Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Aus den zwei Tagen, die ich zugeben wollte, waren acht geworden. Die Frühsommerherrlichkeit des Neckartals, die Gesellschaft der fröhlichen Jugend, das Bewußtsein, zum erstenmal hier zu sein und wohl lange nicht mehr herzukommen, ließen mich meinem Kompagnon telegraphieren und schreiben, er möge mich vertreten die paar Tage, die ich mir eventuell gern von der Sommerreise abziehen ließe. Und Käthe selbst schickte mir eine liebe Depesche: »Bleib und erfrisch Dich ein bißchen! Ich hüt' schon das Haus gut.« In solchen Depeschen, die streichelten und verstanden, war sie groß.

Die ernste Aussprache mit Ben schob ich von Tag zu Tag hinaus. Und von Tag zu Tag schien sie mir lächerlicher. Denn was sich hier begab, war nichts Verdammenswertes, wenn es auch nicht nach der Norm und Sitte war, und barg keine Gefahren, wenn auch schon das Ende weh tun mußte. Und die Zukunft Bens sah ich in einem neuen Lichte, seit ich den Philosophenweg gegangen war. Mit Ruth.

Ich hatte pünktlich, wie verabredet, am etwas reich vergoldeten Tor des Salomonischen Tempels geklingelt. Auf die gepfiffene Arie verzichtete ich doch lieber. Ich war in der Melodie nicht ganz sicher und dann – ich sah des Professors gepflegten Assyrerkopf im Erker seines Studierzimmers über Bücher gebeugt; und hielt es doch für ein Unrecht, ihn mit dem Schrei Eleasars um Recha aufzustören.

»Pünktlich sind Sie,« sagte Ruth, die, schon zum Spaziergang bereit, ganz in Weiß, ein paar Rosen am Gürtel, durch den Garten kam, »aber meineidig sind Sie auch. Wo blieb die große Arie? Aber wenn ein Mensch von zwei Tugenden wenigstens eine hat, soll man ihm verzeihen. Also kommen Sie!«

Wir stiegen langsam, die weiche Luft des Morgens genießend, durch Villen und Gärten zur halben Berghöhe hinan, auf der der berühmte Spaziergang entlang führt. Ruth kannte jedes Landhaus hier und die Geschichten seiner Erbauer, Besitzer und Erben. Kleine Romane verrieten ihr diese reich umblühten Häuschen; und sie erzählte, hier von einem Namensschild angeregt, dort von einer Rosenlaube oder einer Chopinschen Mazurka, die durch ein offenes Fenster klang. Erzählte von allerlei Schrullen gelehrter Sonderlinge, die hier in Wissenschaft lebten, von allerlei Sehnsüchten gelangweilter Frauen, die hier die kleinstädtische Einsamkeit unter Rosen, Putten und springenden Wassern schwer ertrugen, von allerlei Hoffnungen frühreifer Kinder, die hier, wunderlichen Ehen entsprossen, all die kleinen badischen Götter Scheffel, Hebel und die gemütlichen Geschichten der Hermine Villinger längst zum Schutt geworfen hatten und mit faltigen Stirnen Ibsen lasen und über Nietzsche disputierten. Und dazwischen strafte mal aus einer grünverhangenen Gartentiefe ein lauter Jubel heller Kinderstimmen ihr Bild dieser Kolonie ein bißchen Lügen und triumphierte über die Sarkasmen und Sophismen der fertigen jungen Weltdame in naiver Fröhlichkeit einer Generation, die noch Fangball spielt auf den Rasenflächen und »Räuber und Nonne« durch die Büsche und Bosketts.

