Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Fünftes Kapitel

Ein wenig hat sich diese ablehnende Stellung dem Schwager gegenüber schon drei Tage später bei der Hochzeitsfeier geändert.

Der Pfarrer Knospe, der als junger Geistlicher schon die Eltern getraut hatte, hielt – woraus eine freundschaftliche Unterredung mit meinem Vater auf der Progressionsfeier im Römer vielleicht nicht ohne Einfluß war – eine zwar sehr lange, aber auch recht warmherzige Rede, in der vom lieben Gott nicht allzuviel und von dem Apostel Paulus, der sonst alle seine Predigten beherrschte, gar nicht die Rede war. Dagegen empfahl er uns allen, uns »untereinander zu lieben«, wobei er sich auf die Autorität des Apostels Johannes berief, der sich im hohen Alter noch in die Gemeinde tragen ließ und ermahnte: »Kindlein, liebet euch untereinander.«

Und wie wir das machen sollten, das führte der Pfarrer Knospe nun für jedes einzelne Familienglied sinnreich durch, immer hinzufügend, daß es in diesem Falle eigentlich ganz überflüssig sei, daß er's aber doch tun wolle. Und jedem einzelnen legte er zuletzt ans Herz, auch das neue Familienglied, den heute hier begrüßten Sohn, Schwager und Neffen recht von Herzen zu lieben. Und in diesem Sinne apostrophierte er auch, als letzten, meinen Bruder Benjamin.

Der saß, durchdrungen von der Wichtigkeit seiner persönlichen Anwesenheit bei dieser heiligen Handlung, sehr ernst und mit großen Augen zwischen der Mutter und mir. Aus dem gemalten Fenster fiel ein bunter Schein auf sein andächtig gesenktes Köpfchen. Es kam ihm vor, der liebe Gott und der Pfarrer Knospe wüßten von der unschönen Art, mit der er leider neulich, dem Schwager zürnend, seine geliebten Bleisoldaten mit dem Arm vom Tisch gefegt; wüßten, warum er nicht den Rat seines Freundes Fips Tomasius befolgend auf der Progressionsfeier die »Kraniche des Ibikus« aufgesagt, sondern statt dieser harmlosen Vögel den anzüglichen Löwen Chamissos gewählt, der einem Bräutigam knapp vor der Hochzeit so üblen Streich spielt. Und als nun, was schon niemand mehr zu hoffen wagte, der Pfarrer Knospe sich doch noch entschlossen hatte, »Amen« zu sagen, und das knieende junge Paar die Ringe getauscht hatte und der Gesang der Gemeinde einsetzte, da nahm sich Benjamin vor, den Schwager von ganzem Herzen zu lieben, wie das der Evangelist Johannes und der Pfarrer Knospe eindringlich empfohlen hatten. Er wollte dem Entführer seiner Schwester alle Woche einen Brief schreiben und ihn niemals merken lassen, daß er, Ben, das zudringliche Finden und Nachtragen vergessener Bücher in deutschen Bädern in Anbetracht der das Familienleben erschütternden Folgen nach wie vor mißbilligte.

Und Ben zog die Hand meiner Mutter zu sich herüber, die Hand, die das Frankfurtsche Kirchengesangbuch hielt, das »mit obrigkeitlichem Privilegio« im Jahre 1764 »aufs fleißigste ausgefertigt«, die Namen von Mutter, Großmutter und Urgroßmutter untereinander in zierlichen Schnörkeln auf dem vergilbten ersten Blatt trug. Und die Mutter, der schon Silberfäden die an den Schläfen tiefgestrichenen Haare durchzogen, und ihr Jüngster, dem lichtblond, wie Gold, der junge Scheitel glänzte, sangen, die Köpfe dicht beisammen, aus dem ererbten Gesangbuch, das durch viel liebe, längst ausruhende Hände gegangen war, andächtig, gläubig, hoffend, froh und ungestört von der furchtbaren Orthographie, das schöne alte Lied:

Wo Gott nicht selber baut das hauß,
So richtet keine müh was aus;
Wo Gott die stadt nicht selbst bewacht,
So schützt sie keine stärck noch macht.

