Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Dreißigstes Kapitel

Ich saß in seiner Junggesellenwohnung am Kettenhofweg und wartete auf Ben.

Peter Pütz, der Diener, vorbildlich rasiert und gescheitelt, wortkarg, ernst und sehr korrekt, sagte, der Herr Doktor seien nur für eine halbe Stunde in dringlicher Angelegenheit ausgegangen und ließe bitten, zu warten. Peter Pütz hatte etwas erschreckend Feierliches, das den Angeredeten ehrte und doch jeden Widerspruch ausschloß. Hugo Hagedorn mit dem Holzbein war mir ja persönlich lieber gewesen. Aber Hugo Hagedorn hatte damals von Heidelberg nicht mitkommen wollen. Er meinte, sein Holzbein würde sich nie an das Frankfurter Pflaster gewöhnen; und so hatte er, weinend wie ein Schloßhund, Abschied von Ben genommen. Und vielleicht war das gut so; denn er wäre eine lebendige Erinnerung gewesen an die hübsche blonde Ev', die eines späten Sommertags mit einer Wurst die Treppen gestiegen kam und später so oft mit Blumen, mit viel, viel Blumen.

Und doch hatte Peter Pütz eine gewisse Verwandtschaft mit Hugo Hagedorn, seinem Vorgänger. Keine Verwandtschaft des Bluts. Aber auch er hatte einen Defekt. Keinen körperlichen; obschon manchmal, wenn er gar zu feierlich wurde, der Verdacht nahelag, er hätte zwei Holzbeine. In seiner Vergangenheit war etwas nicht in Ordnung. Und das gerade hatte Ben bewogen, ihn zu engagieren. Pfarrer Köhne, der Schwiegersohn des Pfarrers Knospe, der nun auch schon draußen auf dem Friedhof seinen gemeißelten Spruch aus dem Korintherbrief auf dem weißen Marmorkreuz hatte, war so freundlich gewesen, ihn zu empfehlen. Pfarrer Köhne war Gefängnisgeistlicher in Dingelheim und hatte als solcher sich auch um die Seele des Peter Pütz bemüht. Dieser war leider, als Friseurlehrling, bei einem harten Meister durch viele Kopfnüsse und wenig Nahrung auf die schiefe Bahn gedrängt worden. Seine Vorliebe für geschmackvolle und kostbare Schlipsnadeln war ihm dann beim Bedienen der Kunden in den westlichen Villen verhängnisvoll geworden, und ein erster peinlicher Aufenthalt in Dingelheim hatte ihn dem Pfarrer Köhne nahe gebracht. Aus Dingelheim entlassen, war Peter Pütz Photograph geworden, hatte dann aber leider seinen bescheidenen Verdienst wiederum nicht mit seinen Lebensansprüchen in Einklang zu bringen vermocht. Und als eines Tages sich eine schon etwas angejahrte, aber vermögliche Dame zum Zweck der illustrativen Unterstützung einer Heiratsofferte bei ihm photographieren ließ, hatte er sie gebeten, Schirm, Handschuhe und Handtäschchen abzulegen und, »bitte, recht freundlich,« in den Apparat zu schauen. Damit die ausgezeichnete Kopfhaltung, die ihn bei der Nachprüfung bezauberte, nicht verloren gehe, hatte er der verzückt Lächelnden einen eisernen Halter fest in den Nacken geschoben und auch ihren Rücken entsprechend gestützt. Dann war er zur Präparation der Platte in die Dunkelkammer verschwunden, hatte aber dabei in künstlerischer Zerstreutheit, die ihm später das Gericht leider nicht glaubte, die hinter der recht freundlich Lächelnden auf dem Stuhl liegende Geldtasche mitgenommen. Das Resultat seiner künstlerischen Tätigkeit in der Dunkelkammer war dann für die heiratslustige Dame unerfreulich gewesen. Es hatten ihr später in der Geldtasche einundachtzig Mark gefehlt, von denen sie sich ungern trennte. Und da auch das bestellte Bildnis durchaus nicht den Hoffnungen entsprach, weil Peter Pütz, von anderen Gedanken in Anspruch genommen, dieselbe Platte zweimal benützt hatte, so daß die Bestellerin zwei Köpfe auf dem Bild hatte, deren einer wegretuschiert werden mußte, so ergaben sich gerichtliche Weiterungen, die schließlich