Wie anders, dacht' ich, war der Gang auf jener anderen Seite des Neckars, die jetzt, sauber aufgebaut, mit Stadt und Weg und Schloß da drüben herübergrüßte. Der Gang mit dem Kind aus dem Volke, das im Banne seines ersten, vielleicht seines einzigen süßen Erlebnisses alles mit den Augen seiner jungen Liebe suchte, streichelte, umfing. Und während ich höflich lächelte über die hübschen, ein bißchen listigen Bonmots, die Ruth über Menschen und Zustände dieser Stadt streute, die sie doch im Grunde auf ihre Art liebte, sah ich das Köpfchen der blonden Ev' vor mir; glaubte ich mit ihrer süßen, ein wenig wehmütigen Stimme zu hören: Goethe und Marianne.

Die letzten Villen lagen hinter uns. Der dunkle Laubwald hauchte uns mit reinem Atem an. Die Wiese fiel zur Rechten, wie ein Teppich, neben unserem Weg dem Neckar zu.

»Wissen Sie, daß ich Ben gerächt habe?« Ruth sagte das ganz plötzlich, während sie mit den Augen einem gleitenden Nachen auf dem Neckar folgte.

»Ben – gerächt? War das denn nötig? Und an wem?«

Sie lachte kurz auf. »Der Freiherr von Buchecker, Saxoborussiae – man munkelt, er habe neulich den staatswissenschaftlichen Doktor sehr ins Unreine gemacht – hat mir gestern, hier an dieser historischen Stelle – ich erkenne sie daran, daß noch die tote Maus da am Meilenstein liegt – hat mir gestern, was der deutsche Bürger so nennt, einen ehrenvollen Antrag gemacht.«

»Der Gegner Bens von der Hirschgasse –?«

»Derselbe. Ich bilde mir nicht ein, daß er neulich auf der Molkenkur zu seinem lieben Herzen gesprochen hat: »Die oder keine andere!« Aber vielleicht kennt er die volksbeglückende, rassebessernde Philosophie meines Vaters – Sie erinnern sich: pommerscher Junker – Frankfurter Jüdin . . . und hat die Anschauung zu der seinen gemacht. Wahrscheinlicher ist freilich, daß er aus der nicht ärmlichen Lebensführung Onkel Salomons auf meine Familie angenehme Schlüsse zieht. Auch gehört hat, daß ich die einzige Tochter bin. Bis jetzt. Bei der Jungbrunnenkur meines Vaters kann man ja nicht wissen . . . Und hat sich gedacht, besser als ein immerhin zweifelhaftes zweites Examen wäre schließlich eine Hochzeitsreise nach den Kanarischen Inseln.«

»Sie denken schlecht von den Menschen,« lachte ich.

»Nennen Sie das schlecht von den Menschen denken, wenn ich von einem davon annehme, daß er mich zur Baronin machen will?«

»Ganz ehrlich – reizt Sie das gar nicht?«

»Die siebenzackige Krone mit der Aussicht auf Courschleppe und Hofknicks? Ich will Ihnen – ganz ehrlich – was sagen: wenn schon, denn schon! Wenn ich mein Leben eingestellt hätte auf – nun sagen wir, auf das Faustsche: »wer immer strebend sich bemüht« – dann wäre mir, wie ich bin und wie ich's habe, ein kleiner pommerscher Junker denn doch ein bißchen zu wenig. Wenn ich schon mal ein Krönchen vergolden sollte, so würde ich mir sagen: »Vom Vater hab' ich die Statur, das Rechnen und Addieren,« und würde die Zacken sorgfältig nachzählen.«

»Das hätte nun freilich mit Liebe nichts zu tun.«

»Hätte nichts zu tun. Modus irrealis heißt das, glaub' ich – ein bißchen Latein hab' ich auch einmal getrieben. Aus Trotz und Ärger, als Ben in seinen Primanerbriefen immer hochmütig lateinische Zitate einstreute. Aber Sie brauchen nicht so finster zu blicken. Ich zähle die Zacken nicht nach. Und werde – so weit sich das Gefühl mit dem etwas verschrienen und viel mißbrauchten Wort benennen und rubrizieren läßt – aus Liebe heiraten.«

