Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Es hing wohl weniger mit den Perfekta auf »i« ohne Veränderung der Quantität des Stammvokals, als vielleicht mit der Pflege des Sports zusammen, daß Ben jetzt rasch männlicher wurde in Ton, Rede und Gebärde.

In seinem Zimmerchen, das er hübsch und geschmackvoll mit allerlei Buntdrucken ausgestattet hatte, roch es oft leicht und angenehm nach ägyptischen Zigaretten. Und zweimal in der Woche tat er gegen Abend einen geheimnisvollen Gang, der ihn nach seiner Aussage bald da, bald dort mit den Freunden Fips Tomasius, Tommy Schupp und Willibald von Gollwitz zu wissenschaftlicher Aussprache zusammenführte. Diese Aussage habe ich nie so wörtlich genommen, wie die gute Mutter, die sich entzückt zeigte von der Animiertheit, in der Ben stets von diesen wissenschaftlich beschwingten Zusammenkünften heimkam. Es hat sich später herausgestellt, daß diese Aussprache der Freunde allemal in einem lauschigen Eckchen der Weinstube »Zur Stadt Athen« in der Bockenheimer Gasse stattfand. Dort gab es in gebuckelten, offenen Fläschchen süße und angenehm harzige Weine, die die feurige Sonne von Hellas gereift und der Konsul Menzer in Neckargemünd nach Deutschland importiert hatte. Diese auch in der Farbe erfreulichen Getränke, die zum Teil von den berühmten Inseln Ithaka und Mytilene stammten, hatten auf der Karte gar stolze und heroische Namen, die ihre Bestellung humanistisch gebildeten jungen Männern ganz besonders empfehlen mochten. Sie hießen »Agamemnon«, »Odysseus«, »Ajax«, und ein ganz besonders süßer und molliger Tropfen, der wie die flüssige Sonne selbst im Glase stand, hieß »Helena«.

Es hatte sich nun bei der wissenschaftlichen Aussprache der jungen Freunde in der um die frühe Abendstunde nie sehr besuchten »Stadt Athen« der liebenswürdige Brauch herausgebildet, sich die Namen der jeweiligen Lieblingsgetränke als Kneipnamen beizulegen. So hieß Fips Tomasius »Odysseus«, was zum listigen Zwinkern seiner stets vergnügten Augen gut paßte. Tommy Schupp hieß »Ajax«. Willibald von Gollwitz hatte sich in Getränk und Namen für »Agamemnon« entschieden. Ben aber war »Paris«. Das Wohl der Damen wurde in »Helena« ausgebracht. Und dazu aß man knusprige Keks, den Teller zu einer halben Mark, die umständlich und gewissenhaft mit Streichhölzern ausgeknobelt wurden.

Ben aber befolgte in diesem Symposion, wie er den Freunden gestand, eigentlich nur das gute Beispiel des Dichters Otto Honneff. Dieser hatte einmal ein hübsches, von Ben besonders geschätztes Lied geschrieben, das begann:

Mich juckt das Fell wohl dann und wann –
Drum will ich mich erdreisten:
Warum soll sich ein deutscher Mann
Nicht einen Humpen leisten?
»Dein irdisch und dein himmlisch Wohl
Bedrohen schwer die Reben,
Es will nun mal der Alkohol
Dir keinen Frieden geben!«
Ach, alles das mag sein, mag sein –
Ich will den Römer fassen
Und sprech': Der Deutsche soll den Wein
Sich nicht verekeln lassen!

»Zur Sünde macht der Saft geneigt –«
So tadelt das Gekreische,
»Wo sich ein hübsches Mädel zeigt,
Da wirst du schwach im Fleische.
Du redest gar im lockern Reim,
Du faßt sie um das Mieder;
Und leitest du sie abends heim,
Singst du verbot'ne Lieder . . .«
Ach, alles das mag sein, mag sein –
Doch soll's euch auch verdrießen,
Ich trotz': Der Deutsche soll den Wein
Nicht auf die Erde gießen!

Wohl denn, ich lob's, wenn Nüchternheit
Bedächtig will beraten;
Doch seht, ein Rausch, vom Mut gefeit,
War Vater aller Taten;
Und wen wir heut mit Huldigung
Als tapfern Helden loben,
Der hat als Zecher, keck und jung,
Den Becher auch erhoben.
Der goß das goldne Labsal ein
Und sprach nach Vätersitten:
Ein Deutscher soll den edlen Wein
Nicht liederlich verschütten!

