Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Dreiundvierzigstes Kapitel

Morcote am Luganer See.

An einem herrlichen Tag im November.

Mein lieber Bruder Adi!

Heute sollst Du endlich von dem Ungetreuen hören, der seine »hochherrschaftliche« Häuslichkeit, das stolze Berlin, das herbstliche Deutschland im Stich ließ. Und vielleicht das Beste – die Arbeit. Aber Deutschland hat andere Sorgen, Berlin hat seine erwachende Saison, Ruth arbeitet auf das neunzackige Krönchen zu – der Zufall warf mir einen Koburger Kammerherrn ins Coupé auf dem Gotthard; ich weiß Bescheid. Und Literatur und »Schönheit« und »Letzter Schick« sind gut aufgehoben bei Tobias Moscheles. Und beim Vicomte de Lussignac.

Und ich bin frei! Bin frei, wie ich nur als Kind, nur im Traume war. Ich lasse meine Augen Spiegel sein von unendlicher Schönheit, fange fremde Laute einer stolzen Sprache ins Ohr, die ich heute noch nicht verstehe, die mir wie Musik klingt; und öffne mein Herz der Sonne, die hier überall, warm und hell, auf Gipfeln und Gräbern, auf Rosen und Menschenherzen liegt.

Als gestern Gaëtano, mein famoser, gebräunter Motorkapitän, Matrose, Schiffsjunge und alles andere, den ich – neben dem getreuen Peter Pütz – hier brauche, das kleine Schiffchen auf den stahlblauen Wellen an Villen und Gärten vorbei pfeilschnell nach Melide laufen ließ und die Sonne so warm seinen braven breiten Rücken beschien, warf er plötzlich, übermütig, wie nur diese Naturkinder sein können, den blauen Rock ab – meine Seelivree, die ich ihm vor drei Tagen erst in Mailand gekauft – badete die zottige Brust im warmen Licht und lachte blinzelnd zu mir herüber: »Il sol è l'abito del poverino, Signore!«

Recht hat er! Ach, so recht! Ich war ja auch ein poverino, als ich hier ausstieg. Dunst und tieflagernde Wolken hatten das andere Ufer verhüllt, nichts war von den Häusern von Porto Ceresio zu sehen und von den Kastanienbäumen davor; und ich dachte schon, ich ziehe, ein Verfemter, den grauen deutschen Nebel hinter mir her, wie die Schleppe meiner Schuld. Aber als ich am anderen Morgen die Fenster aufstieß, lag der See in blitzendem Sonnenschein, und im Nu spann das liebe herrliche Himmelsgestirn meiner müden, geschundenen Seele l'abito del poverino – den Mantel des Armen.

Ich bin nicht arm mehr, Adi. Zum erstenmal fühl' ich's, daß ich reich bin. Nicht so, wie »zu Hause« – wo jede Delfter Schüssel, jeder Onyxaschbecher, jedes gestickte Sofakissen ausgesucht, kunstreich, wertvoll und ein Schaustück war. Ach nein, ich esse von bunten Steingutbauerntellern. An den Wänden, statt der Originale aus Florenz und der Kopien aus dem Ruysmuseum Amsterdams, ein paar biedere Seelandschaften, die ich einem deutschen armen Teufel abgekauft, der hungernd und vergnügt vor einer wackligen Staffelei in Brusimpiano saß. Im Studio – wie stolz das klingt, es steht nur ein Schreibtisch drin, ein Bücherspind mit siebzehn Büchern – Goethe und Friedrich Stoltze natürlich dabei – und Korbsessel mit bunten Kissen aus grüner Binsenmatte – im Studio nur, als einziges, geliebtes Prunkstück, eine Kopie von Raffaels heiliger Cäcilie. Weißt Du, von der aus Bologna, die der Meister für den Kardinal Pucci gemalt hat. Ich stehe oft davor und sehe die Sonne, die echte, liebe Sonne, die goldverzierte Tunika der himmlischen Musikantin streicheln, sehe die schlanken Hände der Verzückten leicht auf der Gondel ruhen und höre, andächtig, wie die Apostel, mit ihr die sechs Engel vom Wolkenrand singen. Und hinter mir durch die offene Tür, durch einen Rahmen von Kletterrosen plätschert der See an mein Ohr. Himmlische Musik der Stille, des Freiseins!

