Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Viertes Kapitel

»Auf seine Vaterstadt ist jeder stolz. Und hätte sie nichts Besonderes, als einen alten Kirchturm mit goldenem Gockelhahn und ein paar winklige Höfe, in denen alte Leiterwagen stehen.

»Auf dem Dach des Domes von Mailand, im Anblick der Peterskirche in Rom wird dem Deutschen noch der Gedanke an seinen alten Kirchturm auftauchen! und bei aller Bewunderung der Künste des Pellegrino Pellegrini und des Lombarden Bramante wird er in leiser, innerlicher Abwehr dankbar protestieren: »Mein Kirchturm daheim war aber auch schön; und so ein wunderlicher Gockelhahn für die Spitze ist weder dem Pellegrino Pellegrini noch dem Lombarden Bramante eingefallen.« Und durch die bunten Säulengänge der Alhambra oder über den Riesenhof der Omarmoschee die scheuen Schritte lenkend zum heiligen Stein, der Adams erste Fußstapfen spürte und bewahrte, wird er plötzlich das liebe winklige Höfchen aus seiner Heimatstadt vor seiner Seele Augen aufsteigen sehen; und die rostigen Ketten an dem alten Leiterwagen werden durch seine Erinnerung klirren mit einem seltsamen Heimwehton. »Dafür ist er ein Deutscher!«

Der Professor Kunkel war auch ein Deutscher, freilich kein angenehmer. Aber so viel ich der Art entnahm, wie er, der Festrede des Kollegen Wendelin mit verkniffenem Lächeln lauschend, das Kinn in den zu engen Kragen zwängte und die Unterlippe kaute, mißfiel ihm diese schwungvolle Art, den Schülern und deren Angehörigen von ihrer Heimatliebe zu reden. Dieses aber hielt den Redner auf dem mit den deutschen Farben geschmückten Katheder unter den buntgereihten lebensgroßen Kaiserbildern nicht ab, in seine dunkle, männlich schöne Stimme, die zu seiner ganzen Erscheinung gut paßte, noch mehr Wärme zu legen, als er, uns Abiturienten direkt anredend, fortfuhr:

»Wenn einer aber erst, wie Ihr, meine lieben Abiturienten, in Frankfurt geboren ist! . . .

»Frankfurt – ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte, deutscher Städteherrlichkeit schlägt rauschend seine wunderbunten Seiten auf. Erzgeschiente Römerkohorten streben auf sorglich gebauter Heerstraße den Höhen des Taunus zu und schlagen rastend ihr Lager am Main. Karl, der Frankenkaiser, sucht, die Sachsen zu besiegen, seinem Heere die gefahrlose Furt durch den Fluß und gibt der kleinen Merowingersiedlung den Namen. Der Fromme Ludwig baut sich hart ans Ufer die Kaiserliche Pfalz. Der längst als Hauptstadt des Ostfränkischen Reiches zu Glanz und Ansehen gekommenen Stadt verleihen kaiserliche Gunstbriefe immer neue Rechte. Die Messen zu Ostern und im Herbst ziehen aus allen deutschen Gauen Kaufleute und Käufer, Wundertäter und Schaulustige in Scharen heran. Die Goldene Bulle bringt der durch Gewohnheitsrecht zur Wahlstadt gewordenen die feierliche Bestätigung; und seit der zweite Maximilian unter den bunten Bildern der Fassade durch die spitzbogige Tür des »Römer« ins Rathaus der Reichsstadt schritt, empfingen hier, wo wir heute versammelt sind, die deutschen Kaiser das Zeichen ihrer Macht: die Krone . . .«

So ungefähr hatte auf dem geschmückten Katheder da vorn, umgeben vom gesamten Lehrerkollegium, das andächtig zuhörte oder Andacht heuchelte, der Professor Richard Wendelin gesprochen, derjenige unter unseren Lehrern, der es in Klugheit und Güte am besten verstanden hatte, unseren jungen Herzen nahe zu kommen.

