Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Fünfunddreißigstes Kapitel

Am Bockenheimer Tor verabschiedeten sich Frau Anna Hayeck, geborene Zimmermann, Fips und Willibald von uns. Willibald schien schon im Stehen zu schlafen. Auch Fips war wortkarg.

Frau Anna Hayeck hatte im wesentlichen allein das Wort geführt. Sie war der Ansicht, daß die Literarische Gesellschaft, deren Gründung Ben hoch anzurechnen sei, wenn er auch vielleicht nicht der Geeignete erscheine, dauernd den Vorsitz zu führen, dem Freien Deutschen Hochstift Konkurrenz machen müsse. Es wäre zu erwägen, ob nicht begüterte Mitglieder der Literarischen Gesellschaft – ein ermunternder Blick streifte Ruth Baddach und Ben – die Gerbermühle und den Wasserhof, der im »Faust« vorkomme, ankaufen und zu geweihten Goethestätten und Nationalmuseen ausbauen könnten. Sie persönlich sei bereit, testamentarisch den leider schlecht leserlichen Brief der Kornelie Schelhorn, die in ihrem Besitz befindliche Haube der Frau Rat sowie sehr wertvolle eigene Manuskripte diesem Museum zu vermachen. Was sichtlich andere altfrankfurter Familien zu ähnlichen wertvollen Schenkungen anregen werde. Auch versprach sie Ben eine alte Nummer des Journals zu schicken, aus der er ersehen könne, wie ihr Ahnherr, der Kammergerichtsprokurator Kornelius Lindheimer – in vorgerückter Stunde war er immer schon ihr »Ahnherr« – eine der heutigen nicht unähnliche peinliche Angelegenheit mit einem Rödelheimer Tierarzt gehabt habe. Nach der Art, wie Ben für dieses Versprechen dankte, war zu urteilen, daß er dieser Drucksache ohne tieferes Interesse entgegensah, und daß die Aussicht auf die späte Bekanntschaft mit dem toten Rödelheimer Tierarzt ihn nur wenig über die Grobheiten des lebenden Odendichters tröstete.

Fips meinte, es sei zu erwägen, ob man Konrad Körber nicht durch Vereinsbeschluß cum infamia exkludieren sollte; während Willibald von Gollwitz, für eine Minute sich ermunternd, das Verfahren der Peruaner lobte, die in solchen Fällen wortlos einen sechsläufigen Revolver zögen und alle verfügbaren Schüsse in der Richtung des mißliebigen Redners abfeuerten.

Wir gingen allein durch die Anlagen weiter, Ruth, Ben und ich.

Es war kühl und neblig. Die Straße lag still. Nur vor dem Junge'schen Hause saß Pitt, der nicht rassereine, aber gelehrige Hund meines Kollegen Ohlenschlager, und heulte. Ben, der Tiere nicht leiden sehen konnte, vergaß für einen Augenblick den ganzen Ärger und tröstete den klagenden Pitt. Der Hund legte seufzend das Köpfchen schief, wedelte und schwieg.

Vor dem Hause der Frau Nestle stand noch das Schimmelgespann. Die alte Dame war wohl aus dem Theater gekommen.

»Was war heute in der Oper?« fragte Ruth, bemüht, dem Gespräch und den Gedanken eine harmlose Wendung zu geben. Aber auch das mußte mißlingen.

»Tannhäuser,« antwortete Ben düster, »oder »Der Sängerkrieg auf der Wartburg«.«

Ich war in diesem Augenblick innerlich wütend auf das unpassende Repertoire der Oper. Hätte nicht heut abend der »Don Juan« sein können oder der »Rigoletto«? Gerade wollte ich irgend etwas Unmaßgebliches über Richard Wagner äußern, da nahm Ben das Wort. Er tat es ganz ruhig, aber mit einer bei ihm nicht häufigen glanzlosen Entschlossenheit.