Im Kirchenstübchen, wo dann die Gratulation der nächsten Freunde stattfand, und der Küster auf sein Trinkgeld wartete, wurde viel Salbungsvolles geredet. Das war so Sitte bei Frankfurter Trauungen. Auch küßte man sich ausgiebig; und es war nicht immer dazu nötig, daß man sich näher kannte oder den Wunsch hatte, die Beziehungen über diesen Kuß hinaus fortzusetzen.

Tante Tüßchen, die bei solchen Gelegenheiten sehr bewegt war von dem trüben Gedanken, es könne das letzte Familienfest sein, dem sie beiwohne, bat schluchzend den Major Ottokar von Wüllich, Kurts Onkel, den sie bei dieser Gelegenheit zum erstenmal sah, sie in gutem Andenken zu behalten. Tante Emma vergaß völlig, daß ihr der Senator Buck schon beim feierlichen Austritt in die Kirche den Saum der Schleppe abgetreten hatte. Der Landgerichtsrat Tomasius aber, der Tante Hermine für die Mutter des Bräutigams hielt, machte ihr herzliche Komplimente über die vortreffliche, männlich aufrechte Haltung des Sohnes während der langen Zeremonie. Da der Rat vom Fluß seiner wohlgesetzten Worte beglückt schien, ließ sie ihn bei seinem Glauben und sah beunruhigt dem Beginnen des Geheimrats zu, der in die leere Kirche zurückstrebte, einen portugiesischen Orden zu suchen, den er im Gedränge von der reichgeschmückten Brust verloren hatte.

Der zehnjährige Benjamin aber glitt von einem Arm in den andern. Alle schienen ihn trösten zu wollen, daß er die Schwester heute hergeben mußte, die nicht nur Latein mit ihm gelernt, die bald Schach, bald Federball mit ihm gespielt, nein, die auch die nie versagende Zuflucht all seiner kindlichen Fragen und Nöte gewesen war.

Endlich gelang's ihm, nachdem er sich durch die engere und weitere Familie tapfer durchgeküßt, bis zum Brautpaar vorzudringen, vor dem der Kirchendiener, den künftigen Lebensweg mit seinen bewegten Wünschen pflasternd, schon die Türe aufriß.

Draußen stand der Wagen mit den silberbeschlagenen Laternen. Die Schimmel, die ihr Lenker trotz ihres ehrwürdigen Alters beim Austritt des Brautpaares noch zum »Tänzeln« bewegte, zuckten in den Hinterbeinen. Und der verwitterte Kutscher, der schon so viele Paare ins ungewisse Glück oder Unglück gefahren, führte den weißen Riesenhandschuh an die breite Silberborte des Zylinders und lächelte seinen Glückwunsch.

»Laßt Ben mit uns fahren!« Mathilde, ein Tränchen noch im lächelnden Auge, vom Glück der Stunde rosig überhaucht, vom myrtenbesteckten Schleier weiß umwallt, zog den Bruder dicht an sich.

»Wenn du willst, Thilde, gewiß.«

Kurt half dem Jungen selbst in den Wagen, der allerdings als Zweisitzer gedacht war und nur ein ganz kleines Bänkchen zu Füßen des jungen Paares Ben als Sitzplatz bot. Und die Schimmel zogen an.

Die Frankfurter Bürger, die um die zwölfte Stunde an jenem Tage um die Hauptwache lustwandelten, die auf der Bockenheimer Gasse beim Kaufmann Obert die Fischkörbe oder bei der Frau Einbiegler die Spielsachen bestaunten, oder die just auf der Promenade dem Goldfischteich zustrebten, genossen das ungewöhnliche Schauspiel, eine Brautkutsche, in der ein zehnjähriger Junge mitfuhr, vorüberrollen zu sehen.

