Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Siebentes Kapitel

Die Briefe, die mir Ben in meine Studentenjahre erst nach Freiburg, dann nach Berlin schrieb, spiegelten getreulich alle Hoffnungen und Pläne, Kämpfe und Enttäuschungen seiner flackernden Jünglingsseele.

Zweimal wöchentlich kamen sie, kosteten recht häufig Strafporto, da er sehr ausführlich war und es liebte, »Einlagen« zu machen, die mich nach seiner Ansicht interessieren mußten. Das waren dann meist Todesanzeigen, Beilagen zum »Intelligenzblatt«, auf deren weiße Rückseite er sein persönliches Urteil über die Verblichenen angemerkt, und Verlobungs- oder Geburtsanzeigen aus Familien, die uns bekannt oder benachbart waren. Aber auch Seiten aus einem deutschen Aufsatz legte er zuweilen bei, an dessen Rand er die roten Korrekturen des Lehrers seinerseits mit blauer Tinte nochmals »korrigiert« und zuweilen mit nicht eben schmeichelhaften Anmerkungen versehen hatte. Und was ich schon aus seinen Briefen wußte, das bestätigten mir diese gesandten Aufsatzproben: auf den noch kindlich schmalen Schultern des rasch und schlank in die Höhe wachsenden Ben saß ein unruhiges, originelles Köpfchen. Und die offenen Augen in diesem Kopf sahen schon Welt und Menschen auf ihre Weise.

Ich hab' mir all die Episteln aufgehoben und bin heute herzlich froh, daß ich sie habe. Ich hör' ihn wieder schwatzen daraus und lachen, sein frohes Jugendlachen, und sehe auch schon angedeutet die nachdenkliche Falte, die später oft, wenn er in seinem gütigen, leichtsinnigen Herzen die anderen in ihrer Feierlichkeit oder ihren dunklen Leidenschaften nicht begriff, zwischen seinen großen blauen Augen sich steil über die gerade Nase legte.

Ich greif' ein Beispiel seiner Korrespondenz heraus, das mir in all seinen wunderlichen Sprüngen und willkürlichen Abschweifungen so recht ein Zeugnis seiner Art scheint.

Also schrieb mir der Dreizehnjährige an einem Junitag; und ich erinnere mich heute noch mit Behagen, wie ich den Brief auf dem Freiburger Schloßberg in der Dattlerschen Weinwirtschaft, ein Viertel goldgelben Markgräfler vor mir, das alte Münster zu Füßen, an einem wolkenlosen Vormittag, der nirgends so schön ist, wie im lieben Badener Land, lächelnd gelesen und wieder gelesen habe:

»Gestern stand die Schlacht bei Fehrbellin im Kalender. Papa hat mir aus Heinrich von Kleist vorgelesen – kennst Du ihn? Du mußt ihn nicht verwechseln mit Ewald von Kleist. Der hat Idyllen gemacht und so was. Sehr langweilig. Papa findet's schön, aber weißt Du, ich glaube, er sagt's nur so, weil der bei Kunersdorf gefallen ist. Dulce et decorum est pro patria mori, haben wir gestern beim Professor Kunkel übersetzt. Aber der wird sich hüten, so was selber zu machen! Er übersetzt's bloß ins Lateinische. Denk Dir, immer bei den Sedanfesten ist er plötzlich krank. Die Primaner sagen, er ärgert sich, weil dann der Professor Wendelin in Uniform kommt mit einem Orden, das kann er nicht leiden. Der Kurt hat neulich auch einen Orden bekommen. Die Mathilde schrieb's der Mutter. Aber Tante Tüßchen sagt, da braucht er nicht stolz darauf zu sein, denn er ist nur auf dem Bahnhof gewesen, als der Fürst von Bolynien ankam. Der reist übrigens mit einer Dame, die gar nicht seine Frau ist, sagt Tommy Schupp. Der weiß all das; denn sein Vater verkauft dem Fürsten immer Wein. Aber sein Hauptgeschäft