»Ich ziehe weg von Frankfurt. Es hält mich ja nichts.«

»Die Mutter, Ben –! Sie hat sich so gefreut, daß du nun endlich . . .«

»Ich hab' mich auch gefreut. Aber schließlich – sie ist's ja nun gewöhnt, daß ich fort bin; und ich bin ja ein fleißiger Briefschreiber. Was sind denn auch heute Entfernungen! Man kann sich ja so leicht besuchen. Und – – nein, Frankfurt ist nichts für mich. Nicht mehr. Nach dieser Blamage . . . Wie gut, daß wir nicht auch noch die Zeitungen eingeladen hatten, wie ich's erst vorhatte! Aber was nützt's? Das spricht sich herum. In irgendeinem Wochenblättchen werden wir's doch lesen.«

»Schade!« – Ruth Baddach sagte das. Und sie ging langsamer, während sie sprach, als wollte sie den nicht mehr weiten Weg zu ihrer Wohnung etwas verlängern. »Ich hatte mich ehrlich gefreut, Ben, daß du endlich kamst. Und – wo willst du denn nun hingehen? Nach – Heidelberg?«

Ich hörte den leise tastenden Versuch heraus.

»Nein.« Wie eine Abwehr klang dieses kurze, harte Nein. Und nach einer Weile fügte Ben milder hinzu: »Heidelberg war herrlich – zum Studium. Jetzt hab' ich doch Pflichten. Wenn einer, wie ich, in jungen Jahren so gestellt ist, daß er unabhängig wirken kann, so muß er ins Große wirken, muß etwas wagen, muß – –«

»Also – Berlin?«

»Ja. Ich bin entschlossen. Die Möglichkeiten dort sind ungeheuer. Alles, was vorwärts will, strömt dort zusammen. Das Theater, der Buchhandel, die bildende Kunst – alles sucht das Zentrum an der Spree, den Markt, die Anregung.«

Während er noch sprach – er sagte wohl etwas mehr, als dies, über Berlin, und was er davon erwartete – hatte ich das ganz deutliche, das ganz bestimmte Gefühl: jetzt geschieht gleich etwas sehr Sonderbares. Diese meine untrügliche Ahnung erwuchs nicht aus seinen Worten; denn es ist wahrhaftig Ungewöhnlicheres über Berlin gesagt worden, als daß es ein Zentrum, ein Markt und eine Anregung sei. Es lag auch nicht in dem, was wir in der »Literarischen« erlebt hatten. Es lag einfach hier in der Luft. In der Luft dieser nächtlich stillen Straße des Westens, der aus den Gärten der Herbstwind den kräftigen Geruch welkenden Laubes zutrug. Und als ich jetzt Ruths Stimme hörte, ruhig, kühl, leidenschaftslos, wie immer, wußte ich: das Sonderbare, das hier in der Luft liegt, nimmt jetzt Gestalt an, formt sich Worte, verhängnisreiche Worte in diesem jungen Frauenmund.

»Ich wußte das,« sagte Ruth, und sie hob dabei den gutgeschnittenen Kopf und sah aufmerksam nach den Sternen, als ob es ihr doch endlich gelingen müsse, sie zu zählen, »wußte, daß du nach Berlin gehen würdest. Früher oder später. Nun ist es durch die Taktlosigkeit eines übergeschnappten Talentchens früher, sehr früh gekommen. Zu früh vielleicht. Ich habe angenommen, gehofft, es käme erst in einigen Wochen, Monaten – und ich könnte mich dir anschließen.«

»Du – dich mir anschließen?« Bens Hände fuhren rasch aus den Taschen von Konrad Körbers kümmerlichem Mäntelchen. Dabei fiel das Stück Speck heraus. Ben bückte sich unwillkürlich und hob es auf.

Das Sonderbare! dachte ich; und ich fühlte, wie mein Herz klopfte. Aber ich sah das Sonderbare durchaus nicht darin, daß der sonst so elegante Ben in einem viel zu kurzen, vertragenen Mäntelchen mit erstaunten, runden Augen auf der Straße stand und dabei ein fettiges Stück Speck in der Hand hielt.

»Du – dich mir anschließen?« wiederholte Ben.

Und wieder hörte ich Ruths Stimme, die alles, was sie sagte, kühl und sachlich aus einem großen Lesebuch da oben in den Sternen abzulesen schien: »Ich bin entschlossen, auch nach Berlin zu gehen. Frauen sind jetzt dort zu den meisten Vorlesungen der Universität zugelassen.«

»Du willst studieren?«

»Vielleicht. Meinem Vater werde ich, für diesen Fall, vorher erlauben, zu heiraten. Gigi hat endgültig mit dem meergrünen Trikot und den klugen Kakadus gebrochen und aus alten Familienpapieren nachgewiesen, daß sie aus braver bürgerlicher Familie stammt, eigentlich Georgine Schönborn heißt und – Aber braucht man einem verliebten alten Herrn »nachzuweisen«, daß man eigentlich . . .«

Hinter uns raschelte etwas durch die Blätter. Ich sah mich um. Es war Pitt, dem, wie es schien, niemand aufgemacht, und der sich entschlossen hatte, uns zu begleiten.