Am »Prinzen von Arkadien« stand der Dichter Honnefs, der nie in eine Kirche, aber täglich hier zum Frühschoppen ging, und schwenkte huldigend den Hut. Und als der Wagen am fensterreichen Wohnhaus der Jungeschen Gaskronenfabrik, das altertümlich und behaglich die Einfahrt zur stillen Guilloletstraße bewachte, um die Ecke bog, da sah der Fips Tomasius, der neugierig auf die heimkehrenden Wagen wartete, wie die Braut in einer Wolke von Weiß aus ihrem Kranze ein blühendes Myrtenzweiglein brach und es dem Bruder Benjamin an die Brust ins Knopfloch steckte.

Dies Myrtenzweiglein hat Ben den ganzen Festtag, wie einen hohen Orden, getragen.

Selbst beim Festschmaus fiel sein stolz besorgter Blick von Zeit zu Zeit immer wieder auf diesen Schmuck. Er saß ganz unten an der Tafel, als »Tischdamen« seine kleinen Freundinnen Ruth, die Tochter des Kommerzienrats Baddach, und Elsbeth Tomasius, links und rechts neben sich. Und als die schon vom ersten Schlückchen des ungewohnten Weins angeregte kleine Ruth in holder Neckerei ihm das Zweiglein mit flinkem Griff aus dem Knopfloch ziehen wollte, klappste der erzürnte Ben sie so derb auf die kecken Finger, daß die in seiner Nähe gerade zum drittenmal Himbeereis nehmende Margarete Morgenthau mißbilligend äußerte: »Aber, Benchen! So was tut man doch nicht.«

Da es aber, wie Ben aus Erfahrung wußte, vieles gab, das man nach Ansicht der Frau Margarete Morgenthau »nicht tat« und das leider dennoch allerwärts geschah und geübt wurde, so nahm er sich diese friedliche Zurechtweisung nicht weiter zu Herzen. Und auch Ruth Baddach lachte bald wieder, wie Kinder lachen, die auf dem rätselvollen Fest einer Hochzeit eine geräumige Schüssel Himbeereis mit Waffeln langsam aber sicher sich nähern sehen.

Diese Hochzeitstafel, die lang, wie lang abgedeckt ist, könnt' ich heute noch malen. Und ich sehe jeden Teilnehmer am Festschmaus noch in seiner Art und seinem Alter von damals an dem langen Tisch sitzen und höre aus dem fröhlich anschwellenden Stimmengewirr noch jedes einzelnen Ton und Rede.

Am schmalen Kopf des langen blumengeschmückten Tisches saß das Brautpaar.

Mathilde war nie eigentlich schön, aber anmutig heute, wie immer, und reizend durch die munteren, sprechenden Augen unter der hohen Stirn, auf der, fast zu reich, das kastanienbraune Haar, vom Scheitel gebändigt, in weichen Wellen nach den Schläfen floß. Sie saß in kerzengerader Schlankheit, jedem Zutrunk mit glücklichem Lächeln dankend, neben dem stolz strahlenden Kurt. Das Ritterliche seiner aristokratischen Erscheinung wurde noch betont durch das dunkle Eiserne Kreuz, das sich mit dem hellen Myrtenzweiglein ins Knopfloch teilte, und durch die zwei langen schmalen Durchzieher, die den kurzgeschnittenen blonden Bart des »Alten Herrn« der Heidelberger Westfalen vom Ohr zum Kinn in dünnen Furchen scheitelten. Es hieß, der junge Erbprinz von Baldeneck sei sein Freund. Seinem Entschluß habe er's zu danken, daß er, als Oberschloßhauptmann, gesetzt sei über die schönen Besitzungen des regierenden Fürsten, der als alter müder Mann schlafarme Nächte bei seinen Büchern, Münzen und Gemmen verbrachte.

Alle in der Familie hatten rasch Kurts natürliche, verbindliche Art, die den Damen gegenüber einen kleinen Stich ins Altmodische hatte, herzlich liebgewonnen. Sogar Tante Tüßchen, die gern die Altfrankfurterin herausbiß, deren Elternhaus auf der Zeil, den Mumms und Rothschilds gegenüber stand. Sie nannte immer noch den Kaiser bloß »König von Preußen« und behandelte Preußen, als beginne dieses unwirtliche, menschenleere Land fünfhundert Kilometer nördlich vom gut bevölkerten, vorbildlich gepflegten Frankfurter Palmengarten, an dem sie wohnte. Neuerdings aber bezwang sie ihre demokratischen Instinkte so weit, daß sie zugab, man könne Oberschloßhauptmann, beinahe Kammerherr und Freund eines Erbprinzen und doch ein ganz netter Mensch sein.