Peter Pütz bedauerlicherweise wieder nach Dingelheim geführt hatten. Hier aber hatte sich unter dem milden Einfluß des gütigen Pastors Köhne die schöne seelische Wandlung vollzogen. Peter Pütz hatte, gestützt vom Zuspruch des mildgesinnten Geistlichen, eine Reihe von ganz vortrefflichen Vorsätzen gefaßt und diese auch umständlich zu Papier gebracht. Pastor Köhne hatte gerührt dieses nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Bekenntniswerk seines Pfleglings daheim seiner lieben Frau vorgelesen, und Frau Emma Köhne, geborene Knospe, hatte, was in der Knospeschen Familie gern geübt wurde, reichlich Tränen vergossen bei der Lektüre dieses menschlichen Dokuments. Durch die Pastorin hatte Ben, der, heimgekehrt von seiner Reise, einen Kondolenzbesuch bei Köhnes machte, von der schönen Wandlung dieser verirrten Seele erfahren. In einem seiner so raschen wie gütigen Entschlüsse hatte er Peter Pütz, bei seiner gerade erfolgenden Rückkehr in die freie menschliche Gesellschaft, den Posten als Diener bei sich angeboten; wobei ein wenig auch die Erwägung mitsprach, daß Peter Pütz, als gelernter Friseur, rasieren konnte und, als gelernter Photograph, bei der Entwicklung der Hunderte von Aufnahmen, die Ben auf seiner Reise gemacht, vortreffliche Dienste leisten konnte. Hocherfreut hatte sich Peter Pütz auf Rat des Pfarrers Köhne das Buch des Prinzen Reuß »Der herrschaftliche Diener« angeschafft und war nun sichtlich bemüht, nach den ausgezeichneten Winken und Angaben dieses hochgeborenen Autors sein berufliches und privates Leben zu regeln und einzurichten. Wobei allerdings dadurch eine gewisse Komplikation entstehen mußte, daß der Prinz Reuß bei seinem verdienstvollen Werkchen den herrschaftlichen Diener in einem hochherrschaftlichen, an Räumen und Personal reichen Hause im Auge hatte, während sich in den drei nicht großen Zimmern Bens, selbst wenn man die kleine Küche, die puppige Besenkammer und das winzige Dienerzimmer hinzurechnete, keine rechten räumlichen Möglichkeiten für eine volle Entwicklung all der Zeremonien, Regeln und Bräuche ergaben, deren pünktliche Ausübung der Prinz Reuß für seine Dienststunden dem perfekten herrschaftlichen Diener angelegentlich empfahl.

Mich, der ich durch unser Hausmädchen, das vom Lande war, auf Korridoren sang und mit Vorliebe vor mir durch die Türen ging, mit korrektester Bedienung nicht gerade verwöhnt war, verwirrten die mit Ehrerbietung gesättigten und durch Bücklinge betonten Beweise einer kultivierten Dienstfertigkeit, wie sie Peter Pütz nach den Regeln des Prinzen Reuß zu üben wußte. Ich war froh, als er sich jetzt wieder, nach einer letzten Verbeugung in halbgeöffneter Tür, zurückgezogen hatte und mich allein ließ.

Behaglich war's hier, das mußte man Ben lassen! Das Schlafzimmer ganz im Biedermeierstil mit Kirschbaummöbeln, die er sich selbst bei Althändlern in Mainz und Wiesbaden, oft mit Lebensgefahr die staubigen, dunklen Gewölbe durchkriechend, zusammengekauft hatte. Die beiden Wohnzimmer angefüllt mit Erinnerungen an die fröhliche Studentenzeit und an die große Reise. Vieles von dem Mitgebrachten hatte freilich seinen rechten Platz noch nicht gefunden. Schwere türkische Reiterpistolen, grellbunte bulgarische Stickereien, schlanke Araberdolche, zarte Fayencekacheln, seidene Brussatücher und allerlei zerbrochene und erdbeschmutzte Dinge von Ton und Stein, die von Ausgrabungen stammten oder doch diesen Anschein erwecken wollten, lagen und standen auf kleinen Tischen umher. Ein paar Teppiche aus Smyrna, Tongefäße aus dem Scamandertal und eine kleine Sammlung alter Koranausgaben war noch unterwegs. Das wußt' ich aus seinen Briefen.

