihm durchaus nicht, als er, dem alten Tycheles, der ihm herzlich unsympathisch war, ins zerknitterte Gesicht starrend, die Worte seiner Rolle hervorstieß:

»Was seh' ich? Ihr Werk, Conti? Oder das Werk meiner Phantasie? – Emilia Galotti!«

»Wie, mein Prinz? Sie kennen diesen Engel?« Schuster äußerte das in tiefstem Erstaunen.

Für die Antwort des Prinzen schrieb Lessing nun, in Klammern, dem armen Ben vor: »indem er sich zu fassen sucht, aber ohne ein Auge von dem Bilde zu verwenden.« Das war kein Vergnügen für Ben, der diesen unangenehmen Mann in der Oberprima noch als Ordinarius zu erwarten hatte. Seiner Rede fehlte deshalb auch alle Herzlichkeit, als er dem Maler Conti antwortete: »So halb! – um ihn eben wiederzuerkennen.«

»Sie – um sie wiederzuerkennen!« korrigierte Erwin Schuster. »Es ist doch die Emilia Galotti!«

»Pardon – ja. Um sie eben wiederzuerkennen.« Und Ben fährt in der Rolle fort: »Es ist einige Wochen her, als ich sie mit ihrer Mutter in einer Vegghia traf. – Nachher ist sie mir nur an heiligen Stätten wieder vorgekommen – wo das Angaffen sich weniger ziemt. – Auch kenn' ich ihren Vater. Er ist mein Freund nicht.«

Diese allerletzten Worte kamen mit guter, überzeugter Betonung.

Aber Erwin Schuster hatte das Bildnis seines Freundes, des Direktors Tycheles, schon wieder ergriffen und war dabei, es an den Nagel an der Wand zu hängen.

Dann versuchte er sich den Staub von den Fingern zu blasen, was nicht ganz gelang, und entschied energisch, aber nicht unfreundlich: »Nein, mein junger Freund. Er reicht nicht. Sie haben nicht die überwältigende Kraft der Phantasie, die notwendig, ja, die unerläßlich ist für einen Charaktersucher, für einen tiefschürfenden Menschengestalter. Sie haben Worte gesprochen – korrekt und nicht sinnlos – aber Sie haben nicht die erwachende Desdemona gesehen in ihrer rührenden blonden Schönheit, als Sie sich anschickten, sie zu erwürgen . . .«

Ben dachte, daß er sie aber gerochen hatte, und daß ein nach Tabak duftendes Sofakissen ihn nicht begeistern könne.

»– und das Bild der Emilia Galotti, nach der Sie – als Prinz – mit jeder Faser Ihres Herzens verlangen, hat Ihrer Stimme nicht das heimliche Beben glutvoller Leidenschaft zu verleihen vermocht.«

»Mein Gott, Herr Schuster,« Ben wagte, bescheiden im Ton, diese Einwendung, »vielleicht – wenn das Bild wirklich eine Dame vorgestellt hätte, wenn auch ein alte Dame und . . .«

»Das ist eben – verzeihen Sie dem erfahrenen Künstler das harte Wort – ist eben das Ungenialische, das Ewig-Dilettantische, das Unausrottbar-Kitschige. Ob das Bild zufällig ein Nilpferd darstellt oder einen Harzer Käse – das ist total gleichgültig. Die große Suggestion, die die anderen erfassen, schütteln, bezwingen soll, all die Blödiane in den Logen und im Parkett, die muß von Ihnen selber ausgehen, muß Sie selbst zuerst gepackt und durchknetet haben.«

Und als ob er zeigen und beweisen wollte, wie dies Wunder geschehe, näherte er sich einem ausgestopften und etwas von den Motten zerfressenen Uhu, der mit großen grünen Glasaugen auf dem niedrigen Ofen stand, legte die Hand mit den blitzenden Brillantringen schweratmend aufs Herz, rang beängstigend nach einem Wort, fand es endlich und lächelte, unsagbar beglückt, den verstaubten Vogel an: »Was seh' ich? Ihr Werk, Conti? Oder das Werk meiner Phantasie? – Emilia Galotti!«