Wir Abiturienten saßen, die meisten im ersten Frack, die anderen im schwarzen Rock, nicht ohne Stolz zu seinen Füßen. Hinter uns, nach Klassen geordnet, das ganze humanistische Gymnasium. Vor uns, nur durch den breiten Gang getrennt und durch das kleine inselartige Podium, auf dem der Oberlehrer Münzer einsam, wie ein vergessener Robinson, am Bechsteinflügel hockte, wo er den musikalischen Auftakt und den Schlußgesang der Feier zu leiten hatte, saßen die geladenen Verwandten der Schüler und die Freunde der Anstalt.

Der Professor Wendelin sagte damals bestimmt noch mehr und vermutlich äußerst Gescheites und sicherlich sehr Wichtiges. Zuweilen flatterten auch noch Fetzen seiner schönaufgebauten Rede, die er, nur selten einen flüchtigen Blick auf die Blätter in seinen weißen Handschuhen werfend, frei zu halten bestrebt war, in mein Ohr und Bewußtsein. So hörte ich noch Betrübliches über die Leidenszeiten der Stadt im Dreißigjährigen Krieg, der aber ebensowenig wie der Siebenjährige dem Wohlstand Frankfurts dauernd schaden konnte. Dabei sah Professor Steidel, unser letzter Ordinarius, ein sonst gütiger Mann, der für unsere Leidenszeit etwas spät, einen der übelsten und verknöchertsten Schultyrannen abgelöst hatte und deshalb für unser Empfinden eine Glorie um das bebrillte Haupt trug, meinen Mitschüler Moritz Veilchenstock bedeutungsvoll an. Veilchenstocks in Südafrika reich gewordener Vater versteuerte einige siebzig Millionen und hatte gestern, dankbar für das gerade noch bestandene Abitur des Sohnes, der Naturaliensammlung des Gymnasiums ein ausgestopftes Krokodil und den kunstvoll präparierten Riesenschädel eines Nilpferdes geschenkt.

Ich vernahm auch noch einige sanft mißbilligende Bemerkungen über den Herrn von Dalberg, den Fürstprimas des Rheinbundes, und über die Besetzung Frankfurts durch Napoleon. Mir fiel ein, daß damals, wie erzählt wurde, der Chef des Hauses Bethmann, die Plünderung der Stadt abzuwenden, aus eigenen Mitteln den französischen Truppen unzählige Wagen Käse entgegenfahren ließ. Und mich kam plötzlich, da ich, zu lange mit dem Knoten meiner ersten weißen Halsbinde beschäftigt, nur rasch und dürftig gefrühstückt hatte, ein großes Gelüsten an nach einem einzigen gutbelegten Käsebrötchen. Denn diese Feier im alten Römersaal dauerte nun schon zweieinhalb Stunden; und nach dem Professor Wendelin war noch die lateinische Abschiedsrede unseres Primus Nathan Geyer zu erwarten: »De dignitate feminarum Roma antiqua.« Ich gebe zu, daß mir an jenem Vormittag im April die Stellung der Frau im alten Rom ziemlich gleichgültig gewesen wäre, selbst wenn sich Nathan Geyer dazu entschlossen hätte, mich auf deutsch darüber zu belehren. An die lateinischen Ausführungen dieses durch seine Gründlichkeit gefürchteten Musterschülers aber dachte ich, und mit mir wohl die meisten meiner Konabiturienten, nur mit leisem Schauer.

Inzwischen tagte da vorn noch, in den Ausführungen des Professors Wendelin, die deutsche Nationalversammlung. Die Schüsse, die den General Auerswald und den Fürsten Lichnowsky töteten, knatterten sehr wirkungsvoll aus den geschilderten Pöbeltumulten heraus; und wenige Minuten später schritt der Legationerat von Bismarck durch die Eschenheimergasse nach dem Bundesratspalais, wo er – ein mutiger Versuch seines Königs – den verärgert scheidenden Bundesgesandten Herrn von Rochow ersetzen sollte.

Meine Gedanken waren wieder wo anders. Sie verweilten beim Bundesratspalais, bei dessen Bau – eine Geschichte, deren bloße Andeutung meine auf Anstand haltende Tante Emma sehr empören konnte – der sonst mit dem Raum sehr üppig schaltende Baumeister leider einen gewissen, selbst für Diplomaten nicht entbehrlichen geheimen Platz einzubauen vergessen hatte.