Ich blieb stehen und griff mir nach der Stirn. »Mir fällt etwas ein – Erinnern Sie sich unseres Spaziergangs damals die Zeile hinauf nach dem Gericht?«

»So gut, wie man sich an Spaziergänge erinnert, die eigentlich gar keine sind, sondern einen ganz bestimmten Zweck verfolgen.«

»Allerdings. Sie waren damals so freundlich und – ja, richtig, und damals sagten Sie mir, in zwei Jahren würden Sie vielleicht . . .«

»Die zwei Jahre sind heute um. Ich weiß. Und ich erinnere mich jenes gegebenen Versprechens –«

»Nun, versprochen haben Sie mir's eigentlich nicht gerade.«

»Ihnen nicht. Mir. Ist's Ihnen recht, wenn wir uns hier ein wenig auf die Bank setzen? Hier haben wir den Blick über die liebliche Engelswiese – nette Namen hat hier alles, nicht? – und können, wenn wir romantisch werden wollen, auf das Schloß drüben sehen.«

Unter einer breit schattenden uralten Buche stand die Bank. Hinter uns rauschte, kühl und feierlich, der Laubwald. Zu unseren Füßen blitzte silbrig der Strom. Hellrot grüßte im Sonnenschein von drüben aus Baum und Buschwerk der achteckige Turm, die Fassade des Otto-Heinrich-Baus. Unter dem dunkelroten Bogen der alten Brücke ruderten im Gleichtakt Studenten in zwei Booten hin. Das Wasser blitzte auf unter den Rudern. Irgendwo unten in einem Garten sang eine helle Kinderstimme.

»Ich möchte mich nicht in Ihr Vertrauen drängen, liebes Fräulein Ruth.«

»Glauben Sie, daß ich jemand sich drängen lasse? Nein, ich habe schon als Kind nur gesagt, was ich wollte. Und nur dem gesagt, dem ich's sagen wollte. Das ist so geblieben, und ich hab' mich leidlich wohl dabei befunden. Und jetzt will ich zu Ihnen sprechen. Von mir – und Ben.«

»– und Ben?« Ich fand den Zusammenhang nicht.

Ruth zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirms ein Monogramm in den Sand und betrachtete aufmerksam diese gewissenhafte Arbeit. Kein Zug in ihrem Gesicht, das hübsch, kühl und vornehm war, wie immer, änderte sich, als sie jetzt ganz langsam sagte:

»Ja, von Ben. Ich heirate Ben.«

Ich griff nach dem Holz der Bank, dann ins Fleisch meines Oberschenkels, um zu erproben, ob ich wach war.

»Sie – heiraten –?«

»Ben.« Sie nickte leicht und lächelte jetzt ein wenig, als ob wir vom Ankauf eines Schirmes oder eines Schäferhundes sprachen.

»Ja, haben Sie denn mit Ben –?«

»Mich ausgesprochen? Nein. Noch so wenig wie damals, als ich Sie am Tempel der blinden Gerechtigkeit absetzte. Aber ich werde das tun. Bald. Vielleicht unmittelbar nach Abschluß seines kleinen Heidelberger Romans. Oder es war wohl mehr ein Idyll?«

»Ein Idyll? Ja, was meinen Sie denn . . .« Ich hatte Herzklopfen. Je ruhiger sie blieb, desto erregter wurde ich innerlich.

»Sie müssen mir meine Offenheit – beinahe hätt' ich renommiert: meine edle Offenheit, aber sie ist nicht »edel«, sondern nur, wie das meiste was ich tue, vernünftig – müssen mir meine Offenheit nicht mit gut gespielten holden Ahnungslosigkeiten vergelten. Die glaub' ich Ihnen doch nicht. So wenig, wie ich die hübsche Verwandte des häßlichen Willibald von Gollwitz – der könnt' lachen! – geglaubt hätte, auch wenn ich nicht schon lange im Bilde gewesen wäre.«