Und sich wieder zu Ben wendend, sagte er mit der rasch erschlafften Miene des schwer Verkaterten: »Und dabei vergesse ich keinen Augenblick, daß es ein Uhu ist.«

. . . In der Nacht, die diesem schweren Prüfungstage folgte, hatte Ben einen schrecklichen und bedrückenden Traum. Er schoß einen Uhu in unserem Garten. Und als der Vogel vom Aste fiel, war's gar kein Uhu, sondern der Direktor Tycheles. Dem aber Federn aus den Ohren wuchsen. Und in entsetzlicher Angst packte Ben seine Jagdbeute in den blau und rot gewürfelten Überzug eines riesigen Sofakissens und warf die abscheuliche Last in ein Gewässer, das gerade so aussah, wie der Main bei Schwanheim, von dem Ben aber, ohne je in Ägypten gewesen zu sein, wußte, daß es nur der Nil sein konnte.

Als er in durchgeschwitztem Hemde aufwachte, hatte er den Gedanken, Schauspieler zu werden, für alle Zeiten aufgegeben.

Aber er ging hinfort auch nicht mehr so gern, wie früher, ins Theater. »Wenn ich jetzt den Schuster auf der Bühne sehe, muß ich immer an den Uhu auf dem niedrigen Ofen denken,« sagte er.

Dafür las er viel. Alles durcheinander aus Reclamheftchen, die sich schließlich auch zwischen den Seiten des Tacitus und Cicero unterbringen ließen. Andersen und Calderon, Heine und Puschkin, Swift und Jokai, Börne und Immermann. Oft ließ er sich auch von Ruth Baddach beraten, bei deren Vater Paul Heyse und Georg Ebers verkehrten, wenn sie durch Frankfurt kamen, und die alles las, was dem Konsul von seinem Buchhändler geschickt wurde.

Und dann trieb er auch Reitsport.

Das letztere Vergnügen verdankte er eigentlich Tante Tüßchen. Die hatte der Mutter den Gedanken nahegelegt, wie gefährlich es sei, wenn Ben einmal, als Einundzwanzigjähriger, plötzlich nach dem Gesetz über ein großes Vermögen frei verfügen könne, ohne vorher an ein etwas kostspieligeres Leben gewöhnt worden zu sein. Wie in allen Dingen Beispiele die Stärke ihrer Rede waren, so kannte sie auch hier einleuchtende Exempel von Jünglingen, die, in allzu spartanischer Einfachheit erzogen, dann plötzlich zu Geld gekommen, in einer einzigen Woche oder gar in noch kürzerer Zeit Hunderttausende verzettelt und verjubelt hatten. Speziell einen Fall hatte sie im Auge, wo der Sohn eines kalifornischen Krösus – oder war es ein indischer Radscha? – in Unkenntnis seines Reichtums herangewachsen war und dann, als sein Schatz ihm meuchlings übermittelt wurde, einer Bauchtänzerin haselnußgroße Brillantringe für alle zehn Fußzehen geschenkt hatte.

Wenn auch meine Mutter nicht glaubte, daß Ben die Ersparnisse seiner guten Tanten sofort in Brillantringen für die Füßchen einer Bauchtänzerin oder ähnlich schmachvoll anlegen würde, so machten die Worte der besorgten Schwester doch Eindruck auf ihr leicht zu verdüsterndes Gemüt. Ein wenig abergläubisch, wie sie war, empfand sie es auch als eine Art Warnung des Schicksals, daß just an diesem Abend der Raimundsche »Verschwender« in einer Neueinstudierung im Schauspielhaus gegeben wurde. Rasch entschlossen, spendierte sie dem überraschten Ben einen Parkettsitz für dieses höchst lehrreiche Stück und ließ sich abends, als er heimkam, den Inhalt, den sie nicht mehr recht zu kennen heuchelte, ganz genau von ihm erzählen.