sind, glaub' ich, seine Hunde. Er züchtet jetzt nur noch Foxterriers, so stachelhaarige, weißt Du; und die haben einen ganz richtigen Stammbaum, furchtbar komisch. Und oben ist ihr Bild drauf. Und sind schrecklich teuer. Der Tommy sagt, sein Vater ist furchtbar reich. Denn er verkauft allen Leuten, die was vom Wein verstehn, Hunde; und allen Leuten, die was von Hunden verstehn, verkauft er Wein. Aus dem »Prinzen von Homburg« hat mir der Papa vorgelesen. Wie findest Du den großen Kurfürst? Groß mag er gewesen sein, aber er ist ein Dickkopf. Aber wenn einer die Macht hat und ist ein Dickkopf, nachher ist er ein großer Mann. Wenn er bloß ein einfacher Bürger wäre und so ein Dickkopf, dann möcht' ich sehen, was geschieht, und wie er nachher hieße in den Geschichtsbüchern. Aber da kommt er gar nicht 'rein. Der Kottwitz ist fein, der läßt sich nicht einschüchtern. Ich meine bloß, so in den Theaterstücken ist es ganz schön, aber ob einer wirklich dem Großen Kurfürsten so die Meinung gesagt hat? Es wird doch furchtbar gelogen in der Dichterei, nicht? Denn wie's wirklich ist, das gibt doch nie ein Gedicht. Genau, wie sich's nie hinten reimt, wenn die Leute auf der Straße miteinander reden. Oder wenn sich's doch mal reimt, klingt's dumm. Der Pfarrer Knospe hat jetzt auch Gedichte herausgegeben. Tante Tüßchen sagt, seine Frau hat's bezahlt. Ich hab' Papa gefragt, wie er sie findet. Er sagt, sie sind sehr schön eingebunden und der Pfarrer ist ein guter Mann. Und heute, wo Rubens im Kalender steht, weil er da geboren ist – 1577! –, hat er mir Bilder von ihm gezeigt. Die Frauen sind alle so dick. Magst Du das? Aber vielleicht wollt' er, daß man gleich sieht, daß es Frauen sind. Bei Onkel Honnefs – ich soll ihn jetzt »Onkel« nennen, sagt er – hab' ich andere Bilder gesehen, so von Malern, die noch leben. Da sind die Frauen alle ganz dünn und haben Beine wie der Direktor Tycheles. Dem gucken immer noch hinten die Schäfte von den Zugstiefeln heraus. Fips Tomasius sagt, elegante Leute tragen nie Zugstiefel, und der Fürst Pückler-Moskau (oder Muskau, ich weiß nicht recht) hätte nie Zugstiefel getragen. Der Fips Tomasius hat jetzt eine Krawattensammlung. Er hat schon siebzehn Stück. Aber fünf davon sind eigentlich Schlipse von seinen Schwestern, die hat er ihnen gestohlen. Oder eigentlich: er macht einen Kaffeeflecken drauf, dann wollen die Käthe und die Elsbeth die Schlipse nicht mehr anziehen, und dann nimmt er sie sich. Sonntags trägt er jetzt Handschuhe. Die riechen schrecklich nach Benzin. Aber das macht nichts, sagt er, der Kaiser Napoleon habe in Wilhelmshöhe auch gewaschene Handschuhe getragen. Was sagst Du, daß dem sein Sohn gefallen ist? Gegen die Zulus. Das ist doch eklig für einen Kaisersohn, so bei einer Prügelei mit Kaffern ums Leben kommen. Papa liest jetzt »Die Ahnen« von Freytag. Er heißt Gustav mit Vornamen und ist ein Bekannter von Onkel Ammann, denk' Dir. Aber der Onkel Ammann liest seine Bücher nicht. Das ist alles doch nicht wahr, sagt er; denn so weit zurück kann kein Mensch wissen, was gewesen ist. Aber die Tante Leonie hat neulich, wie er das letztemal hier war, einen Disput mit ihm gehabt. Und sie ist sehr heftig geworden und hat gesagt: die Dichter wissen immer genau, wie's gewesen ist. Das ist eine besondere Gabe, daß sie das wissen. Deshalb sind sie Dichter. Und wenn es nicht so war, wie die Dichter das