Diese Verse zitierte Ben gern. Er wußte auch zu berichten, daß der Dichter – wie alle wirklich bedeutenden Menschen – seine hier vorgetragene Lehre gelebt habe oder noch lebe. Und daß er das Leid um Tante Leonie, aus dem er schon drei Bücher gemacht hatte, allabendlich aufs neue durch den »Vater aller Taten« zu bekämpfen suche.

Ben aber trug Leid um Elsbeth Tomasius.

Die hübsche Blondine war seit einigen Wochen – teils um sich in der französischen Sprache zu vervollkommnen, teils um das notwendigste für den Haushalt zu erlernen, das ihr die selbst recht unpraktische Frau Malwine leider nicht beibringen konnte – von ihrem Vater für ein Jahr in eine Pension am Genfer See gebracht worden. Erst nach ihrer Abreise kam es Ben zu vollem Bewußtsein, daß das liebe, gutherzige Mädchen unbedingt zu seinem Leben gehöre. Ja, er hatte die naive Grausamkeit, Ruth Baddach von seiner Betrübnis zu sprechen.

Ruth Baddachs Augen wurden klein, als ob sie in eine weite Ferne sehe, als sie ruhig entgegnete: »Elsbeth ist ein schönes, ein deutsches Mädchen. Sie ist ganz dazu angetan, einen Frühling auszufüllen, aber kein ganzes Leben!«

Ben war anderer Ansicht. Er zürnte Ruth wegen dieses Ausspruchs und fand die Bücher, die sie ihm lieh, nicht mehr so interessant, wie früher.

Er verschaffte sich Bilder des Genfer Sees und einen Baedeker der französischen Schweiz, um wenigstens über die Wege, die ihr Fuß wandelte, orientiert zu sein, und über die Aussichten, die sie auf den Montblanc genoß. Und dann begrub er zweimal in der Woche sein junges Leid, »wie die Goten – ihren König Alarich« in der Stadt Athen. Und Fips, Tommy und Willibald, die persönlich nichts zu begraben hatten, schlossen sich gern als Trauergefolge an.

Eines schönen Herbstabends kam ich nach einer langweiligen Schwurgerichtssitzung, in der ich Protokoll hatte führen müssen, nach Hause.

Als ich, noch mit Überzählung der Meineide beschäftigt, die heute wohl geschworen worden waren, im Korridor meinen Mantel ablegte, hörte ich erregte Stimmen in der guten Stube. Die Mutter – Ben dazwischen – und dann eine dunkle Männerstimme, die mir für einen freundschaftlichen Besuch unerfreulich laut und heftig schien.

»Wer ist denn bei meiner Mutter –?«

»Ei, der Herr Rat Tomasius.«

»Was will er denn?«

Ich bereute diese Frage sofort. Denn ich sagte mir selbst, daß der Rat Tomasius unserem Bärbchen kaum den Zweck seines Besuches auseinandergesetzt hatte.

»Ei, ich glaub' als, sie duhe sich zanke.«

Ich überlegte einen Augenblick. Daß es gerade der Rat war – schien mir nicht angenehm. Aus Gründen. Und warum waren sie so erregt – beide, den Stimmen nach – die Mutter und der Rat? Aber Ben war zugegen – besonders Schlimmes konnt' es daher nicht sein, sonst hätten sie doch nicht gerade Ben . . .

Aber vielleicht brauchte die Mutter Unterstützung in diesem rätselhaften Disput – und dann: ich hatte eine gewisse herzklopfende Neugier, die mir sonst fremd ist.

Mit geheuchelter Unschuld – die sinnlos war, denn die Stimmen mußte ein Tauber auf dem Korridor vernehmen – trat ich ein.

»Ach, Verzeihung – ich wußte nicht.«

»Gut, daß Sie kommen,« sagte der Rat Tomasius. Aber sein Gesichtsausdruck war durchaus nicht so erfreut, wie es seine Worte vermuten ließen, als er ohne weitere Begrüßung zwei rasche Schritte auf mich zu machte. Er hatte einen feuerroten Kopf. Brille und Krawatte saßen schief.

»Ja, es ist ganz gut, daß du kommst,« nickte meine Mutter. Die war nun wieder recht blaß. Sie saß auf dem Sofa und hielt die Hände fest gefaltet im Schoß.