Famose Episteln hatte er geschrieben von unterwegs. »Sendschreiben« nannte er sie großartig. Sammelbriefe waren's an alle Verwandte zugleich, mit persönlichen Postskripten für die einzelnen. »Erwartet nicht,« hatte er in seinem ersten Brief geschrieben, »daß dabei neue wilde Völkerschaften entdeckt, fabelhafte Tierspuren in den Basalten oder Schieferschichten gefunden werden. Hofft nicht, daß ich Eure Phantasie füllen werde mit unerhörten Abenteuern, die weder im Walter Scott noch im Rinaldo stehen – das wird nicht einmal die phantasiebegabte Tante Tüßchen erwarten. Ich bin auch nicht der selige Herodot aus Halikarnaß, der seinem Publikum lauter unbekannte Gegenden beschreiben und den lieben Mythenklatsch auftischen durfte, mit dem heute unsere seufzenden Sextaner noch reichlich gefüttert werden. Ich bin auch froh, daß ich's nicht bin. Denn der alte Herodot ist zwar ein berühmter, aber ein toter und stiller Mann. Ich aber sehe die lebende, lachende Welt noch gern mit meinen lebenden lachenden Augen . . .« So stand's im ersten Sendschreiben zu lesen; und danach hat er gründlich gehandelt. Nach frohen Tagen in Wien, wo ihn der Prater mehr fesselte, als der Stephansdom – »wenn ich noch lange hier bleib', komponier' ich Walzer,« schrieb er – war er nach Belgrad gefahren. Köstliche Schilderungen von den Sehenswürdigkeiten dort hatte er gemacht, die mehr oder minder in Bäumen bestanden, an denen vor soundso viel Jahren ein Pascha die Janitscharen aufknüpfen ließ, oder in anderen Bäumen, an denen nun wieder die Janitscharen ihrerseits die Paschas geknüpft hatten. Dann ging's weiter auf dem Balkan nach Sofia. Von dort schrieb er, mit der besonderen Bitte, es Tante Tüßchen laut vorzulesen, die ihn vor seiner Abreise bereits im Balkan ermordet und beraubt gesehen hatte: »Man kann unter unserem Himmelsstrich – so um das gesittete Frankfurt herum – nicht von den Pampas reden, ohne an grell bemalte Indianer und pferdestehlende Gauchos zu denken. Man kann nicht von der Wüste reden, ohne Beduinen im weißen Burnus auf edlen Araberrossen hinter den kahlen Felsen lauern zu sehen, wie sie unser Frankfurter Schreyer so oft gemalt hat. Man kann nicht von Venedig schwärmen, ohne an die schwarzen Gondeln mit dem hochragenden gezackten »Ferro« am Schnabel zu denken. (Adi denkt bestimmt daran!) Und endlich: man kann bei uns nicht den »Balkan« nennen, ohne ängstigende Bilder von Räubern und Meuchelmördern heraufzubeschwören. Von bärtigen, zerlumpten Söhnen der rauhen Felsklüfte, von unerschrockenen Kerlen ohne Skrupel und Gewissen, die auf eigene Rechnung ihre dunklen »Geschäfte« betreiben oder zu hochgestellten Arbeitgebern das zuversichtliche Wort sprechen, das einst schon ihr Seelenverwandter Angelo dem Kammerherrn Marinelli ins wohlgeneigte Ohr geraunt: »Was sich ein anderer zu tun getraut, wird für mich auch keine Hexerei sein. Und billiger bin ich als jeder andere.« Mag sein, daß ein Harmloser, der hinter Berkowitza des Abends die waldigen Höhen zu Fuß hinansteigt, zum Gintzipaß im herrlichen stillen Rotbuchenwald, für den Blick in die wilden Schluchten der Ribna plötzlich einem von keinem Balkanstaat ernannten Steuerbeamten einen reichlichen unfreiwilligen Tribut zahlen muß. Mag sein, daß heute noch ein einsamer Wanderer, der hoch auf dem Schipkapaß großen Erinnerungen an General Gurkos berühmten Übergang nachträumen will, sich plötzlich gezwungen sieht, einigen ungerufenen Fremdenführern, als Zeichen der Erkenntlichkeit für ihre famosen »Erklärungen«, seinen goldenen Chronometer auszuhändigen. Aber wer bei Nacht in einem sanft gleitenden Luxuszug seine Fahrt antritt durch den Balkan von Belgrad nach Sofia, durch das Mischawatal über den engen Dragomanpaß, den