Diese Ideenverbindung brachte mich wieder auf Tante Emma und meine Familie, die vollzählig, wie ich wußte, diesem feierlichen Akt meiner Entlassung aus der Schule ins Leben beiwohnen wollte, und die ich in dem Gewühl der »Verwandten und Freunde der Anstalt«, das da vor mir unter den lebensgroßen Bildern der Kaiser sich unruhig ausbreitete und an den Türen noch staute, beim besten Willen nicht entdecken konnte. Das Mittelstück dieser geladenen Versammlung zu sehen war mir allerdings durch den Bechsteinflügel, an dem eben der Oberlehrer Münzer den Schlaf bekämpfte, sehr erschwert. Ich konnte nur, ein wenig vorgeneigt, durch die blankglänzenden Beine des Instruments hindurch meine behutsamen Nachforschungen anstellen.

Gerade zog da vorn unter sichtbarem Beifall und zur größten Genugtuung des vortragenden Professors Wendelin, der selbst Reserveoffizier bei einem Infanterieregiment, seit Orléans Inhaber des Eisernen Kreuzes und darauf vielleicht stolzer war, als auf seinen Professortitel, der schneidige General Vogel von Falckenstein, als siegreicher Preuße, mit der Division Goeben in Frankfurt ein. Die Zeil herunter nach der Hauptwache. Ich erinnerte mich aus meinen frühesten Jahren der meiner kindlichen Naivität unverständlichen Aufregung, die dieser preußische Einzug in die Frankfurter Familien gebracht. »Plünderungen« waren angesagt und erwartet. Daß verschiedene Gebäude »dem Erdboden gleich gemacht« werden würden, war an der Börse und im Café Milani eine ausgemachte Tatsache; man wußte nur noch nicht, ob die Paulskirche und die Judengasse dazu gehören würden. Tante Tüßchen, die sich bewußt war, immer auf Preußen geschimpft zu haben, erwartete stündlich das Eintreffen der Guillotine. Frau Morgenthau hatte persönlich, ihre Nachtruhe opfernd, ihr Silber im Garten hinter dem Holzstall vergraben und später, als sie's erleichterten Herzens wieder ausgrub, einen silbernen Suppenlöffel zu wenig vorgefunden, dem die Gute lange nachtrauerte. Einer resoluten aus Ostpreußen eingewanderten Freundin meiner Eltern aber, die ihr Haus ganz besonders bedroht sah, war es auf unerklärliche Weise gelungen, durch Wachen und Bajonette bis zum General Vogel von Falckenstein selber in sein Hotelzimmer vorzudringen, den sie zu seiner größten Überraschung mit einem Fußfall und den stürmisch hervorgestoßenen Worten grüßte: »Herr Jeneral, Vaterchen und Großvaterchen haben unter Preußen jedient« . . . Und dann war alles sehr harmlos – freilich dafür recht kostspielig –, aber in bester Ordnung gekommen. Und einer von den beiden furchtbaren Kürassieren, die in blankem Küraß, mit gespannten Pistolen, auf hohen Rappen, der Infanterie voran, unterm Stahlhelm das geängstigte Publikum scharf fixierend, die Zeil hinunter trabten, hatte sich später – mein Vater erzählte das oft mit schmunzelndem Behagen – als biederer Weinreisender entpuppt, der den verblüfften Frankfurter Patriziern ganz gemütlich seine nicht billigen Saarweine andrehte.

Während meine schweifenden Gedanken so in der Vergangenheit, in Ruhm und Mißgeschick meiner Vaterstadt herumwühlten, hörten meine Augen nicht auf, zwischen den Beinen des Bechsteinflügels in der Menge der Teilnehmer am Festakt meine Verwandten zu suchen.

Sie waren, ich wußt' es, ziemlich vollzählig erschienen. Nicht nur um mich unter den aufgerufenen Abiturienten im Schmuck des ersten Fracks zu sehen; auch Benjamin sollte von Sexta nach Quinta aufrücken. Man raunte sich mit heimlich leuchtenden Blicken in der Familie zu, die Möglichkeit sei gegeben, daß er »Primus« werde. Das hatte er nun freilich nicht gemacht; und es gehörte der ganze fröhliche Optimismus, der ihn auszeichnete, dazu, sich das einzubilden und in Andeutungen vorzubereiten.