In diesem versöhnlichen Sinne äußerte sie sich auch dem Major Ottokar von Wüllich gegenüber, der meine Mutter zu Tisch führte und an dessen anderer Seite die Tante in malvenfarbener Seide saß. Es erbitterte sie nur, daß Mathilde in der kleinen fürstlichen Hauptstadt die sogenannten Hofknickse lernen und üben müsse. Solches fand sie – ganz abgesehen von der Schwierigkeit dieser überflüssigen Zeremonien, die man in Frankfurter Tanz- und Anstandsstunden gottlob nicht lernte – einer geborenen Frankfurterin und ihrer Nichte unwürdig.

Darüber beruhigte sie nun wieder der Geheimrat Ammann, der einen eigentlich zum »glasweise Servieren« bestimmten alten Rauenthaler hatte vor sich hinstellen lassen und nun mit befriedeter Seele der weiteren Entwicklung des Festes, seinen Schüsseln und Reden entgegensah. Im Schmuck seiner sämtlichen Orden – auch der portugiesische hatte sich unter einem Stuhl in der Kirche wiedergefunden – belehrte der Onkel die Widerstrebende, unter kurzen Hinweisen auf die bewährte Kraft der monarchischen Staatsform, über den Sinn, Zweck und Nutzen gewisser höfischer Sitten, in denen er die feinste Zuspitzung notwendiger Äußerlichkeiten unserer Kultur erblickte.

Tante Tüßchen hinwiederum glaubte gehört zu haben, daß nach dem Vorbilde Preußens die deutschen Höfe bei jeder unpassenden Gelegenheit den schrecklichen »Fackeltanz« tanzen ließen. Diese choreographische Unternehmung aber stellte sie sich, nach ihren eigenen Worten, als »ein Gespring' und Gehopse« von dünnbeinigen, kahlköpfigen Ministern vor, die mit geschwungenen Pechfackeln höchst bizarre und feuergefährliche Übungen veranstalteten. Die Einwendung des Onkels Geheimrat, daß er in seinen siebenundzwanzig Jahren Hofdienst solche wunderliche Tanzerei nie gesehen oder gar mitgemacht, parierte sie mit der schmeichelhaften Wendung, daß sie ihn persönlich immer für einen leidlich vernünftigen Mann gehalten habe, und daß es eben gottlob in jedem Lande und Ländchen revolutionäre Geister gäbe, die sich nicht von der Willkür kleiner Potentaten durch brennende Pechreifen hetzen ließen.

Das Gespräch des benachbarten Paares war weit weniger politisch. Es erhob sich in schönen und beschwingten Wendungen durchaus über die Zeitlichkeit. Tante Leonie, damals schon durch übertriebenes Klavierspiel in den Nerven erschüttert, besprach, einen seltsamen visionären Glanz in den immer noch schönen Augen, mit dem Dichter Otto Honneff das nie ganz erklärte Wunder der poetischen Inspiration.