Ich denke kaum an die Vergangenheit da oben im Gewimmel der kalten Stadt im Norden, die alles so schwer und so wichtig nimmt; durch die jetzt der Regen klatscht und Habgier und Ehrgeiz hasten, wie immer. Die Leipziger Straße liegt so fern, wie die Trichter der Danteschen Hölle. Und abends spielt Gaëtano vor dem Küchenfenster der dicken Köchin auf der Mandoline neapolitanische Straßenlieder, und ich vermisse die Königliche Oper nicht. Ich denke kaum an die Zukunft. Aber an Ewiges denk' ich viel, wenn ich, zwischen Lorbeer und Oliven, die breite, verwitterte Steintreppe hinaufsteige über meinem Häuschen, hinauf zum Camposanto, der mit seinen Kreuzen und Steinen, von uralten Zypressen bewacht, wie eine uneinnehmbare Burg des Ewigen über den Vignien und den Magnoliengärten thront.

Ob ich arbeite? . . . Nein. Noch nicht. Und was ich arbeiten werde und beginnen, weiß ich noch gar nicht. Irgend etwas. Jetzt –? Ich ruhe aus, ich suche mich selbst, suche meine alte Fröhlichkeit und meinen begrabenen Leichtsinn. Ich prüfe mich selbst, Adi, prüfe mich streng und gerecht. Ich habe kein Unrecht getan. Was kümmert mich's, wenn ich »schuldiger Teil« heiße bei der Scheidung. Weil ich »böswillig verlassen« habe. So war's; ich sagt's Dir bei unserem Abschiedsessen in dem Zimmerchen, das Dir mißfiel und das solche Gäste noch nicht oft gesehen hat. Und Du sollst, als mein Anwalt, auf alles eingehen, was Ruth Rechte gibt und sie entlastet. Sie war meine Freundin, wurde meine Frau und bleibt eine Dame. Ich hab' ihr nichts vorzuwerfen, denn sie kann nicht aus sich heraus, nicht über sich hinaus. Das Glück, das sie erhofft, gönn' ich ihr. Neidlos und von Herzen. Wir dürfen nicht alle anderen mit unseren Augen ansehen, Adi, an unseren Maßen messen, das weiß ich jetzt. Aber sie sollten uns auch nicht mit dem Zollstab nachlaufen und unsere Schollen messen und unser Zufluchtswinkelchen in der Sonne.

Werden »Schriftsätze« gewechselt in diesem hoffentlich kurzen Prozeß – Kinder sind ja keine da – so sieh zu, daß ich nichts selbst zu lesen brauche. Schreib mir von Dir, von Käthe, von jeder Freude, die Ihr habt, von jedem Leid, das Euch drückt – aber laß meine Vergangenheit nun Vergangenheit sein. Auch in Deinen Briefen. Das alles war gut, wie es war – denn es hat mich schließlich hierher geführt. Und was mir hier noch fehlt – – –

Ich habe erst zwei Briefe geschrieben vor diesem. Zwei in all den langen, hellen Tagen. Einen, den ersten, an die Mutter. Für die liebe, alte Frau, der noch erinnernd die Harmonien glücklichster Ehe durch die vereinsamte Seele rauschen, bin ich vielleicht ein Sünder heute. Aber Mutterliebe – ist's frivol, das zu sagen? – wäre um ihr schönstes Glück und Recht beraubt, wenn sie nicht, wie der liebe Gott, so viel zu verzeihen hätte. Und manchmal denk' ich, diese Mutterliebe ist vielleicht nur ein Stück, das beste Stück von dem, was wir, alles vermenschlichend, selbst das Nie-Erkennbare, Ewig-Gesuchte, demütig, dankbar und scheu, den lieben Gott nennen.