vor acht Jahren die Bulgaren in blutigem Ringen an die Serben verloren, der wird beim Erwachen aus ungestörtem Schlummer befriedigt in den jungen Morgen blinzeln, lächelnd über die schlimmen Märchen vom Balkan und seinen wilden Männern. Die Romantik, die in der Praxis recht peinlich werden kann, wird eben immer mehr zurückgedrängt. Zurückgedrängt aus den Ebenen, in denen die großen Städte emporblühen. Zurückgedrängt aus den Bergen des alten Hämos, wie einst der Balkan hieß, da noch die Mygdonen und die thrazischen Agrianen, deren Speerwurf so berühmt war, an den rosenreichen Hängen dieser Berge ihre fetten Herden weideten. Aber Ihr braucht Euch daheim keine Sorge zu machen – ich bin nicht ausgestiegen, unvorsichtigerweise mit zu weiden. Ich bin durchgefahren nach Sofia . . .«

Und auf Sofia folgte Konstantinopel. Wohl wohnte er dort – er hätte nicht der Ben sein müssen – oben in Pera im vornehmsten Europäer-Hotel, aber er kostete auch die ganze Romantik der Märchenstadt in ihren türkischsten Winkeln aus, freundete sich mit den tanzenden Derwischen an, trank, um bunte Tücher handelnd, Kaffee in den Basaren, verlor ein paar Goldstücke in armenischen Spielhöllen. Ja, er verschaffte sich sogar eine Audienz beim Generalsekretär des Sultans und erzählte dem unheimlich höflichen Herrn in seinem ausgezeichneten Französisch, daß er diese Studienreise »zur Anbahnung eines besseren Verständnisses zwischen Orient und Okzident« unternommen habe. Wobei es ihm gelang, die durch einen kleinen jüdischen Dolmetscher übermittelte Gegenfrage, in welcher Richtung er diese völkerbeglückende Tätigkeit auszuüben denke, dreimal zu überhören oder doch nur durch spontane Kundgebungen der Bewunderung für die landschaftlichen Schönheiten des Bosporus und der Süßen Wasser von Europa etwas unklar zu beantworten. Jedenfalls hatte der gute Ben, sei es durch sein liebenswürdiges Wesen allein und durch die Überlegenheit, die die Beherrschung fremder Sprachen verleiht, sei es durch die mystischen Hinweise auf seine künftige versöhnliche Wirksamkeit, den mißtrauischen Orientalen, der unbeweglich, in einen langen schwarzen Rock geknöpft, aus dem schmalen schwarzen Schlitz seiner listigen Augen ihn unverwandt prüfte, so für sich eingenommen, daß ihm dieser beim Abschied durch den Dolmetscher sagen ließ, er werde nicht verfehlen, Seiner Majestät dem Sultan von der Anwesenheit des Herrn Benjamin Mewes in Konstantinopel Kenntnis zu geben. »Was sich Seine Majestät der Sultan bei dieser Mitteilung gedacht hat,« schrieb Ben, »weiß ich nicht. Odalisken hat er mir nicht geschickt. Irgendwelche Festbeleuchtungen des Goldenen Horns oder Maskenbälle im alten Serail wurden zu meinen Ehren nicht angesetzt. Doch fand ich allerdings im Hotel, zwei Tage später, einen von einem Kawassen des Jildis überbrachten Erlaubnisschein, mir die für Fremde sonst schwer zugänglichen Schatzkammern des Sultans aufschließen und zeigen zu lassen. Der Gang durch dieses berühmte Schatzhaus, das auf der östlichen Landspitze von Stambul, an der Stelle der versunkenen Akropolis des vorchristlichen Byzanz liegt, wird dadurch ein wenig unbequem, daß ein kleines Heer von schweigsamen Wächtern in dem hochgeknöpften schwarzen Bratenrock, der in der Türkei zu allem Feierlichen gehört, den alten Hausmeister begleitet, der mit zwei riesigen Schlüsseln die eisernen Türen aufschließt. ( NB. Jetzt kann ich mir endlich eine Vorstellung machen von unseres edlen Schwagers Kurt aufreibender Tätigkeit als Oberschloßhauptmann!) Diese schweigsamen, schwarzen Wächter, im Lemurenschritt gleitend, weichen einem nicht von der Seite. Einer sieht mir unverwandt auf die linke Hand, einer auf die rechte Hand, einer ins linke