Ben stand am Trumeau und betrachtete den Abguß der Danneckerschen Ariadne, als ob er die Tochter des Minos hier zum ersten Male sehe und sich sehr verwundere, daß sie nackt auf einem Tiger reite.

»Wissen Sie, was Ihr Bruder getan hat?«

»Nein.« Ich sah zur Mutter. Die schwieg.

Auch Ben äußerte nichts und verwunderte sich weiter über die verlassene Braut des Dionys.

»Oder vielmehr, was er noch tut?« fragte der Rat.

Mir schien es richtiger, statt über Perfektum oder Präsens zu streiten, einmal von der Sache selbst zu reden.

Dazu war der Rat Tomasius aber jetzt offensichtlich entschlossen. Er trat dicht vor mich hin, und sein Hals schwoll im Zorn so sehr an, daß ihm der locker geschürzte Selbstbinder aufging. Ich wagte ihn nicht darauf aufmerksam zu machen, mußte aber immer hinsehen.

»Der junge Herr« – der Rat legte gereizte Ironie in seinen Ton – »schreibt heimlich Briefe! Verliebte Briefe! An meine Tochter in die Schweiz! Verstehen Sie?«

Ich verstand. Der Rat aber, mit der Gründlichkeit des Juristen, hatte seiner Tasche ein zerknittertes Blatt entnommen, mit dem er offenbar schon öfter so die Luft durch fuchtelt, wie eben jetzt. »Solche Briefe – in die Pension – meiner Tochter – nach der Schweiz!«

Da klang, ganz ruhig und fest, meiner Mutter Stimme vom Sofa:

»Sie vergessen nur, Herr Rat, daß Ihr Fräulein Tochter – ihm geantwortet hat.«

»Was denn!« schnaubte der Rat, »es ist ein junges Mädel!«

»Gewiß,« vom Sofa kam freundliche Bestätigung. »Sonst würde Ben wohl kaum an sie geschrieben haben – und sie nicht an ihn.«

Diese einfache Weisheit, ruhig, ja liebenswürdig vorgetragen, ließ den Rat einen Moment stutzen. Die Mutter, die ihren Sohn – ohne sein Handeln zu billigen – verteidigte, brachte ihn aus dem Konzept. Er ging in hastigen Schritten umher. Dann blieb er vor Ben stehen.

»Liebesbriefe – in die Schweiz!« Er legte auf die »Schweiz« einen drohenden Ton.

Mir fiel die Stelle aus dem »Tell« ein, da Parricida sagt: »Seh' ich die Reuß –? Sie floß bei meiner Tat!« Dann kam mir der Gedanke, daß es schließlich an der Ungehörigkeit der Sache nichts geändert hätte, wenn die Briefe nicht nach der Schweiz, sondern nach Schweden oder nach Kalifornien gegangen wären.

Aber der Rat schien das Ziel der Korrespondenz besonders belastend zu finden, denn er wiederholte zornig: »In die Schweiz!«

Und plötzlich zerriß er dicht vor Bens Augen den Brief.

»Das muß aufhören! Die Vorsteherin hat mir ganz entrüstet geschrieben: ob das die Moral sei in Deutschland?! Solche Briefe nach der Schweiz zu schreiben! Wenn ich gewußt hätte, daß das der Dank ist, als ich Sie zu unseren Waldspaziergängen aufforderte . . .!«

Bens Blick suchte unwillkürlich den Kompaß an der Uhrkette des Rats. Mir kam vor, er schluckte verdächtig; und seine Augen glänzten verschwommen.

Noch dichter trat der erzürnte Vater vor den unglücklichen Briefschreiber hin: »Was haben Sie – was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Bitte – was haben Sie sich dabei gedacht?«

Ben bekämpfte tapfer die aufsteigenden Tränen. Sein junges Leid würgte ihn. Ich dachte unwillkürlich an die Szene vor Jahren, als er, über die Bleisoldaten gebeugt, dem Schwager Fehde ansagte, der ihm die geliebte Schwester entführte.

»Ich habe mir gedacht –« langsam, Wort für Wort, wie Tropfen, die von einem verregneten Baume fallen, kam's von Bens leise zitternden Lippen; aber in seine Augen stieg ein leiser Trotz, als er so sprach: »Hab' mir gedacht – in fünf Jahren oder sieben – das hatten wir uns doch ausgerechnet – könnten wir heiraten.«

Der Rat lachte grimmig auf. Er schien diese Ansicht durchaus nicht zu teilen.