Schreib Du ihr auch, Adi. Schreib so lieb, wie Du denkst, und so klug, wie ich's nicht kann. Schreib ihr: der Ben ist glücklich jetzt, er wird's. Das ist Musik für ihr mütterliches Herz. Dann hört die alte, weißhaarige Frau im »Ställchen« unter den würdigen Herrn im Biedermeierrahmen die Engel singen, wie meine heilige Cäcilie in der güldenen Tunika auf Raffaels wundervollem Bild.

Und den anderen Brief, den ich geschrieben habe – Du wärst nicht mein Bruder, nicht der Bruder, der Du bist, der ältere, klügere Bruder, der meine Dummheiten lächelnd verstanden und das bißchen Gute in mir gepflegt und gekräftigt hat, wenn Du's nicht wüßtest, eh' ich Dir's sage. Der andere Brief war an Ev'.

Wenn sie nun kommt – und Adi, freu Dich mit mir: sie kommt! – werden die anderen sagen, die Weisen, die Pfiffigen, die Weltkundigen: »Da habt ihr's! Er ist seiner Frau davongelaufen, um seine Geliebte kommen zu lassen.« Wie rasch bei der Hand sind sie doch mit ihren Formeln! Und wie logisch sind alle die Formeln – und wie falsch. Ich habe in Berlin, noch als ich abfuhr, nichts gewußt von diesem Brief, den ich am dritten Tag hier nach Heidelberg schrieb. Nicht Menschen, nicht kluge Freunde, auch nicht praktische Erwägungen – Du kennst mich – und nicht Trotz und Auflehnung haben mir die teuren Namen wieder zugerufen. Die beiden Namen: Ev' und Sepp.

Himmel und See, Sonne und Rosen und Schmetterlinge haben mir sie heimlich zugeraunt. Singende Mädchen, die durch die Vignien stiegen, haben davon gesungen. Spielende Kinder, die mein Gärtchen umjauchzten, haben sie gerufen. Und die Sterne, die nachts so wundervoll zwischen den schmalen Schatten der Zypressen stehen, haben sie geleuchtet . . .

Hier erst in der Herrlichkeit der Natur, die dem frierenden Herzen den Mantel gibt und den Einsamen die gewaltige Stimme der Stille hören läßt, hab' ich entdeckt, wie reich ich bin. Hab' den Schatz an Liebe gefunden, der in kalter Ehe, in ehrgeizigem Ausstieg eingesargt lag, verschüttet, erfroren, in meinem verarmten Herzen. Und das Herz ist noch jung, Adi – und hier, wo es jetzt schlägt, welkt nicht alles. Wenn hier im Süden für kurze Wochen die Blumen verschwinden und die zarten Magnolien und die jungen Myrten im Verborgenen liegen, bedeckt und geschützt von sorgender Gärtnerhand – des immergrünen Laubs, der nie ihres Schmuckes beraubten Bäume gibt's auch dann noch so viel, die predigen: das Leben lebt und die Sonne verläßt uns nicht!

Ev' kommt, Adi! Und sie bringt den Kleinen mit!

Ich werde seine Händchen in meinen halten, seine Locken streicheln, ihm den Blick öffnen dürfen für alles Schöne. Er wird mich fragen, und ich werde antworten – und heimlich lernen längst Vergessenes für ihn. Wenn ich daran denke, spielt meine heilige Cäcilie Jubelhymnen, und ein um Tausende verstärkter Engelchor singt mit den sechs Himmelskindern Raffaels auf der Wolke.