Auge, einer ins rechte Auge. Ja sogar auf die Beine sehen mir zwei. Es muß vorgekommen sein, daß sich hier öfter Zehenkünstler eingefunden haben zum Stehlen. Kinder, das lohnt schon! Was hier in drei mäßig großen Sälen und den dazu gehörenden Galerien an Kostbarkeiten aufgespeichert ist, das wirkt auf das verblüffte Auge des Mitteleuropäers wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Oder doch: es könnte so wirken. Aber leider ist wenig Ordnung und gar kein System in diesen Sammlungen, von denen das kleinste Zimmer sicherlich viele Millionen Wert repräsentiert. Was wäre aus dieser einzigen Sammlung zu machen, wenn man ihr breite schöne Säle mit Licht und Luft gäbe! Wie würden diese Tausende von Rubinen, Smaragden, Diamanten funkeln im Licht! Anstatt dessen liegen billige Bernsteinwaren und verstaubte Korallen, die ein Kenner in Neapel für einen Napoleon viel schöner kauft, bei unbezahlbaren viereckigen Brillanten, bei dunklen Topasen von fabelhafter Größe in Prunkgeschirren aus blauem Lapislazuli, in riesigen flachen Onyxschalen. Bei goldenen Vasen von wundervoller Arbeit rostet eine alte Spieldose oder langweilt sich eine wertlose Wasserpfeife aus Böhmen. Wenn hier einem Künstler einmal erlaubt wäre, Ordnung zu bringen in das Chaos! Wenn er die furchtbaren Holzgerüste entfernen dürfte, die auf den Galerien, steif wie die Modellgestelle bei einem Pariser Schneider, die Prachtgewänder der Sultane aus kostbarstem Brokat tragen! Wenn er die entsetzlichen Turbane, die ohne Vermittlung von Kopf und Hals auf den eckigen Schultern sitzen und an ihren verstaubten Aigretten die edelsten Steine Europas in nie gesehener Größe zeigen, durch andere ersetzen dürfte, und all diesen mit Smaragden und Diamanten überladenen Schwertern und Dolchen einen anderen Platz geben, als in den schmutzigen Gürteln dieser verstaubten Puppen! Wer hier nicht, genauer zusehend, staunend erkennt, daß der Griff dieses Dolchs von einem einzigen Smaragden gebildet wird, und daß jener persische Thron beim Eingang unter den Tausenden von echten Perlen, die über seinem Sitz – mehr die Kostbarkeit, als die Bequemlichkeit erhöhend – hingestreut sind, keine einzige aufweist, die kleiner ist, als eine wohlgebaute Erbse – der verläßt die reichste Schatzkammer des Kontinents mit dem Eindruck, nur die verwirrend reichhaltige Garderobe eines deutschen Stadttheaters gesehen zu haben . . .« Als dieser Brief beim sonntäglichen Familienessen bei der Mutter vorgelesen wurde, war Tante Tüßchen der Ansicht, daß Ben unbedingt den Versuch machen müßte, dieser in die Schatzkammern des Großsultans Ordnung bringende mitteleuropäische Künstler zu sein. Sie war überzeugt, daß der Sultan, der ja zu ihrer Genugtuung von Bens Ankunft in Konstantinopel »unterrichtet« war, solchen Vorschlag nur mit Freuden begrüßen könnte. Sie wußte aus Büchern, die sie gelesen, daß man unter Harun al Raschid, der allerdings in Bagdad lebte, aber auch sonst unter weisen Kalifen fabelhafte Karriere machen konnte, wenn man einen guten Vorschlag mit der im Orient seltenen Redlichkeit der Ausführung verband. Es wäre doch herrlich, meinte sie, wenn Ben dadurch in jungen Jahren schon eine hoher Würdenträger würde und vielleicht als Ben-Pascha mit dem Prädikat Exzellenz oder so zurückkomme. Sie ließ sich auch nicht davon abhalten, Ben in diesem ermunternden Sinn zu schreiben. Aber Ben hat diesen interessanten Brief der Tante, der über Pera, Brussa, Smyrna, Ephesus, Athen, Triest, Lugano hinter ihm herreiste, erst mit vielen türkischen und deutschen Aufschriften versehen im Kettenhofweg in Frankfurt bekommen. Wer weiß, welche Wendung sonst seine dem Sultan gerühmten Studien und sein persönliches Geschick genommen hätten.