Als der Ordinarius der Sexta die Platzfolge der nach Quinta versetzten Schüler, vorlas, ergab sich's, daß Benjamin als Fünfzehnter unter Zweiunddreißig diese höhere Stufe humanistischer Gelehrsamkeit erklomm. Also zwar ganz schön in der Mitte, aber doch keineswegs eine ernste Konkurrenz für den rothaarigen Siegmund Simon, der seit der untersten Vorschulklasse in jedem Diktat »Null Fehler« schrieb und in den vier Jahren nur viermal – alljährlich am Versöhnungsfest – den Unterricht versäumt hatte.

Jetzt hatte mein Blick die ganze Familie Simon entdeckt, den Bankier selbst und vier mäßig blühende Töchter, alle rothaarig und reichlich mit Sommersprossen gesprenkelt. Dicht hinter diesen wuscheligen Mädchenköpfen, die den Anschein erweckten, als sei da mitten im Saal Feuer ausgebrochen, gewahrte ich jetzt Tante Tüßchens überaus festlichen, mit Rosen geschmückten Hut. Sie hatte ihr in Perlmutter gefaßtes Opernglas in der Hand, das sie durch den größeren Teil ihres Lebens begleitete, und kaute diskret etwas, das ihr sicherlich als ein segensreiches Prophylaktikum gegen irgendeine in der Menge drohende Ansteckungsgefahr empfohlen war, das aber, nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, nicht lieblich schmeckte.

Neben ihr saßen die Eltern. Der Vater, wie immer bemüht, durch die wuchtige Masse seines riesigen Körpers die hinter ihm Sitzenden nicht um den Genuß des Ausblicks zu bringen, die Mutter mit verklärtem Glückslächeln bald ihren Abiturienten suchend, bald ihren Jüngsten, von dem in der allzu reichen Vortragsfolge dieser »Progressionsfeier« noch eine Deklamation zu erwarten war, bald einen stolzen Blick zur Seite werfend auf das strahlende Brautpaar, das übermorgen in der St. Katharinenkirche für immer verbunden werden sollte.

Vorn sprach jetzt der Oberlehrer Kappel, der den mitleidlosen Spitznamen führte »Oberlehrer Zappel«, weil alles an ihm zappelte. Seine Arme und Beine waren im Unterricht und auch sonst, wenn er redete, in einer beständigen nervös zuckenden Bewegung; und er war anzusehen, als ob er geradeswegs aus einem Ameisenhaufen käme. In Anbetracht dieser Eigentümlichkeit war sein Thema: »Der Tanz in der Antike«, nicht sehr glücklich gewählt. Tante Tüßchen, die ihr Opernglas nicht vom Auge ließ, hat mir später gestanden, daß sie geglaubt habe, der merkwürdige Mann gedenke seinen Vortrag durch Andeutungen charakteristischer Tänze der Alten anschaulich zu erläutern.

Während der Oberlehrer Kappel bemüht war. nachzuweisen, daß die »Orchesis« der Hellenen nicht nur rhythmisch schöne Bewegungen geboten, sondern die gesamte Kunst des Gebärdenspiels mitumfaßt habe, sah ich hinüber zur Schwester Mathilde, deren lächelnde Augen im Blick ihres Verlobten, des aufrecht in allem Glück die Würde wahrenden Hauptmanns Kurt von Möckwitz ruhten.

Mir fiel das Gespräch ein, das ich gestern in der Dämmerung des »Ställchens« mit meinem Brüderlein Benjamin über Verlobung, Hochzeit und Geschwisterliebe gehabt, und das den folgenden denkwürdigen Verlauf genommen.

»Adolf,« sagte Benjamin, indem er mit Hilfe von Bauklötzen seine auf dem Plateau des ungeliebten lateinischen Übungsbuches von Ostermann aufgebaute Pappfestung gegen jeden feindlichen Angriff verstärkte, »das ist doch eigentlich komisch, gelt, daß die Mathilde diesen Donnerstag mit dem Kurt einfach fortgeht von uns?«

»Gott, so einfach ist das schließlich nicht mit dem Fortgehen. Sie hat den Kurt voriges Jahr in Pyrmont kennengelernt; dann hat er die Eltern besucht, hat sich mit ihr verlobt, weil sie ihm gefallen hat, und hat dann –«

