Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Als ich drei Tage später mit meinem Köfferchen vom »Ritter« her an die Bahn fuhr, standen Ben und Ev' bereits da und warteten.

Ben war in hohen Stiefeln und Reitrock.

»Nanu – Reitgelegenheit hast du auch hier?«

»Ich reite mit Ruth Baddach ein bißchen nach Neckargemünd. Es sind die Pferde ihres Onkels.« Er sagte das hastig, als ob er die Erklärung rasch hinter sich haben wollte.

»Ich denke, du hast nachher Kolleg?«

Ben hatte den Fuß auf meinen Koffer gestellt und schnürte an dem linken Sporn herum.

Ev' antwortete für ihn: »Er hat erst zweimal gefehlt. Das macht nicht viel. Der Morgen ist so schön; und er reitet doch so gern. Es ist ihm auch so gesund, und er kommt sonst ganz aus der Übung.«

Es war mir, als ob sie sich selber all die Gründe zum Trost sagte, aber sie lächelte dabei lieb wie immer.

»Sie sollten mitreiten, Ev',« sagte ich mit etwas gezwungenem Scherz.

Sie tat, als ob ich's ernst meinte. »Grad' heute könnt' ich's gar nicht – wenn ich könnte. Dienstags, Mittwochs und Freitags helf' ich dem Vater. Der hat einen großen Auftrag. Schon seit Monaten. Für eine erste Mannheimer Blumenfirma. Die bezieht ihre handgearbeiteten Körbe nur von ihm. Das ist eine sehr hübsche Fasson, die er erfunden hat, die großen Anklang findet beim Mannheimer Publikum. Hier in Heidelberg haben die Leute nicht so viel Geschmack; hier hat er noch keine drei davon verkauft. Ich muß dann immer durch die geflochtenen Ränder und um die Henkel die bunten Bänder knüpfen. Das kann er selbst nicht mehr so.«

Eine leise Wehmut beschlich mich. Wie glücklich war das Kind, einmal die bescheidene Kunstfertigkeit des Vaters rühmen zu dürfen; wie stolz war sie darauf, ein wenig Anteil zu haben an seiner Arbeit, seinem Verdienst. Ich aber hörte die kühle Stimme einer anderen vom Philosophenweg her: »So dreißig bis vierzig Dutzend von den Körben können Sie auf irgendeinem Speicher in Mannheim finden.«

Wenn sie gewußt, wenn sie geahnt hätte, die kleine, blonde Ev'!

Ich nahm Bens Arm und ging eingehakt mit ihm auf und ab, während Ev' mir noch ein paar Morgenzeitungen zur Reiselektüre holen wollte. Ich versuchte noch einmal einige Klarheit über seine Zukunftspläne zu gewinnen. Aber er hielt nicht stand.

»Ich mache meinen Doktor, Adi – nachher sehen wir halt weiter. Mein Leben ist ja kein Kurierzug. Ich verhungere ja auch nicht –«

»Gewiß nicht. Aber ich habe manchmal Angst, Ben, daß gerade deine Unabhängigkeit dich früher oder später in Abhängigkeiten bringen könnte, die . . .«

Ich gebe zu, ich war nicht sehr klar in meinen Befürchtungen und konnte es nicht sein. Und er hatte eine leichte Art, alles, was ihm nicht angenehm war, spielerisch ins Lustige, Phantastische zu wenden.

»Beruhige dein brüderliches Herz, Adi – und zu Hause das mütterliche. Ich werde mich weder auf das Perpetuum mobile stürzen noch auf die ebenso aussichtsreiche Quadratur des Kreises. Ich werde keine fliegende Lokomotive zu erfinden suchen, werde keine wissenschaftliche Expedition mit Willibald von Gollwitz an der Spitze ausrüsten, um an den Quellen des Ho-ang-ho Forellen zu fangen; werde für Fipsens berühmte Sekundanertragödie – er hat einen bluttriefenden »Attila« geschrieben – kein Festspielhaus in der Lüneburger Heide erbauen. Werde auch keine Teresinas für die Skala ausbilden lassen; nicht einmal Ev', die übrigens wirklich eine süße Stimme hat, findest du nicht?«

»Eine allerliebste Naturstimme. Überhaupt, Ben, das Mädel ist ein Prachtkerl – zerbrich sie nicht!«