Honneff war ein Jugendfreund unseres Vaters. Nach seiner Angabe war er mal ein sehr schönes Kind gewesen. Das sah man jetzt dem Manne, dem der krebsrote Kopf, von schütterem Blondbart umflattert, auf dürrem Halse saß, wirklich nicht mehr an. Er hatte sich einst, von den hochgehenden Wogen des Jahres Achtundvierzig in die winklige Redaktion eines oppositionellen Witzblattes geworfen, durch heftige Streitgedichte eine längere Festungshaft zugezogen. Diese benutzte er dazu, sich im geliebten Schachspiel zu vervollkommnen und den zur Verfügung des Gefangenen gestellten Keller eines begeisterten Verehrers seiner Satiren gründlichst auszutrinken. Als er, ein ansehnliches Bäuchlein vor sich her tragend, die Festung verließ, konnte er drei Partien Schach blind spielen, dazu drei Flaschen Rheinwein vertragen, hatte seinen wütenden Haß gegen die Tyrannen verloren, eine rote Nase gewonnen, um seine Person den Nimbus des politischen Märtyrers gewoben und für seine Lieder den Ton einer Resignation gefunden, die eben nur »in Ketten«, die er freilich nie getragen, erworben wird. Seine, wirkliche Kenntnis der Getränke spiegelnden Weinlieder und der Ruf seines vortrefflichen Schachspiels hatten ihn in den kleinen Freundeskreis des Multimillionärs von Schwarzschild geführt, eines unverehelichten Bankiers und Sybariten, der ihm durch sein Welthaus das kleine Vermögen so klug und nutzbringend verwalten ließ, daß Honnefs einer der Wenigen wurde, der, seit Horaz, durch seine Sabinergütchen wandelnd, die junge Leukonöe und alten Falerner besang, von der Lyrik leben konnte. Er wohnte behaglich, kleidete sich mit Sorgfalt, aß gut und trank noch besser, frühstückte im »Prinzen von Arkadien«, machte sein Mittagsschläfchen im »Bürgerverein« über einem erfreulichen Buch und verbrachte die Abende, an denen er nicht mit dem Multimillionär Schach spielte oder des Freundes Keller »ordnete« und »katalogisierte«, auf einem Ecksitz in der dritten Reihe des Schauspielhauses.

Auf diese Weise hatte der Dichter Otto Honneff des Kollegen Lessing in Frankfurt besonders hoch bewertetes Schauspiel von »Nathan dem Weisen« einundvierzigmal und Laubes »Karlschüler« achtundzwanzigmal gesehen; er hätte die »Braut von Messina« so gut wie Kotzebues »Schneider Fips« ohne Buch soufflieren können. Sein weinroter Charakterkopf gehörte für das Auge des Frankfurter Logenbesuchers durchaus zum Bild des Parketts; nicht weniger, als die alte Dame mit der immer noch schwarzen Biedermeierfrisur, die sie die Marthe Schwertlein nannten, und die eine schöne, aber zähe Verehrung keinen Abend versäumen ließ, an dem Erwin Schuster in Frack oder spanischem Mantel in edler Pose auf der Bühne stand; oder als der reich gewordene Gemüsehändler, den der Volkswitz mit dem Titel »Lord Blumenkohl« ehrte, und der stets im Schmuck englischer Anzüge, die dicken Finger mit vielen Brillanten verziert, auf seinem Stammsitz unter der Proszeniumsloge der Vorstellung solange beiwohnte, bis ihn alle im Hause gesehen hatten.

Otto Honneff liebte, das war ein offenes Geheimnis, für dessen Popularisierung das zweite und letzte seiner Liederbücher in sangbaren Rhythmen gesorgt, die gute Tante Leonie. Liebte sie mit jener an Poeten öfter beobachteten Genügsamkeit, die nicht mit stürmischer Energie den ausschließlichen Besitz der Geliebten erstrebt, sondern mehr darauf bedacht ist, die einsichtig erkannte Unerreichbarkeit der Wünsche lyrisch zu verwerten. Er hatte bis jetzt dreimal um sie angehalten. Aber jedesmal unglücklicherweise zu einer nicht günstigen Zeit, da Tante Emmas Weg gerade kein Freier kreuzte. Somit waren jedesmal seine Chancen bei der Schwester gering. Und jedesmal skizzierte er, gewissermaßen als Bilanz der Unternehmung, auf die Rückseite der reichhaltigen Frühstückskarte im »Prinzen von Arkadien« ein tief melancholisches Lied der Resignation, das er im Lauf mehrerer Wochen – er übereilte sich nie bei der Arbeit – zu vier oder fünf Versen von rhythmischem Wohlklang und starker Bildhaftigkeit ausgestaltete. Diese Gedichte erschienen dann zunächst in der »Didaskalia«, später, mit Weinliedern und Taunusgesängen gesammelt, in seinem »Weltbrevier«. Und damit war für ihn die Angelegenheit bis zur nächsten Werbung durchaus erledigt.