»Ja, das hat er alles – aber ich finde das komisch. Die Mathilde gehört doch hier ins Haus. Der Kurt könnte ja grad so gut dem Papa seinen Bücherschrank mitnehmen, weil er ihm gefällt, oder die Madonna über dem Sofa in der guten Stube.«

»Das ist doch nicht dasselbe, Ben. Die Mathilde ist kein Schrank und eine Madonna ist sie auch nicht. Und er hat sie doch gefragt, der Kurt, ob sie will. Und sie hat »ja« gesagt.«

»Warst du dabei?«

»Nein, aber ich weiß es.«

»Warum hat sie aber bloß ja gesagt? Verstehst du das, Adi? Sie hat den Papa lieb, sagt sie, und hat die Mama lieb, sagt sie; und uns, dich und mich – nun, uns hat sie doch auch lieb. Und niemand hat ihr was getan. Und da kommt in der Allee in Pyrmont ein fremder Herr und sagt: »Mein Fräulein, Sie haben dies Buch auf der Bank am Erdbeertempelchen liegen lassen.« Und da wird sie rot und sagt: »Entschuldigen Sie, das ist gar nicht mein Buch.« Und da sagt er: »Ja, aber es gehört auch mir nicht.« Und dann zieht er noch einmal den Hut und sagt: »Dann verzeihen Sie, Fräulein, ich heiße Kurt von Möckwitz.« Und das verzeiht sie ihm und sagt, sie heißt Mathilde Mewes. Und jetzt nimmt er uns die Mathilde fort, weil er am Erdbeertempelchen in Pyrmont ein Buch gefunden hat, das ihr gar nicht einmal gehört hat.«

»Ja,« lach' ich, »lieber Ben, wenn man's so schildert, ist's allerdings recht wunderlich. Aber der Kurt hat doch dann die Mathilde zum Hotel begleitet; und mittags bei der Kurmusik hat er sich unserer Mutter vorgestellt, nicht wahr. Und dann haben sie Touren zusammen gemacht im Wagen nach Hameln ins Rattenfängerhaus und mit der Bahn nach Hildesheim zum tausendjährigen Rosenstock – und da hat er die Mathilde eben liebgewonnen und sie ihn.«

»Aber wir haben sie doch auch lieb. Haben sie länger lieb, als er, besser lieb.«

»Besser, Ben? Anders vielleicht, aber nicht besser.«

Benjamin überlegt. »Glaubst du, Adi, daß er sie – geküßt hat? Beim tausendjährigen Rosenstock?«

Die Frage ist mir nicht angenehm. Ich bin selbst in dem Alter, in dem man das Schönste auf den Fluren sucht, um – nun um es nicht gerade als Buchzeichen in die »Antigone« zu legen. Habe auch, mich den Scherzen ruppiger Kommilitonen über die Beziehungen der Geschlechter schamvoll fernhaltend, des öfteren schon über das Wesen der Liebe nachgedacht; aber gerade über die Gefühle der um ein Jahr jüngeren Schwester, die mir bisher Kamerad war, nachzudenken, ist mir peinlich.

»Ich bin nicht dabei gewesen,« weich' ich aus.

»Ich finde die Küsserei überhaupt dumm,« entscheidet Benjamin und beginnt die preußische Infanterie aufzustellen. »Was haben sie davon?«

Mir fällt ein, daß Benjamin jetzt unbewußt auf den Spuren der skeptischen Philosophie des Katers Hiddigeigei wandelt, dessen Bekanntschaft mir die letzte Weihnacht vermittelt hat. Mathilde und ich haben uns auf dem Sofa unter den Zimtsternen und Wachslichtem des Christbaums noch den »Trompeter« abwechselnd vorgelesen. Und als ich, denn die Reihe war an mir – ich glaube, sehr gefühlvoll – das Lied Jung-Werners las: »Nein gedenk' ich, Margarete,« ist sie plötzlich, mit den Tränen kämpfend, aufgesprungen und in ihr Zimmerchen geeilt. Ich Hab' mit meinem goldgeschnittenen Trompeterbuch ziemlich dumm auf dem Sofa dagesessen, ein wenig verdutzt in Anton von Werners Illustrationen geblättert, dann einige Zimtsterne von den Goldfäden genommen und sinnend vertilgt, und schließlich nachdenklich das Kuvert aufgehoben, das der Schwester bei ihrer Flucht aus dem Briefmäppchen auf den Teppich gefallen war. An sie adressiert, Poststempel »Pyrmont«, mit dem Datum des August.