An diese Erzählung knüpfte sie dann belehrsame Erörterungen über den höchst verderblichen Leichtsinn des sonst sympathischen Julius von Flottwell. Wenn Raimund diesem allzu großzügigen Genießer die edle Fee Cheristane und später in der Gestalt des Bettlers den nicht minder wohlgesinnten Geist Azur beigegeben, so habe er, scheine ihr, damit sagen wollen, daß man überirdische Kraft zu Hilfe rufen müsse, um der gefährlichen Neigung zu sinnloser Verschwendung erfolgreich zu widerstehen.

Ben, der sich während dieser Unterredung das warm gehaltene Abendessen mit gewohntem Appetit schmecken ließ, gab zu, daß das eine durchaus verständige Erklärung sei, und äußerte, er habe in der großen Pause bereits ein vorzügliches Schinkenbrötchen dem Theater gegenüber bei der Frau Hold zu sich genommen.

Die Mutter wies dann auf die vorbildliche, aber leider seltene Treue des Dieners Valentin hin, die, als ein Glücksfall für den leichtsinnigen Herrn von Flottwell, durchaus nicht immer in Rechnung zu stellen sei. Namentlich nicht bei den derzeitigen Dienstbotenverhältnissen.

Ben, der ein kaltes Hühnerbein in Arbeit hatte, bestätigte das und fügte seinen früheren Mitteilungen hinzu, daß die Frau Hold für eine schließlich auf Zuspruch angewiesene Wirtin zwar erstaunlich grob, aber ihr Schinken weitaus der beste in Frankfurt sei.

Die Mutter rühmte, wie solche Zaubermärchen durch einen tieferen Sinn so gut oder nicht viel schlechter, als die »Iphigenie« des großen Mitbürgers oder die »Räuber« seines Freundes, zum Nachdenken anregen müßten.

Ben, der sich, abschließend, einen Apfel schälte, ging hierin mit ihr einig und erzählte, daß auch Elsbeth Tomasius im Theater gewesen sei. Ganz in seiner Nähe. Und oben im ersten Rang habe Ruth Baddach gesessen. Die finde aber den »Verschwender« zu sentimental.

Die Mutter gab nun ihrer Überzeugung Ausdruck, daß gesunde Leibesübungen nicht eigentlich – auch wenn sie Geld kosteten – zur sogenannten Verschwendung zu rechnen seien. Der junge Körper müsse gestählt und ein Gegengewicht gegen das viele Sitzen über den Büchern geschaffen werden. Und wenn Ben wirklich meine, daß ihm der Reitunterricht zuträglich sei, so wollte sie ihm gestatten, am Samstag mal im Reitinstitut von Zwerg und Söhne anzufragen, ob er vielleicht noch an einem Kursus teilnehmen könne.

Als er dies hörte, ließ Ben die letzte Apfelscheibe, die ohnedies etwas angestoßen war, auf den Teller zurückfallen, sprang auf und herzte seine »alte Dame« ab, daß der ganz angst und bange wurde. Er versprach ihr jubelnd, ganz bald Fensterpromenade zu reiten, worauf sie keinen Wert legte in der nicht unrichtigen Anschauung, daß gründliche Übungen in der Bahn, in deren Sand man schließlich weicher falle, als aufs Straßenpflaster, unbedingt vorausgehen müßten. Auch nahm sie Ben das Wort ab, keine zu feurigen Tiere zu besteigen, keine Hengste, von denen sie sich arger Unarten versah. In dieser Vorsicht lag vielleicht eine gewisse Überschätzung des Pferdematerials von Zwerg und Söhne; aber eine Vereidigung Bens schien ihr dennoch nötig.

Die Mitternacht war nahe, da hörte man noch aus Bens Stübchen gedämpften Gesang. Er hatte noch rasch einen Brief geschrieben. Jetzt zog er sich, vergnügt und mit sich und seinem Tagewerk zufrieden, aus und sang dazu, nicht ganz richtig, aber von Herzen, das eigentlich so resignierte Lied des Valentin, das sich doch die Welt und just alle jungen, hoffenden Herzen erobert hat:

Da streiten sich die Leut' herum
Wohl um den Wert des Glücks.
Der eine heißt den andern »dumm«,
Am End' weiß keiner nix . . .


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