»Aber, Adi, wo denkst du hin . . . Aber siehst du« – es war etwas merkwürdig Nachdenkliches, Referierendes in seinem Ton – »siehst du, das freut mich, freut mich wirklich, daß sie auf alle so wirkt. Man denkt sonst in ruhigen Momenten manchmal: »Jedem Narr'n gefällt seine Kapp' –« Aber die Ev' . . . denk dir, sogar Ruth, die doch so kritisch ist, findet sie allerliebst.«

»Ruth –? Ja, hast du denn mit der . . .?«

»Gestern, als wir den Ritt verabredeten – wir trafen uns zufällig, als ich zum Kolleg ging – da sprach sie auch von »Willibalds hübscher Base«. Du, sie weiß ja ganz gut – ist ja viel zu schlau! Und da sagte sie: »Als Kopfleiste für ein flottes Lebenskapitelchen »Heidelberg« könnte ein Zeichner kein passenderes Köpfchen finden.« Darauf ich: Das werd' ich Willibald sagen, er malt ja selbst ein bißchen.«

»Hat sie darauf noch etwas –«

»Ja. Sie hat zugestimmt. »Sag ihm das. Aber er soll das Köpfchen nur für das eine Kapitel verwenden. Für andere wär's ein gefährlicher Stilfehler. Und in der Wiederholung wirkt's langweilig.«

In diesem Augenblick brachte Ev' die Zeitungen, und Ben, der seinen freisinnigen Tag hatte – er wechselte die Parteien oft – schimpfte auf den Reichstag und empfahl uns eine ausgezeichnete Rede Eugen Richters zur Lektüre.

Im letzten Augenblick, ehe der Zug abfuhr, erschienen atemlos Fips und Willibald. Der eine trug einen gewaltigen Strauß, lauter langstielige Lilien und Gräser in ulkiger Absichtlichkeit zu einem schwer transportablen Riesenbukett gebunden. Eine lange feuerrote Schleife war daran, auf der zu lesen war: »Die Triumvirn, dem Bruder des edlen Crassus, tiefbewegt zum Abschied.« Fips aber legte mir mit wichtiger Miene, grad' als ich, vom Schaffner gedrängt, in das volle Coupé einsteigen wollte, eine umfangreiche Tüte, die sich kühl und hart anfühlte, in den anderen Arm.

»Vorsicht,« mahnte er. Und auch Ben und Willibald riefen ängstlich: »Vorsicht!«

»Ja, wieso denn –? Was ist denn darin?«

»Achtgeben, nur nicht drücken! . . . Du fährst doch zwei Stunden, da könnte dich der Hunger überfallen. Könnte dich schwächen, umbringen. Wir hatten keine Zeit mehr, was zu backen. Da haben wir dir für unterwegs rasch dreißig rohe Eier eingepackt.«

»Ihr seid doch . . .!«

Neben dem schon langsam fahrenden Zug schritten sie her, Ben sporenklingend voran, Willibald und Fips lachend, eingehakt. Und nach lieber alter Heidelberger Sitte sangen sie, während ich, zwischen Riesenstrauß und Eiertüte, wohl etwas ängstlich, aus dem Fenster sah, die Hüte zum Gruße weit vom Kopf schwingend, unbekümmert um das Leben auf dem Bahnsteig und die anderen Passagiere: »Alt Heidelberg – du Feine – du Stadt an Ehren reich.«

Ev' war an einem gelben Postkarren stehen geblieben. Mit der linken Hand, an der der Ring mit dem kleinen Rubinkreuz sah, hielt sie ihren breiten Hut mit den rosafarbenen Möwenflügelchen darauf fest gegen den Wind. Mit der anderen Hand winkte sie den Abschied. Wie ein kleiner zuckender Vogel lag ihre Hand in der Luft. Ihre Wangen waren gerötet. In ihren Augen schimmerte es etwas feucht. Der Wind legte ihrem schönen jungen Körper ganz fest das Sommerkleid an. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und funkelte golden über die Stirne.

So ist sie mir lang, lang in Erinnerung geblieben. Winkend, den Hut haltend, mit roten Wangen und feuchten blauen Äuglein, die herrlichen jungen Formen vom Sommerwind zärtlich betont.

Ist mir in Erinnerung geblieben als ein Stückchen Menschheitsfrühlings, junger Liebe, badischen Landes.

Ich habe Jahre, Jahre lang nie an Heidelberg gedacht, habe nicht das Schloß, nicht Scheffel, nicht den Neckar nennen hören, ohne so ihr liebes Bild zu sehen.

Bis sie mir viel, viel später wieder, ganz anders, im Süden entgegenkam.


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