»Der berühmte Vetter Theodorich war wohl so gütig?«

»Vielleicht. Übrigens hat Ben eine Art in seinen Briefen durch das, was er nicht schreibt, nur durch die Tönung seiner Stimmungen jemand, der ihn versteht, auf dem laufenden zu halten, die völlig genügt. Und ich versteh' ihn. Ich kenne sein leicht entzündbares, zu Sentimentalitäten neigendes Herz. Kenne seine Pläne, die nie Entschlüsse werden; seine Entschlüsse, die selten die Jahreszeit überdauern, von der sie bestimmt sind. Er ist kein Junker, der braucht und will. Er ist kein sieghafter Bezwinger alter Vorurteile, der für eine Herzensnarrheit Kopf und Kragen einsetzt. Er ist ein prächtiger Kerl, an dessen Lebensbäumchen, das froh in allen Winden steht, die köstlichen Ranken und Schößlinge nur behutsam angebunden werden müssen. Fest, an eine starke Stange –«

»Und die Stange –«

»Es ist kein schöner Vergleich – aber die Stange bin ich. Bin auch die Hand, die binden wird, ohne daß es weh tut; ohne daß mehr geknickt wird, als eben nötig. Und sehen Sie, daß er all die Zeit – selbst von Venedig kam ein Brief, damals, nach jenem peinlichen Morgen, da die Gondel mit dem Erbprinzen . . . na, Sie wissen . . ., daß er all die Zeit die Korrespondenz mit einer zähen Ausdauer geführt hat; daß er, ohne viel zu sagen und grob zu verraten, mich doch zu seiner Vertrauten machte, wohl zu seiner einzigen in diesen unausgesprochenen Dingen, das beweist doch mancherlei. Er hat instinktiv gefühlt, daß ich besitze, was ihm fehlt – Ruhe, Zielsicherheit, Willensstolz. Und ich – in all den Jahren hab' ich ihn ein wenig geführt. Ein Buch, so beiläufig genannt – er hat's sofort gelesen. Vor einem Menschen leise, nur so hingeblasen, gewarnt – sein Mißtrauen ist erwacht. Und wo ich fürchtete, doch nicht auszureichen, weil die Wucht und die Neuheit des Erlebnisses zu stark sein konnte, die Entfernung zu weit, die Post zu langsam, da hab' ich – einmal nur, Sie erinnern sich – rasch und entschlossen, einen andern auf Reisen geschickt. Sie

Ein wunderliches Gefühl stieg in mir auf. Gemischt war's aus einer scheuen Bewunderung vor so viel kühler Klugheit, die einen Herzenswunsch bändigt, bis er zur Erfüllung reif scheint, und einem leisen Grauen vor einer Jugend, die sich so in der Gewalt hat.

Jetzt wischte Ruth plötzlich mit ein paar festen Schirmstrichen das Monogramm im Sande aus und reckte sich tiefatmend.

»So sind Sie,« fragte ich zögernd, »vielleicht auch hierher nach Heidelberg gekommen –?«

Sie senkte in energischer Bejahung den Kopf. »Aus demselben Grunde, wie Sie. Um – man würde es spießig ausdrücken: um nach dem Rechten zu sehen. Nach dem Rechten, zu dem ich noch kein Recht habe. Auch der Erfolg unserer Reise ist derselbe. Sie haben sich überzeugt, daß keine ernste Gefahr im Anzuge ist; daß Sie daheim die Familie beruhigen können. Dasselbe weiß ich – aber erst seit ich da bin, ist diese Gefahr vorbei. Ich habe ihm nie die Sinne verwirrt – er kann mich heute und vielleicht immer – im einzelnen Fall »ruhig kommen, ruhig wandern« sehen. Aber als Ganzes und im ganzen braucht er mich. Braucht er jemand, wie mich. Und das empfindet er erst wieder deutlich, seit er weiß, daß ich hier bin. Seit er nicht ausgeht und nicht aus dem Fenster sieht ohne den Nebengedanken, daß ich vor ihm auftauchen kann. Und mit mir das, was schließlich siegen wird und muß über das Naturkind und über Heidelberg; über das Volkslied, wenn Sie so wollen, und über das kleine Abenteuer, das Mondschein brauchte, Rosen und Ruinen.«