Tante Leonie aber, die seit ihren frühesten Mädchentagen eine schwärmerische Liebe für die Dichtkunst nährte, schrieb diese Lieder, die der Dichter ihr handschriftlich geschenkt, noch einmal, ihre Schönheit nachkostend, in ihr Poesiealbum ab. Dort standen sie zwischen Gedichten von Byron, Hölderlin, Leuthold und Lenau, ihren Lieblingsdichtern, deren Lebenswerk ihr fabelhaftes Gedächtnis getreulich umschloß. Sie zeichnete eigenhändig, sehr hübsch und naturgetreu ein Vergißmeinnichtkränzlein um die wie gestochen geschriebenen Zeilen und trug auf die Schleife in ganz kleinen Zahlen das Datum des Tages ein, da sie dem Dichter und der Dichter ihr diese Verse geschenkt.

Vielleicht war es der leise, heimliche Wunsch meiner Mutter, als sie damals die Tischordnung entwarf, daß doch noch die späte Schwärmerin und der aller Eile abholde Lyriker sich fürs Leben finden möchten. Dann aber hätte ihre Umsicht nicht dem Paare gegenüber, neben die Tante Emma den Senator Buck setzen dürfen, der sehr viel aß, sehr wenig sprach und als Bewerber nicht in Betracht kam, da er seit dreiundzwanzig Jahren in einer von Stürmen freien Ehe mit Frau Ida lebte. Diese vortreffliche Dame saß schweigsam unten an der Tafel und ließ sich von dem Schauspieler Erwin Schuster von seinem erfolgreichen Zusammenspiel mit Bogumil Dawison und Friedrich Haase, die der Erzähler fein kopierte, anmutig unterhalten.

Währenddessen hatte mein Vater die Aufgabe, Frau Hildegard von Möckwitz, Mathildens Schwiegermutter, in Stimmung zu bringen. Das war zunächst nicht leicht. Denn sie war eine geborene Freiin von Erlenriede und strömte kilometerweis eine so vornehme Kälte aus, daß man als ihr Tischherr leicht – wie mein Vater sich ausdrückte – Eiszapfen in den Bart bekam.

Aber sein Beruf hatte meinen Vater gewöhnt, mit Frauen umzugehen. Er war Lehrer der Geschichte und Literatur an den angesehensten Mädcheninstituten der Stadt. Und wenn es somit auch beträchtlich jüngere Semester waren, die ihn täglich umgaben, so nahm er doch aus diesen Unterrichtsstunden, in denen die weibliche Jugend an seinen Lippen hing, um jetzt über den alten Fritz, jetzt über den jungen Goethe das Wissenswerte zu erfahren, eine ruhige, liebenswürdige Sicherheit im Verkehr auch mit den älteren Jahrgängen des Geschlechts ins tägliche Leben mit hinaus. Ein bis zu seinem Tode schöner, stattlicher Mann, dessen dunkle Stimme in sicherem Vortrag der zarten Träumerei Eichendorffscher Mondscheinlyrik wie der Wucht der Bürgerschen »Leonore« gewachsen war, und dessen Unterrichtsgebiet alles umfaßte, was zarte Seelen beben macht und emporreißt, mußte viel junge Herzen aus dem pflanzenhaften Schlaf wecken. Daß er's tat und konnte, hat er nie, eitel, als Macht seiner Persönlichkeit empfunden.