machen, dann hätt' es so sein müssen. Und da hat der Onkel Ammann gesagt: ob sie denn glaube, daß die Dichter der liebe Gott sind? Und denk Dir, da hat sie gesagt: ja, das glaubt sie allerdings. Denn was aus den Dichtern herauswill – sie hat das schöner gesagt, aber ich weiß es nicht mehr so, denn Elsbeth Tomasius war dabei und hat immer gelacht und hat mir ans Schienbein getreten –, das ist eben der liebe Gott. Und das war schon bei Homer so, der an viele Götter geglaubt hat. Da hat der Onkel Ammann gesagt, er glaubt, der Homer hat an gar nichts geglaubt, sondern er hat bloß den andern die Götter gemacht, damit die Leute glauben sollen, er weiß mehr, wie sie. Und die meiste Dichterei ist eine große Windbeutelei, hat er gesagt, und eine Wichtigmacherei. Da ist die Tante fuchsteufelswild geworden und hat eine lange englische Sache zitiert, in Versen, von einem Lord, der ist sehr schön gewesen, sagt sie, und hat gehinkt. Und wie sie fertig war, hat der Onkel Ammann gesagt, er hat sein Englisch vergessen und er will jetzt in Ruhe Kaffee trinken. Am Abend hat dann die Tante Leonie schrecklich viel Klavier gespielt und viel wilder, als sonst. Und die Tante Emma hat bei ihr am Klavier gesessen und hat leise in sie hinein geredet und hat sie beruhigen wollen. Das ist jetzt oft schwer. Und der Doktor Schilling ist alle paar Wochen ein paarmal da und schüttelt den Kopf. Er verschreibt der Tante Leonie gar kein Rizinus, was er doch sonst immer verschreibt, und hat mit dem Papa neulich eine ganze Stunde allein gesprochen. Dann hat der Papa die Mama ins Zimmer gerufen, und die hat geweint. Das hab' ich selbst gehört. Die Mathilde hat einen Hofball mitgemacht, und sie hat sich in dem Kleid photographieren lassen. Tante Tüßchen sagt, es ist unanständig, weil oben so wenig Stoff dran ist. Aber da find' ich die Frauen von Rubens viel unanständiger. Mathilde ist auch lang nicht so dick. Und all die Unanständigkeit, die jetzt an den Höfen ist, sagt Tante Tüßchen, kommt bloß von Preußen. Und sie hat gehört, der Fackeltanz ist auch unanständig. Die Mama wollte dieses Jahr wieder nach Baireuth, weil's ihr doch bei der Eröffnung so großartig gefallen hat. Aber dann ist's ihr doch wieder zu teuer gewesen, und sie sagt, sie will sich lieber ein neues Eßservice für täglich kaufen. Unser altes mit dem Zwiebelmuster ist schon recht kaputt. Denn die Sophie hat doch geheiratet, und das neue Bärbchen ist aus Schwanheim, eine Nichte von der Frau Meincke, unserer Nähterin, Du weißt, und schlägt viel zusammen. Papa sagt, sie ist so dumm, daß sie nachts nicht einschlafen kann. Aber am Tage schläft sie oft in der Küche. Dann kann die Mutter sich tot schellen. Frau Morgenthau hat's gleich gesagt, daß sie nichts taugt. Aber Mama sagt, man muß Geduld haben, und sie hat sie mit uns Kindern auch gehabt. Jetzt ist auf der Bockenheimer Gasse eine »Griechische Weinstube«, die heißt »Zur Stadt Athen«. Die Primaner gehen da manchmal heimlich hin, aber die Magister sind dahinter gekommen; und es hat einen großen Krach gegeben. Alle Weine heißen da nach griechischen Helden: »Achilles«, »Odysseus«, »Nestor« und so. Und schmecken fein nach Rosinen, sagt der Fips Tomasius. Jetzt sind hier Abbildungen zu sehen von dem, was der Professor Schliemann in Troja ausgegraben hat. Es ist alles furchtbar kaputt. Aber auf manchen Scherben kann man noch was lesen. Da