»Ruth, das ist ja eine großartige Idee –« Die Nähte des Dichtermäntelchens krachten bedenklich in den Achseln. Bens stürmische Bewegungen waren für kommodere Kleidung berechnet. »Da hab' ich den besten Kameraden, den ich mir wünschen kann – Hab' ich dir's nicht gesagt, Adi, vorgestern oder wann, sagt' ich dir's doch – daß Ruth der beste Kamerad ist?«

Ruth sah von den Sternen einen Augenblick forschend zu mir. »Hat er das wirklich gesagt?«

Ich konnte nur bestätigend nicken, denn Ben sprach schon wieder mit großer Lebhaftigkeit.

»Also wir werden alles zusammen studieren – wir beide – Berlin und die Museen – und die Kunst und das Leben – und werden uns Aufgaben suchen, große Aufgaben, die – – Aber wann ist dir bloß dieser ausgezeichnete Gedanke gekommen, Ruth?«

»Ich hab' ihn deinem Bruder schon vor Jahren angedeutet. Auf einem Spaziergang, glaub' ich, über die Zeil. Deutlicher gesagt hab' ich's ihm dann auf dem Philosophenweg in Heidelberg.«

»In Heidelberg?! Adi, du Scheusal, unbrüderlicher Bruder, warum hast du mir denn davon gar nichts gesagt?!«

»Weil er« – Ruth enthob mich der Antwort, »weil er nicht durfte. Und weil er –« ich empfand, ohne sie anzusehen, daß sie jetzt lächelte – »weil er wohl von dem Plan damals nicht so restlos entzückt war, wie du jetzt. Auch hab' ich ihm nicht verhehlt, daß eine derartige Kameradschaft, wie ich sie mir denke und wie du sie brauchst, eine solche Kameradschaft zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechts nur durchführbar ist – –«

»Nun?«

Wir standen alle drei still. Auch Pitt hinter uns stand und erwartete mit schiefem Kopf, ein Vorderpfötchen erhoben, die weitere Entwicklung der Dinge. Nichts regte sich auf der Straße. Auch die Häuser in den Gärten schliefen. Nur bei dem Arzte in der weinlaubumsponnenen Villa brannte, das sah ich, hinter den Vorhängen noch eine grüne Lampe.

»Wir müßten uns vorher heiraten,« sagte Ruth ganz ruhig. Und wer kein Deutsch verstand und nur die Worte hörte und den Ton, hätte annehmen können, sie spreche die Vermutung aus, es werde morgen regnen, oder sie erörtere den Marktpreis vom jungen Spinat.

»Wir –? uns –?! Ruth!!« Tiefstes Erstaunen ging unvermittelt in maßlosen Jubel über. Der Pitt hinter uns bellte erschreckt.

»Ruth – daß ich daran nie gedacht habe – – es war gewiß, weil es das Natürlichste ist – das auf der Hand Liegende – das ganz Selbstverständliche! Oh, jetzt liegt der Weg vor mir – vor uns – weit, weit offen zur Arbeit, ein sonniger Weg bergauf zum Erfolg, ins Glück! Ruth – liebe Ruth!«

Ben vergaß ganz, daß er auf der Straße stand. Vergaß, daß ich dabei war. Vergaß, daß er ein Stück Speck in der Hand hatte. Er schloß Ruth stürmisch in seine Arme, und sie überließ sich ihm wortlos, mit geschlossenen Augen. Ein klein wenig nur bebte ihr Mund, als er sie küßte.

Aber schon hatte sie sich wieder. »Du machst mich fett, Ben,« sagte sie lächelnd und entzog sich ihm.

»Fett? Wieso? Ach, richtig – entschuldige.« In weitem Bogen flog der Speck auf den Fahrdamm. Pitt, der rasselose, aber kluge Köter, begriff sofort, daß das kein Stein war, und bemächtigte sich des seltenen Leckerbissens.

Der kräftige Hufschlag eines Trabers kam näher. In seinem offenen Einspänner, wohlig in die Decke gehüllt, eine glimmende Zigarre im Mundwinkel, fuhr der Kommerzienrat Baddach auf Gummirädern nach Hause.