Aber Ben war nun einmal im Zuge und schien sich mutig zu seinen Ansichten bekennen zu wollen.

»Und dann – und dann –«

»Sprich dich nur aus, Ben,« ermunterte die Mutter gütig. Und ihre Augen streichelten den Sohn, der da vor ihr peinlich verhört wurde.

»Und dann – ich dachte mir's auch so schön, daß einmal zwei Brüder zwei Schwestern zu Frauen haben.«

»Was ist das?«

Es kann sein, daß diese erstaunte Frage vom Rat ausging, der gerade seinen heftigen Spaziergang unter dem Bild meiner Großmutter mütterlicherseits unterbrochen hatte. Die stammte aus Rothenburg an der Tauber und lächelte aus dem schönen glatten Bilde ganz so, als wüßte sie das, mit einem altmodischen deutschen Frauenlächeln aus weißer Halskrause auf den empörten Rat.

Es kann aber auch sein, daß die Frage von meiner Mutter gestellt wurde, die jetzt mit ganz runden Augen auf dem Sofa saß, vorn auf der Kante, sich mit beiden Händen an dem Polster festhaltend, als führe sie durch den Seesturm in einem sehr kleinen Nachen, der in Gefahr sei zu kentern.

Und es kann sein, daß diese Frage überhaupt nicht gestellt wurde, sondern daß wir sie nur dachten. Alle drei. Der Rat, die Mutter und ich.

»Zwei Brüder – zwei Schwestern –?« Das hatte aber jetzt bestimmt der Rat gefragt! Und er bohrte dabei den Blick in die gemalten lichtblauen Augen meiner Großmutter, als ob nur eine Dame aus Rothenburg an der Tauber dieses Rätsel lösen könne.

Ben war ruhig geworden. Er schien sich gar nicht mehr als Angeklagter zu fühlen, sondern nur sich selber Rechenschaft zu geben über seine durchaus vernünftigen und logischen Erwägungen, die zu der Korrespondenz nach dem Genfer See geführt hatten. Ein Briefwechsel, der leider, so schön und herzlich er ihm selber schien, der Madame Dutrepont und dem Rat Tomasius sehr mißfiel.

»Ich meine,« erläuterte er, und aus seinem Gesicht wich aller Trotz, »ich meine, weil doch Adolf die Käthe heiraten will, und – –«

Das weitere, das er meinte, weiß ich nicht mehr.

Wenn plötzlich dort auf dem Sofa meiner Mutter aus dem geöffneten Mund ein junger Lämmergeier geflogen wäre oder aus dem blanken Schädel des Rats eine fruchtreiche Dattelpalme in die Höhe geschossen wäre, mein Erstaunen hätte nicht größer sein können.

Obschon –

»Was ist das?« Jetzt war's aber wirklich wieder der Rat Tomasius gewesen, der das gefragt hatte. Und er wandte dabei den Blick von meiner Großmutter aus Rothenburg ab und widmete seine ganze, nicht gerade freundliche Aufmerksamkeit mir.

»So rede doch, Adi –« ermahnte die Mutter, die sich von ihrem Staunen erholt hatte und wieder etwas zuversichtlicher in ihrem Nachen saß. »Was der Ben da sagt – ist das denn –«

»Ja, also –« Eine seltsame Feierlichkeit kam über mich und – das verdankte ich vielleicht meinem Bruder Ben, der mich harmlos und zuversichtlich anlächelte – eine wunderlich sichere Ruhe. Ich sah Käthes liebes, ein bißchen verlegenes Gesichtchen, während ich redete, dicht vor mir, und ich weiß genau, daß ich dachte: die gerade Nase hat sie von ihrem Vater, dem Rat, sonst aber, gottlob, hat sie mehr von der Mutter. »Ja also, Herr Rat, liebe Mutter – ich wollte es eigentlich – oder vielmehr, wir wollten das eigentlich erst, wenn ich den Assessor gebaut hätte, bekanntgeben . . .«

»Was heißt: bekanntgeben?« schnaubte der Rat. Nicht daß er, außer dem juristischen, kein Deutsch mehr verstand – und das Juristische ist ja eigentlich kein Deutsch. Er schien vielmehr Anstoß an dem von mir gewählten Ausdruck zu nehmen.