»Und was wäre das, was er Ihrer Ansicht nach braucht?«

»Das fertige Weib, die Stärkere neben sich, die Weltstadt, das große, breite, uneingeengte Leben.«

Ein Widerspruch gegen so viel Sicherheit stieg in mir auf. Ein Widerspruch, der sich ritterlich aufreckte zum Schutze vor einem reinen, schwachen, gütigen Geschöpf, dessen still flehende Augen ich plötzlich unter dem Hut mit den rosafarbenen Möwenflügelchen ganz deutlich zu sehen glaubte.

»Irren Sie sich auch nicht?«

»Nein.« Unerschütterte Überzeugung sprach das.

»Nun – ich glaube, wenn nicht das liebe Mädel selbst so vernünftig wäre . . .«

»Ich war gut unterrichtet und wußte das. Ich konnte mich in diesem Falle nicht auf Ben, wohl aber auf die Geschlechtsgenossin verlassen. Es wäre nur eine Möglichkeit gewesen – eine Gefahr –«

»Welche meinen Sie?«

»Wir reden hier nur eines zum andern – und haben keine Hörer dieses Gespräches? Ich meine – auch keine nachträglichen Hörer?«

»Nein.«

»Gut. Wenn der Vater, ihr Vater, der Korbmacher an der Heiliggeistkirche, gestorben wäre – dann . . . Sie hätte eine Pflicht verloren und einen Halt. Die Melancholie der Stunde hätte vielleicht über allen guten Vorsatz gesiegt – Ben kann wundervoll trösten und ist ein Enthusiast des Mitleids . . . Der Vater kränkelte, war überarbeitet. Die Konkurrenz der Fabriken schädigt sein Geschäftchen, und er wird alt und schwerfälliger. Da hab' ich den Ausweg gefunden. Ein Blumengeschäft in Mannheim hat auf Jahre hinaus eine bestimmte Art von Zierkörben, leicht herzustellen, bei ihm bestellt. Wöchentlich ein halbes Dutzend. Das ist keine schwierige Arbeit für ihn, und das Geschäft zahlt die angeblich besonders wertvolle Handarbeit dieser nur für diese eine Firma hergestellten Fasson mit einem sehr anständigen Preis. Man könnte schon sagen, überzahlt sie.«

»Und es ist wirklich die Firma, die zahlt, das Geschäft?«

»Ich habe durch Theodorich – dem ich dafür das Nötige zur Bezahlung seiner nicht schüchternen Schulden vorgestreckt habe, von denen Onkel Salomon nichts wissen darf – einen Strohmann in die Firma eintreten lassen. So dreißig bis vierzig Dutzend von den Körben können Sie auf irgendeinem Speicher in Mannheim finden.«

»Eine wunderliche Art der Wohltätigkeit.«

»Es gibt dümmere Arten, das weiß ich. Dafür bin ich zu oft in Frankfurter Komitees für Basare und ähnliche Unternehmungen gewesen. Ben muß Spielraum haben. In Freiheit ersiegt er vielleicht ein hübsches Ziel; mit einer Kette am Bein bleibt er, als einer der ersten, liegen.«

»Sie fassen die Liebe als eine Art Vorsehung auf?«

»Die richtige, die weibliche wenigstens, ist vielleicht überhaupt nichts anderes. Aber reden wir deutsch und deutlich. Ben hat große Pläne. Doktor der Philosophie? Ganz gut. Aber wie heißt's in dem Kinderlied: »Der Besen, der Besen – was macht man damit?« Was macht man mit dem philosophischen Doktor? Habilitieren will er sich nicht. Dazu sitzt die Liebe zur gründlichen Forschung und der Glaube an ihre Resultate nicht fest genug in ihm. Aber die Kunst! Von der ausübenden hat er seit jenem Kampf mit dem Sofakissen in Erwin Schusters Arbeitszimmer abgesehen. Jetzt spuken zwei Projekte in seinem Hirn – Kunstzeitschrift und Theaterdirektor.«

»O weh!« Unwillkürlich war mir das so herausgefahren.