Morgen fahre ich mit Gaëtano und Peter Pütz nach Lugano. Das Schiffchen wird Flaggenschmuck anlegen. Der deutsche und der Schweizer Wimpel soll flattern, und die Stadtfarben von Frankfurt und Heidelberg hab' ich mir für die »Innendekoration« zusammengestellt. Gaëtano muß den blauen Rock feierlich anbehalten, und Peter Pütz wird sich die weißen Handschuhe nicht nehmen lassen, wenn nicht der Prinz Reuß für die Einholung einer schönen Frau und ihres Jungen besondere Vorschriften macht.

Also – Peter Pütz ist hier einfach ein Kapitel für sich. Er schaudert ob der kleinen Unmanierlichkeiten meiner lieben Tessiner. Die guten, lustigen Kerle sind ihm zu laut: sie spucken ihm zu viel, und das geräuschvolle Bocciaspiel findet er ruppig. Er wundert sich, daß sie nicht so fromm sind, wie er nach den vielen Kirchen und Kapellen erwartet hat. Aber Gaëtano, den er in der Zeichensprache – er spricht sie glänzend, und Taubstumme könnten von ihm lernen – befragte, hat ihm geantwortet: »Tutti liberi pensatori« . . . Die Natur betrachtet er mit dem Kennerblick des ehemaligen Photographen und die Frauen mit dem Auge des künftigen Friseurs. Allerdings Rosa Riemenschnut ist erledigt. Sie hat – ich rechne ihr das hoch an – durchaus zu ihrer Herrin gehalten. Zur Strafe hat sie Peter Pütz die letzten Tage nicht mehr frisiert. Aber hier möcht' er allen Frauen erst gründlich die hübschen Köpfe waschen und dann herrliche Frisuren türmen aus den reichen tiefschwarzen Haaren. Der dicken Köchin – einem ältlichen Bauernmädel aus Gentilino aus dem Collino d'Oro – eine wohlklingende Heimat für ein etwas blatternarbiges, gutmütiges Trampeltier, was? – versucht er – nachdem sie das Angebot, sie zu frisieren, entrüstet abgelehnt – Manieren beizubringen. Aber ich fürchte, sein Abgott und Lehrer, der soundsovielte Prinz Reuß, wird nie viel Freude erleben an der dicken Julia – ausgerechnet Julia – Sorezza aus Gentilino aus dem Collino d'Oro.

Eben kommt er übrigens in die Laube, in der ich schreibe, der Peter Pütz – in weißen Handschuhen, hier sogar!, die Gaëtano sehr bewundert – und meldet, daß serviert ist. Und da ich ihm sage, an wen ich schreibe, bittet er »sich untertänigst empfehlen zu dürfen«. Eine treue Seele, glaub' mir; und ich bin froh, daß ich's mit ihm gewagt habe

Leb wohl, Adi, und denk manchmal an mich! Sprich mit Käthe gut von mir – ich spür' das hier. Und komm bald, recht bald! Wie werd' ich mich freuen, wenn ich hier an der Landungsbrücke stehe und Dir aufs einfahrende Schiff den Willkommengruß winke. Ich – und mein Sohn!

In Liebe und Freundschaft grüßt Dich aus seiner neuen, stillen, blühenden Welt getreulichst

Dein Bruder Ben.

*

Vier Tage später kam dieser andere Brief aus Morcote:

Lieber Herr Doktor!

Ben, der mir über die Schulter sieht, sagt: »Schon die Anrede ist falsch!« Das mag sein. Aber Sie hören den Ton, gelt? Und der ist ganz echt und warm. Denn wenn ich auch »Doktor« schreibe und »Sie«, ich spreche ja doch zum Bruder vom Ben.

Jetzt hab' ich ihn hinausgeschickt. Er spielt draußen mit dem Sepp. Sie sollten's sehen! Selber wie ein Kind. Er ist so glücklich und weiß gar nicht, was er uns alles Liebes antun soll. Und er hat immer noch die Neigung, Unsinniges zusammenzukaufen, bloß um anderen Freude zu machen.