Mein Gefühl sprach ihm die Berechtigung zu. Und ich verbesserte mich: »Ich hatte allerdings vor, Sie, verehrter Herr Rat, und Ihre verehrte Frau Gemahlin –«

»Nun?«

Ja, wenn er's jetzt noch nicht versteht, dachte ich, und weiter: es wäre Zeit, daß er sich die Krawatte wieder bindet. Aber ich fuhr korrekt und doch mit Wärme fort und immer noch mit jener unbeirrten Sicherheit, die mir aus Bens ermunterndem Lächeln zu kommen schien: »– habe vor, Sie recht herzlich um die Hand Ihrer Tochter Käthe zu bitten. Wir lieben uns.«

Auf diese Weise verlobte ich mich, ganz plötzlich und programmwidrig, in einer seltsamen Stunde zu meiner eigenen Überraschung mit der gar nicht anwesenden Käthe Tomasius.

Oder eigentlich: Ben verlobte uns.

Er hat sich das auch immer zum Verdienst angerechnet. Denn meine ein Jahr später geschlossene Ehe mit Käthe Tomasius ist glücklich geworden und ist's geblieben bis heute. So glücklich, daß von ihr hier nicht weiter die Rede sein soll. Denn glückliche Ehen sind nun einmal für alle anderen, die sie nicht selbst führen, sehr langweilig.

Nur das will ich noch von diesem wunderlichen Tage sagen.

Als ich später hinaufging in Bens Zimmer unter dem Vorwand, ihn nach meinen besten Besuchshandschuhen zu fragen, in Wahrheit, um einmal nachzusehen, wie er dieser bösen Stunden Erschütterung überstand – fand ich ihn vor einem Heft sitzend. Ganz still. Er hatte geweint.

»Was machst du denn, Ben?«

»Ich arbeite.«

»Das ist recht. Arbeit ist immer das beste, wenn –« Ich wollte großartig sagen: wenn man Herzschmerzen hat. Aber ich stockte, denn ich wußte im Augenblick gar nicht, wie das tut. Ich hatt' es wahrhaftig vergessen, und der Satz wäre mir dumm und verlogen vorgekommen.

Deshalb legte ich nur meine Hand auf sein krauses, braunes Haar und fragte anteilnehmend:

»Lateinisches Domestikum?«

»Nein. Deutscher Aufsatz.«

»Schwieriges Thema?«

»Och – über die Schlacht bei Kunersdorf.«

Ich beugte mich ein wenig und las über seine Achsel dieses Schlachtberichtes ersten Satz, über den er noch nicht hinausgekommen war: »Der zwölfte August war auch für Friedrich den Großen ein Unglückstag . . .«

»Wieso – auch?«

»Aber heut' ist doch der zwölfte August . . .«

In Bens Augen, die den Wandkalender suchten, schwamm es feucht. Ich wußte, es war nicht der Sieg der Russen über den großen König, der ihn so schmerzte.

»Hilf mir, Adi!«

»Bei der Schlacht bei Kunersdorf? Ich weiß nur noch – man vergißt leider so viel –, weiß nur noch, daß in dieser Schlacht eine Kugel den König traf, die sich an seiner goldenen Tabakdose plattdrückte.«

»Ja« – Ben stierte vor sich hin, »es geht schließlich nicht alles so schlecht aus, wie's manchmal scheinen will.«

»Sehr richtig, Ben! Kopf hoch! Lern's vom alten Fritzen. Auf Kunersdorf folgt Torgau und – Leuthen!«

Und mit plötzlichem Entschluß das historisch-symbolische Gespräch abbrechend, griff ich in die rechte Westentasche und entnahm ihr mein flaches silbernes Zigarettenetui.

»Das schenk' ich dir, Ben.«

»Mir?« in seine Augen kam ein froher Glanz, »ja – warum denn?«

»Zur Erinnerung an die Schlacht bei Kunersdorf – und die Tabaksdose des großen Königs.«

Man ist freigebig, wenn man glücklich verliebt ist. Denn man behält ja im Schenken so viel, so viel.

Ben war aufgestanden. Das Glück über das kleine Geschenk und der Schmerz über den großen Verlust kämpften sichtlich in seinem jungen Herzen. Sein zuckender Mund, der sprechen wollte und nicht konnte, war ein Spiegel seiner süß schmerzenden Zerrissenheit.

Da zog ich seinen hübschen, frischen Jungenkopf fest, ganz fest an meine Brust und sagte:

»Und danken wollt' ich dir auch noch, Ben.«


 << zurück weiter >>