Ruth lächelte. »Neun Zehntel aller Menschen, die Ben kennen, werden hier »O weh« sagen. Warum? Ben hat durch die Erbschaft der Tanten für dieses Leben sein Auskommen, ob er nun was dazu verdient oder nicht. Er könnte sogar noch Schmetterlinge sammeln oder Marken, ja sogar in bescheidenem Umfang Autographen und Münzen, ohne daß seine Wohnung dürftiger, sein Tisch bescheidener zu werden brauchte. Aber – er will nicht faulenzen. Schön. Er will sich betätigen. Sehr schön sogar. Aber die Art der Betätigung soll beileibe nicht die sein, die jeder kleine Spießer kennt und liebt: hier soundso viel Stunden Arbeit – hier soundso viel hundert oder tausend Mark Gehalt oder Honorar. O, nein. Er hat Ideen. Und sehen Sie – jetzt wird's teuer. Fürs Leben und Behagen, auch noch fürs Sammeln – wenn nicht gerade Edelsteine oder Renaissancebilder – reichten die toten Tanten aus. Die »Ideen« verlangen ganz andere Kapitalien. Und da muß es, soll der gute Ben die Flügelfreiheit behalten, egal sein, ob die Kapitalien sich stärker erweisen oder die Ideen. Will sagen: ob die Ideen die Kapitalien auffressen, oder die Kapitalien die Ideen wirklich für sich arbeiten lassen. Als Tochter meines Vaters – selbst wenn er die unechte Nichte des Niagaraläufers üppig im Testament bedenkt – hab' ich wirklich genug, um Ben entweder mit einer ganz auf Kunst gestellten Kunstzeitschrift, die niemand abonniert, oder auch mit einem Theater für die geistige Elite, die nicht da ist, verkrachen zu lassen. Auch mit beidem. Und lieber Doktor, wir zwei sind aus einer Stadt, die zwar den Johann Wolfgang Goethe geboren hat, aber auch den Amschel Rothschild. Wir wissen, daß junge Leute immer noch die Gretchen und Klärchen schwärmerisch lieben, aber später den Frauen sehr dankbar sind, die sie vor der großen Pleite bewahrt haben. Vor der Pleite des Vermögens und der Ideen.«

Vor dieser Sicherheit des Tons und der Rede wurde ich verwirrt. Mir erschien das alles so unwahrscheinlich, so unwirklich. Da drüben das Schloß im junggrünen Wald, das Tal voll Sonnenschein, am Himmel zerflatternde weiße Wölkchen – und hier unten ein junges Weib, das mir auseinandersetzte wie eine Reiseroute: ich heirate deinen Bruder, der noch gar nichts davon weiß; dann kann er mit seinen Ideen Pleite machen.

»Und nun –« Ruth lächelte und stand auf, »nun, nachdem Sie mir kräftig stumme Opposition gemacht haben und dabei um die erstaunliche Entdeckung reicher geworden sind, daß es gar keine Gründe gibt, mich auszulachen – nun kommen Sie mit hinunter! Ich zeige Ihnen da unten in jener hohlen Gasse, wo nicht der Weg nach Küßnacht, sondern auf den braven Neckar zugeht, das berühmte Wirtshaus zur Hirschgasse. Lasse Sie durch ein Parterrefenster in den Saal gucken, in dem der ritterliche Ben vor ein paar Tagen sein Blut verspritzt hat. Und – sehen Sie, so was gibt's – ich habe keinen Pulsschlag mehr, wenn ich daran denke, daß dies . . . für eine andere geschah.«


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