»Sie kennt uns alle doch viel, viel besser,« räsonniert Benjamin weiter, während er, ziemlich unmilitärisch, hinter die auf ihren blauen Beinen marschierende Infanterie attackierende rote Husaren aufbaut, »und dann läuft sie uns einfach mit dem fremden Mann fort. Warum denn? Weil er ihr den tausendjährigen Rosenstock gezeigt hat oder weil er ihr ein schmieriges Buch nachgetragen hat?«

»Schmierig, Ben, war das Buch nicht,« berichtige ich. Das kann ich. Ich weiß, daß das Buch noch ganz neu und sogar unaufgeschnitten war. Denn Kurt hatte es, wie er später gestand, eine Viertelstunde ehe er's hinter Mathilde hertrug, erst selbst in der Buchhandlung am Kurtheater hinterlistig gekauft.

»Was findet sie eigentlich so Besonderes an ihm?« Benjamins Stimmung ward feindlich. Die Eifersucht quält sein kleines Herz, das der stets frohen und gütigen älteren Schwester in Zärtlichkeit zugetan ist. »Er hat einen blonden Bart – den haben viele. Ich auch, wenn ich groß bin. Er hat Schmisse im Gesicht, weil er studiert hat. Hätt' er besser gefochten, hätt' er keine.«

»Na, sieh mal, Ben, er hat zum Beispiel den Krieg mitgemacht –«

»Das hat Herr Lützelmann auch.«

Herr Lützelmann ist der hilfreiche Mann, der alle vierzehn Tage meinem Vater die Hühneraugen schneidet. Er hat, als Kind, die Blattern gehabt, was man ihm noch ansieht, und trägt den Kopf tief in den runden Schultern, wie eine mißtrauische Schildkröte. Ein Sprachfehler macht seine an sich lebhafte Unterhaltung nicht angenehmer. Die Wahl zwischen Herrn Lützelmann und unserem Schwager Kurt wäre also auch bei anderen jungen Damen kaum zweifelhaft gewesen.

»Kurt ist ein gescheiter Mann, ist weit gereist. Bis Afrika –«

»Er hätt' aus Afrika nicht wiederzukommen brauchen!« trotzt Benjamin.

»– ist der Freund eines Fürsten.«

»Ach – dem sein' Fürst sein Land ist so klein, daß es auf meinem Atlas gar nicht mal draufsteht!«

»Er hat viel gelesen und gelernt.«

»Das kann er ihr alles hier erzählen.«

»Ja, Ben, aber er möcht' die Mathilde gern für sich allein haben.«

»Das ist eben die Gemeinheit –«

»Ben!«

»Jawohl, eine Gemeinheit!«

Und jetzt geschieht etwas Sonderbares. Benjamin, der seine Bleisoldaten liebt, wie Julius Cäsar die zehnte Legion, wie Friedrich Wilhelm I. seine Riesengarde kaum geliebt haben kann, fegt wütend mit dem Kinderarm über Infanterie und Husaren hin, daß sie reihenweise umfliegen; zerstört sein kunstvolles Festungswerk so gründlich, daß Ostermanns lateinisches Übungsbuch mitsamt den Panzertürmen vom Tisch fliegt.

»Ben – aber Ben!«

Das hübsche ehrliche Bubengesicht zuckt im Kampf gegen die Tränen; aber der Wille ist zu schwach noch, zu undiszipliniert. Die dicken Tropfen laufen ihm glitzernd über die Backen. Ein fassungsloses Schluchzen schüttelt seine Brust und würgt seinen schmalen Hals.

»Sie soll – soll bei uns – bleiben!«

Und jetzt liegt der kleine Kerl zwischen meinen Knien, niedergeworfen von Schmerz und Scham, und weint in meine Hände, die sein heißes Köpfchen aufrichten wollen.

Und ich weiß und fühl's, das ist das erste große, wirkliche Leid, das den kleinen verwöhnten Liebling der Familie, das Nesthäkchen, im Innersten aufrüttelt.