Der Bub hat gestern abend, als ich mit ihm gebetet hab' – das ist so herrlich hier, das Beten wird so leicht und froh, die Sterne gucken ins Zimmer, und man hört den See draußen immerzu, immerzu – ja also, da hat der Bub gesagt: »Gelt, Mutter, das ist viel, viel schöner, als ein Märchen?« . . .

Und wissen Sie, wer's vorausgesagt hat? Mein lieber Vater. Das war ja nur ein einfacher Mann und hat nie mehr wollen sein. Und schließlich war er sehr, sehr alt. Aber als er gefühlt hat, daß es zu Ende ging, hat er gesagt: »Weißt, Ev', jetzt kann ich gehen – jetzt holt er dich bald!« Und da hab' ich ganz erstaunt gefragt: »Ei, wer denn, Vatterle?« Denn ich hab' gemeint, das Fieber hat ihn. Aber er hat ganz klare Augen gehabt, und sogar ein bißchen gelacht hat er in seinen Bart, der ihm ganz lang und eisgrau gewachsen war zuletzt. »Wer? Ach, Kind, mach' deinem alten Vater nichts vor! Es hat ja doch nur einen »er« für dich gegeben all die Jahre. Neben dem anderen, den wir alle groß schreiben, gelt, und zu dem ich jetzt bald hinaufgeh'.« Und in derselben Nacht ist er verstorben.

Was hätt' er sich gefreut, wenn er sehen könnt', wie gut's der Bub jetzt hat! Er sagt noch »Onkel« zu seinem Papa. Ich will das so. Später kann's ja anders werden. Ich wohn' auch noch in der Villa Ollivella – so sechs, acht Minuten vom Ben, auch am See – und das soll so bleiben, bis – – Sie verstehen. Gesetz ist Gesetz, sag' ich, und Recht ist Recht. Ich hab' nie jemand was genommen und will's nicht tun. Damals, in Heidelberg, war er frei. Wenn er's wieder ist, und ich bin ihm noch gut genug – und er spürt's, daß der Bub sein Bub ist, so ganz sein Bub – – Ach, lieber Doktor, er sieht ihm ja so lächerlich ähnlich! Er ist jetzt bald so alt, wie der Ben, als Ihre liebe Schwester verlobt war. Wenn Sie ein Bild von damals haben, holen Sie's hervor und schauen sich's an, dann haben Sie den Sepp. Von mir hat er scheint's gar nichts, der Schlingel, als die roten Backen und die blauen Augen – aber nein, die hat ja der Ben auch.

Alle verwöhnen sie mir den Buben. Der Gaëtano trägt ihn Huckepack und schnitzt ihm Schiffchen. Die Julia backt ihm Bratäpfel und steckt ihm Trauben zu, mit Beeren so dick wie Drosseleier. Und der Peter Pütz, der gar nicht wußt', was er ihm Liebes antun sollt', hat ihm gestern die Haare geschnitten.

Jetzt rudert der Ben mit ihm.

Gerade fahren sie unter der Trauerweide her. Das ist ein Baum, so schön und in all dem Blühen so traurig, wie ich noch keinen gesehen hab'. Überhaupt, ich hab' immer gedacht: was Schöneres, wie Heidelberg, kann's nicht geben, 's Vatterle wär' bös, daß ich's sag', aber es gibt doch noch Schöneres. So blau, wie der See sein kann, und so viel Stern', daß es gibt – ich hätt's nie gedacht! So lieb und listig blinken sie nachts, als ob sie sagen wollten: Seid glücklich! Und die Menschen sind alle freundlich. Bloß – ich versteh' keinen. Wir lachen uns halt an, nicken uns zu, sind uns gut – und haben keine Ahnung, was wir zueinander sagen. Aber der Sepp, der hat schon ein paar Brocken aufgeschnappt. Ich glaub', das Sprachtalent hat er vom Vater. Gott geb's! Und der Ben hat ihm eine kleine Mandoline gekauft, da verüben sie jetzt Musik darauf im Boot – ich hör's bis hierher. Das Wasser trägt den Ton so schön. Und abends hören wir von weit überm See aus den Osterien, wie sie hier die kleinen Kneipen nennen, die Lieder. Die sind oft so schwermütig und haben eine einschmeichelnde Melodie. Aber der Ben sagt, der Text ist manchmal furchtbar dumm. Da ist's halt gut, wenn man ihn gar nicht versteht, wie ich, und nur die schöne Musik hört.