»Holla – das seid ihr ja!« Er hatte uns erkannt. »Fritz, anhalten!«

Er war, sichtlich wonniger Eindrücke voll und mit dem angenehmen Verlauf seines Abends zufrieden, aus dem Wagen gesprungen. Das runde Hütchen, die helle Foulardkrawatte gaben ihm etwas Jugendliches.

»War's schön im Vortrag, Kinder? Gut unterhalten? Belehrt und erhoben worden?«

»Danke, Papa. Mehr belehrt, als erhoben. Aber wir sind zufrieden. Besonders mit dem Ende.«

»Wieso? War wohl ein leckeres Souperchen mit der schönen Literatur verbunden?«

»Nicht gerade das. Aber die literarische Gründung hat – sagen wir: rein-menschliche Konsequenzen gehabt.«

»Nanu? Rein-menschliche –?« Der Kommerzienrat schien von einem großen Erstaunen ins andere zu fallen; denn noch während er »nanu« sagte, musterte er mit verblüfftem Blick die sonderbare Kleidung Bens, dem unter dem vertragenen hellen Mäntelchen die langen, seidengefütterten schwarzen Schwalbenschöße des modernen Fracks weit hervorsahen.

»Ich habe« – Ruth hakte sich leicht im Weitergehen in den Vater ein, während sie sprach, »habe den Herren gerade mitgeteilt, daß du dich dieser Tage mit Fräulein Georgine Schönborn verloben wirst.«

»Ruth – ich mich mit – –? das hast du – –?« Ein jugendlicher Jubel zitterte in der Stimme des Kommerzienrats. Er stand, nach Atem ringend, still und legte die Linke mit zwei schönen Brillantringen aufs Herz. »Das hast du – –? Also das heißt, du bist plötzlich einverstanden, daß . . .«

»Es scheint so, Papa. Vorher aber – ich lege Wert auf die Reihenfolge der Ereignisse – vorher aber – werde ich mich noch rasch verheiraten.«

»Du? Nanu! Mit wem denn?«

»Mit Ben. Wir haben uns eben verlobt.«

»Du und der Ben –? Also, Kinder, das ist großartig! Ihr hättet mir gar keine größere Freude machen können. Auch keine überraschendere – Und gerade heute – an Gigis Namenstag – ich wollte sagen, an Fräulein Georginens Namenstag – sie ist katholisch, aber das macht nichts. Georgine vaut une messe . . . Kinder!« In überquellender Freude drückte der Kommerzienrat erst die Tochter, dann Ben so heftig an seine Brust, daß in der Tasche die Deckblätter der Importen knackend sprangen. Dann sagte er: »Aber nehmen Sie mir's nicht übel, Ben, Junge, Schwiegersohn – einen anderen Überzieher müssen Sie sich als Bräutigam machen lassen! Sie sehen ja aus wie ein Aushilfskellner am Sonntag. Aus dem Mäntelchen sind Sie doch entschieden 'rausgewachsen.«

. . . In jener Nacht, die der wunderlichsten Verlobung, die ich je erlebte – wenn ich meine eigene ausnehme – gefolgt ist, hatte ich einen gar seltsamen Traum. Er ist mir erst viele Jahre später wieder eingefallen und hat mich dann über den Ursprung und das Wesen der Träume nachzudenken gelehrt.

Ich sah einen kleinen blonden Jungen, den ich – das wußt' ich genau im Traum – nie zuvor gesehen hatte. Er saß, mich anlächelnd, in einem kleinen, schmalen Nachen und trieb, ohne Ruder und Steuer, auf grünem Wasser. Die hellen Ufer lagen weit. Und der kleine, schmale Nachen war vollgepackt mit wunderlich geformten breiten Körben. Ein Korb wie der andere. Und durch die geflochtenen Ränder all der Körbe waren bunte seidene Bänder durchgezogen; und große Schleifen hingen am Rande. Und inmitten all der Körbe saß der hübsche blonde Junge und spielte mit einem Wollaffen. Und auf einmal blühten Nelken, lauter herrliche Nelken aus all den Körben und überrankten und überwucherten das spielende Kind, bis ich es nicht mehr sah. Und unter der Last der vielen, vielen Blumen ging der beladene Kahn immer tiefer ins Wasser nieder; tauchte, nahm grüne Wellen über, sank und verschwand. Und auf den grünen, rasch sich beruhigenden Wassern, mitten in zittrigen, silberigen Kreisen, streckte der Wollaffe, leicht schaukelnd, seine langen Arme nach der Sonne aus.


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