. . . Und siehe, da ist es Ben, der mich von Ben erlöst.

Eben hab' ich noch mit einem seltsamen wehen Gefühl der Szene gestern im Ställchen gedacht, hab' noch das unstillbare Schluchzen des Jungen, das mir die eigene Wehmut um den nahen Verlust weckte, im Ohr gehabt, da hör' ich – von da vorn, vom geschmückten Katheder – eine wohlbekannte, helle schmetternde Stimme:

»Die Löwenbraut. Von Adalbert von Chamisso.«

Der Schüler der Sexta, heute nach Quinta aufgerückt, Benjamin Mewes, zwar bloß Fünfzehnter in der Klasse, aber im »Deutschen« der Beste, darf »nach eigener Wahl« ein Gedicht aufsagen. Und der Schlingel hat, das war sein wohlbehütetes Geheimnis, die »Löwenbraut« gewählt. Eine seltsame Huldigung an die treulose Schwester. Ein Trotz und Trost in der Allegorie.

»Mit der Myrte geschmückt und dem Brautgeschmeid,
Des Wärters Tochter, die rosige Maid,
Tritt ein in den Zwinger des Löwen; er liegt
Der Herrin zu Füßen, vor der er sich schmiegt.«

Ich sehe zu den Eltern hinüber. Der Vater sitzt vornübergeneigt und schmunzelt in seinen starken angegrauten Schnurrbart. Die Mutter lächelt stolz-bescheiden. Ihr Junge sagt Chamisso auf! Tante Leonis schließt die Augen und bewegt die Lippen. Sie kennt hundert Gedichte auswendig und mehr, auch die »Löwenbraut«, und spricht jetzt, seelisch gesammelt, halblaut jedes Wort mit.

»O wär' ich das Kind noch und bliebe bei dir,
Mein starkes, getreues, mein redliches Tier –«

Benjamins Blick sucht Mathilde. Die hat verstohlen ihre Hand in die Rechte Kurts gelegt. Beide sind sehr beglückt, daß man so eng sitzt; daß so viele Menschen da find, und daß keiner sich um sie kümmert. Das starke, getreue und redliche Tier geniert sie weiter nicht.

Benjamins Kinderstimme zürnt und droht:

»Es fiel ihm ein, daß schön ich sei,
Ich wurde gefreiet, es ist nun vorbei –«

»Warum schreit er so?« sagt hinter mir der Seligmann. Und leise zu mir: »Ist in Eurer Familie jemand taub?«

Auch das Lehrerkollegium ist aufmerksam geworden auf den ungeheuren Stimmaufwand, mit dem Benjamin das Zwiegespräch zwischen der bräutlichen Wärtertochter und dem angeblich redlichen, aber immerhin gefährlichen Tier zu schildern unternimmt. Professor Kunkel schüttelt mißbilligend den Kopf. Professor Wendelin sucht durch diskret beschwichtigende Handbewegung den Rezitator pantomimisch zu milderer Tonart zu bestimmen. Oberlehrer Münzer am Flügel gibt Lebenszeichen und scheint erstaunt, daß da vorn plötzlich von einem Löwen die Rede ist. Als er einschlief, tanzten die alten Griechen um den Altar des Zeus.

»Und draußen erhebt sich verworren Geschrei,
Der Jüngling ruft: »Bringt Waffen herbei;
Ich schieß' ihn nieder, ich treff' ihn gut!«

»Dein Bruder will wohl aufs Theater?« sagt hinter mir der Seligmann. »Er soll Stunden nehmen beim Erwin Schuster.«

»Der Erwin Schuster wird überschätzt,« flüstert unser Primus Geyer, der gewohnheitsmäßig alles überschätzt findet.

Während die beiden hinter mir das Zanken kriegen, der Seligmann und der Geyer, über den Wert der Schusterschen Menschendarstellung im Frankfurter Schauspielhaus, erledigt Benjamin da vorn erst die geschmückte Braut, dann durch tödlichen Schuß des Bräutigams auch den Löwen.

Aber es ist ersichtlich, seine volle Sympathie ist bei der toten Bestie. Für den Bräutigam hat er nichts übrig.


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