Heute in der Erinnerung weiß ich und versteh' ich's, was mir als Heranwachsendem im Alltag unseres Hauses gar nicht so zum Bewußtsein kam: unser Vater ist angeschwärmt worden, wie wenig Männer. Er nahm das mit der freundlich ruhigen Gelassenheit hin, mit der man das Selbstverständliche, wie den Frühlingswind und den Maienregen, durchs Haar und über die Haut gehen läßt. Von den frühesten Lenztagen bis tief in den Spätherbst kam er nie ohne Blumen aus dem Unterricht. Ein paar Veilchen, eine Rose, ein Bündel dunkler Astern lagen immer auf seinem Katheder. Ohne zu fragen von wem, griff er solch Sträußchen gelegentlich einmal, während er vortrug, und führte es lächelnd an die Nase. Das war sein Dank; und der beglückten kleinen Spenderin, die klopfenden Herzens ihr Köpfchen tiefer aufs Buch beugte, war's genug. Er hat nie eine Schülerin bevorzugt, nie ein erblühendes kleines Weib mit anderem Auge angesehen, als mit dem des Gärtners, der junge Stämmchen zu hüten und sorglich anzubinden hat. Das Allzumännliche sprach nicht in diesem gütigen und starken Pflichtmenschen: aber das Menschliche in ihm gehörte, Liebe und Begeisterung weckend für die starke Tat und das schöne Wort, der Jugend, die leuchtenden Auges zu seinen Füßen saß.

Viel, viel später, als ihn längst die Erde deckte und auf dem Säulenstein auf seinem Grab das Wetter ein wenig die Goldbuchstaben verwaschen hatte, hab' ich's oft erfahren, daß beim Nennen meines Namens in gelangweilten Gesichtern gesellschaftlich höflicher, reifer Frauen ein seltsamer Glanz aufzuckte: »Sind Sie etwa ein Sohn von Hubert Mewes?« – »Ja, gnädige Frau.« – »Das war mein Lehrer.« Und immer lag dann eine gepflegte Frauenhand fest und freundlich in der meinen, und ich hörte, wie aus einem fernen Chor von vielen, vielen, die ich nicht sah: »Wir haben ihn alle, alle sehr verehrt . . .« Ein herrliches Gefühl und ein wehmütiges zugleich für den Sohn, der seinen korrekt bescheidenen Weg geht, Mündelgelder verwaltet, Beleidiger verklagt, Ehescheidungen einleitet, Testamente anficht und am Schreibtisch wie in der schwarzen Robe nur seine nüchterne Pflicht als einer unter tausend Anwälten tut.

Freilich Benjamin, mein Bruder Benjamin . . .

Vielleicht liegt der Schlüssel zu vielem, was sein Leichtsinn gelebt und vergessen, im Beruf, in der Lebensarbeit unseres Vaters. Vielleicht haben alle die Möglichkeiten, die das helle Auge des Vaters gewiß sah und die sein Pflichtgefühl kampflos beiseite legte, im Sohn zur Gestaltung, zum Erlebnis gedrängt . . . Vielleicht sind die Kinder auch insofern nur die leibliche äußerliche Fortsetzung der Eltern, als sie bestimmt sind, das Versäumte früherer Generationen, sich selber unbewußt, nachzuholen; auf daß sich in einem Geschlecht alles erschöpfe, was die Natur an Möglichkeiten vorsieht; daß sich der Sohn freiwillig binde, wo der Vater sich schweifend regte, und auch wieder, daß sich der Sohn, befreit, aus dem Zwang löse, durch den der Vater gebunden war.

Damals wußt' ich nicht, was ich heute weiß; dachte mit meinen zwanzig Jahren nicht, was ich heute denke. Ahnte nicht, wieviel Freude und Schmerz uns Benjamin noch bringen sollte; und am wenigsten, daß ich einmal – zwischen Konferenzen und Terminen – mir zur Erinnerung und dem oder jenem vielleicht zu menschlichem Miterleben – dies Buch schreiben würde, das seinen fröhlichen Namen trägt . . .

Ich glaube nicht, daß gerade die Unterschiede zwischen dem Johannisevangelium und den Synoptikern Tante Hermine besonders interessierten, aber der gute Pfarrer Knospe, als ihr Tischherr, hatte, nachdem er sich der leicht humoristisch getönten Rede auf das Brautpaar umständlich entledigt, dieses ergiebige Thema gefunden. Und das hatte er nun mal so in der Übung von seinen Predigten: er kam mit einem Thema für die Dauer eines Mittagessens aus.