Heute mittag will uns Ben die Grotte von Ostero zeigen. Da steigen die Felswände so steil auf, sagt er, daß das Boot nur gerade so durch kann; und hoch oben sieht man durch ganz schmalen Spalt den blauen Himmel. Der Bub freut sich schrecklich. Bootfahren ist sein ganzes Vergnügen – und meine Angst. Und der Ben ist so glücklich, als hätt' er alles, was er uns zeigt, selbst gemacht und hingestellt und aufgebaut. Er ist noch genau so wie damals in Heidelberg. Und wenn er lacht und ich mach' die Augen zu, glaub' ich, wir sitzen an dem runden Tisch in der Anlage oder oben auf der Molkenkur bei der Bowle. Und wenn ich dann die Augen wieder aufmach' – dann springt doch schon ein achtjähriger Bub im Matrosenanzug hinter einem Schmetterling her und ruft: »Beinah, Mutter, hätt' ich ihn gehabt!«

Ach ja, lieber Herr Doktor, »beinah« – was hätten wir nicht alle »beinah« gehabt an Schmetterlingen und an Glück, gelt? Aber es ist nie zu spät, glücklich zu sein. Nur manchmal, manchmal trau' ich mich gar nicht, daran zu glauben, daß es doch noch gekommen ist. Und gleich so, so schön! Aber ich bin auch dankbar. Und gestern hab' ich vom Schönsten, was in unserem Gärtchen am See blüht – nun sag' ich schon »unser« Gärtchen; aber Sie verstehen das nicht falsch, gelt? –, hab' ich mit dem Bub ein feines Gewinde gemacht. Ich bin nicht katholisch, das wissen Sie wohl, und meiner alten Heiliggeistkirch, an der 's Vatterle sein Lädchen gehabt hat, bleib' ich treu. Aber ich hab' ihn doch oben der Madonna del Sasso um ihr verwittertes Bild gelegt, den Kranz. Die schaut von da oben, wo die Toten aus dem Städtchen liegen, hinunter in alles. Schaut auf die Villen, in das Gärtchen, auf die Rosenlaube, ins Boot. Und wenn wir Lutherischen auch die Madonna nicht so gelten lassen, wie die Katholischen – es ist doch die Mutter des Herrn auch für uns; und sie sieht mütterlich herunter von da oben auch auf meinen Jungen, der seinen Vater gefunden hat. Und auf eine Mutter, die so dankbar und glücklich ist.

Jetzt ist der Brief so arg lang geworden, lieber Herr Doktor. Aber Sie sind nicht bös, denn er erzählt Ihnen ja vom Ben und vom kleinen Sepp, der nun weiß, daß er »noch einen Onkel« in Berlin hat. Er fragt schon oft, wie Sie aussehen, und warum Sie nicht auch hier sind. Und wie tät er sich freuen, wenn Sie bald, bald kämen! Und erst der Ben!

Und wirklich auch ein wenig – oder nein: viel mehr, als »ein wenig« –

Die Mama von Ben seinem Bub.

*

Nur vierundzwanzig Stunden später kam dieses dringende Telegramm aus Lugano an mich:

»Ben bei Rettung von Sepp aus dem See schwere Lungenentzündung geholt. Zustand ernst. Verlangt sehr nach Ihnen. Kommen Sie, wenn irgend geht.

Ev'.«


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