. . . Auf Ben, der lange ausblieb, wartend, ordnete ich seine mitgebrachten Briefe, die er, an Stelle eines Tagebuchs, geschrieben und sich nun zur Zusammenstellung seiner Reiseerlebnisse und Registrierung seiner photographischen Aufnahmen zurückerbeten hatte. Ich hatte ihn neulich bei seiner Rückkehr nur flüchtig auf dem Bahnhof gesehen, und war nun begierig, wie er sich sein neues Leben, dessen Aufgaben und Ziele wohl dachte. Das Jahr nach seinem in holdem Leichtsinn gut bestandenen Doktorexamen hatte er mit der Suche nach einem geeigneten Wirkungskreis in Deutschland ausgefüllt. Erst hatte er ein paar Wochen die Dresdener Galerie studiert, wobei ihm eine hübsche Amerikanerin half, deren Vater in St. Louis Bier braute. Dann hatte er einen Monat mit großer Begeisterung Alt-Weimar auf Goethes Spuren durchwandert und hatte sich hier von einer Malerin den Plan suggerieren lassen, alte deutsche Städtebilder als Prachtwerk herauszugeben. Zu diesem Zweck hatte er wochenlang in Lüneburg, Hildesheim und Goslar Wohnung genommen. In Hildesheim waren ihm leider alle seine Lüneburger Bilder und Notizen gestohlen worden; und in Goslar hatte er Ärger mit den Behörden gehabt, der ihn so sehr verstimmte, daß er die geplante Reise zum »Meistertrunk« nach Rothenburg aufgab und mit viel Stichen und Aquarellen, einem in Lüneburg vertauschten Koffer und einem in Goslar zugelaufenen älteren Foxterrier nach Frankfurt heimkam, um eine Studienfahrt in den Orient zu rüsten. Bei all diesen Plänen und Unternehmungen litt er immer, etwas beschämt, unter dem Gedanken, daß er eigentlich ein ganzes Jahr nichts Rechtes, wenigstens nichts recht Sichtbares und Nachweisliches gearbeitet hatte. In der Familie war doch sonst jeder in seiner Weise tätig; ich als recht beschäftigter Anwalt, Schwager Kurt als nicht immer auf Rosen gebetteter Oberschloßhauptmann eines immer älter und schrulliger werdenden kleinen Fürsten, und sogar der sich den Siebzigern nähernde Onkel Amman wirkte noch als Vorsitzender einer Reihe mehr oder minder überflüssiger, aber immerhin Sitzungen abhaltender und Akten füllender Vereine. An einigen Anspielungen auf junge Leute, denen's zu gut geht und die gar nicht wissen, wie sich andere plagen mußten, von gewissen Seiten fehlte es auch nicht. Nur Tante Tüßchen, die mit zunehmendem Alter einer immer vergnügteren Lebensauffassung huldigte, äußerte mehrfach ihre freudige Genugtuung, daß mal einer in der Familie kein Arbeitstier in der Tretmühle zu sein brauche und immer zur Verfügung stehe, wenn sie bei schönem Wetter in den Taunus fahren oder an einem regnerischen Abend in die oft gesehene »Afrikanerin« gehen wollte. Gerade solch zweifelhaftes Lob aber ließ Ben die Vorbereitungen für seine Orientreise beschleunigen. In seiner optimistischen Art maß er dieser Expedition entscheidende Bedeutung für seine künftige Lebensarbeit zu; ohne allerdings zunächst zu ahnen, welche neuen und merkwürdigen Aufgaben ihm die Bekanntschaft mit dem Balkan, dem Bosporus und den Träumerstätten Kleinasiens vermitteln könnten.


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