Auch die Ansichten über Kindererziehung nach dem Vorbild Basedows und Pestalozzis, die der Landgerichtsrat Tomasius, seine Tischnachbarin scharf und unnachsichtig auf ihre Aufmerksamkeit über die Brille prüfend, zwischen Salm und Pute zum besten gab, vermochten Frau Margarete Morgenthau nicht sehr zu fesseln, da in ihrem kinderlosen Zustand ohne ein Naturwunder, wie es der liebe Gott an Abrahams Sarah vollzog, keine Änderung mehr zu erwarten war. Auch kannte sie Basedow nur von einer Krankheit her, die ihr nach diesem vortrefflichen Mann benannt schien. Sie benützte deshalb die erste Redepause, als der Rat ein Stück Blei im Rehrücken gefunden hatte, das sich nicht kauen ließ, um dieses mißliebige Thema mit flinker und überraschender Wendung zu wechseln. Und sie erzählte nun ihrerseits dem wehrlosen Rat, wie sie den lieben Benjamin, der sich gerade durchaus ausreichend mit Kirschkompott versah, zuallererst in seinem eben entfachten Leben gesehen habe. Und sie deutete an, daß der interessante Fall damals ganz ähnlich lag, wie in der schweren Stunde der Madame Lätitia Bonaparte, die den kleinen Napoleon auf einem Fußteppich liegend fand, der in symbolischer Ahnung die Weltkugel als gewirktes Muster aufwies. Und wenn Margarete Morgenthau davon absah, daß ihr Erlebnis sich nicht in Ajaccio auf Korsika, sondern in Frankfurt am Main in der Nähe der Promenade zugetragen, und daß der kleine Teppich in meiner Mutter Schlafzimmer nicht die Weltkugel, sondern ein buntes Blumenarrangement als Muster zeigte, so hatte sich alles dem Beispiel der Geburt des Welteroberers sehr ähnlich begeben.

Margarete Morgenthau gab zu verstehen, daß ohne ihr hilfreiches Dazukommen vielleicht der liebe Benjamin jetzt nicht da unten mit Ruth Baddach so fröhlich kichernde Zwiesprache hielte, und daß sie das Blumenbukett, in das der liebe Junge so gewissermaßen hineingeboren war, nach ihren Erfahrungen mit Ahnungen und Symbolen, für eine höchst erfreuliche Vorbedeutung halten müsse.

Diese keineswegs kurze Geschichte, die ich, als der andere Tischnachbar der gewissenhaften Erzählerin, mitgenoß, konnte den Rat nicht mehr in voller Frische ergötzen, da er sie – bei der konservativen Art meiner Mutter, Tischordnungen zu entwerfen – schon auf Mathildens Konfirmationsfeier und auf der meinen mit ganz denselben Details und prophetischen Folgerungen gehört hatte. Er beteiligte sich denn auch bald über den Tisch hinüber an der lebhaften Unterhaltung, in die der Weingroßhändler Gustav Sebastian Schupp seine, Tomasius', Gattin Malwine listig verstrickt hatte und die von der Vorzüglichkeit der von »Schupp Söhne« vertriebenen Rhein- und Moselweine und der erstaunlichen Billigkeit der Preisliste des Hauses Schupp Söhne handelte. Da Malwine Tomasius mit dem harmlos jugendlichen Gesicht unter schneeweißen Haaren zwar noch eine reizende Frau war – ich sag's wirklich nicht nur deshalb, weil ich die Tochter später heiratete und von ihr im Alter ein gleiches Aussehen erhoffe –, aber die Leidenschaft hatte, alles Erreichbare »billig zu kaufen«, was im Laufe der Zeit recht sehr ins Geld lief, so beeilte sich der Rat von dem Teppich von Ajaccio loszukommen und auf die Unterhaltung gegenüber prophylaktischen Einfluß zu gewinnen. Er stellte wehmütig die räumliche Beschränktheit seines Kellers fest und beklagte, daß dieser bescheidene Raum ganz mit preiswertem Moselwein gefüllt sei. Hierbei wurde seine Tochter Käthe, meine zierliche Tischdame, sehr rot. Eine nicht ungefährliche Eigentümlichkeit, die heute noch an ihr zu beobachten ist, wenn andere Leute in ihrer Gegenwart heftig lügen.


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