will der Professor Kunkel ein Buch drüber schreiben. Und der Fips Tomasius hat dem Tommy Schupp weisgemacht, sie hätten auch den Nachttopf des Königs Priamus unter einem goldenen Bett gefunden. Aber wie er ihm dann erzählt hat, auf dem Topf wär' eine Inschrift gewesen: »König Priamus seinem lieben Direktor Tycheles zur freundlichen Erinnerung«, da hat ihm der Tommy Schupp eine heruntergehauen. Und dann haben sie beide eine Stunde Arrest bekommen, weil das in der Geographiestunde gewesen ist. So viel Blumen, wie dieses Jahr, hat Papa noch nie bekommen, sagt die Mutter. Alle Gläser auf dem »Altärchen« stehen immer voll. Der Erwin Schuster aber hat neulich bei seinem Jubiläum noch mehr bekommen. Er hat den Wallenstein gespielt. Den kann er. Neues lernt er nicht mehr gut, sagt Papa, aber das Alte kann er ganz großartig. Aber heute abend spielt er den König Lear. Das ist eine ganz große Rolle, weil das Stück fünf Akte hat. Und er hat erst Angst gehabt und wollte nicht. Aber der Theaterdirektor, den wir jetzt haben, das ist ein ganz feiner, der geht immer in Handschuhen, und alle Dichter hier lieben ihn sehr, denn er will alle aufführen, aber angefangen damit hat er noch nicht; der sagt, der König Lear ist schon im zweiten Akt verrückt, und da kann dann der Erwin Schuster auf der Bühne sagen, was er will. Sonntags geh' ich jetzt immer mit dem Rat Tomasius spazieren. Da ist die Elsbeth mit und die Ruth Baddach. Aufs Forsthaus, auf die Schweinstiege und nach Isenburg sind wir schon gegangen und oft tief in den Wald 'rein. Aber der Rat Tomasius fragt nie einen nach dem Weg, und eine Karte nimmt er auch nicht mit. Er geht immer nur nach seinem Kompaß. Der muß verrostet sein oder die Nadel bleibt wo hängen. Denn wir kommen meist wo ganz anders 'raus, als wir hingewollt haben. Aber das ist einerlei, denn Du weißt ja, um Frankfurt ist's überall so schön. Und neulich, wo ein Platzregen kam, gerade als wir rasch nach Sachsenhausen zurück wollten und in Wirklichkeit auf Sprendlingen zugelaufen sind, da sind wir drei, die Elsbeth Tomasius und die Ruth Baddach und ich, zusammen unter einem Schirm gegangen, ganz dicht, das war furchtbar lustig. Und das ist doch was anderes, ob man mit Mädels unter einem Schirm geht oder mit dem Fips Tomasius und dem Tommy Schupp. Man spürt nicht so viel Knochen, und ich find', die Mädels riechen auch besser. Findest Du nicht? Sie lachen auch ganz anders, nicht so laut und so ruppig. Und die Ruth Baddach ist viel klüger als der Fips Tomasius, der ist bloß frech. Aber vielleicht kommt das auch daher, weil sie eine Jüdin ist. Papa sagt, seine besten Schülerinnen sind auch fast alle Jüdinnen, und das tut ihm oft leid. Das ist wie bei uns in der Klasse; nur im Turnen und Singen sind die Christen die besten, aber das hilft nichts gegen 's Sitzenbleiben. Aber die Ruth ist getauft; und sie sagt, sie heiratet mal nur einen Christen. Ihr Vater hat Geld genug dazu, sagt sie, und dann werden die Kinder blond. Aber Tommy Schupp sagt, in der folgenden Generation kann's dann wieder anders werden. Das weiß er von den Foxterriers. Und jetzt leb wohl, lieber Bruder! Die Eltern lassen grüßen und Du sollst nicht so viel Geld brauchen. Die gewaschenen Taschentücher schickt Dir die Mutter, aber es fehlen zwei. Wo die denn wären? Und Du sollst die neuen Hemden schonen und nur tragen, wenn Du zu den Professoren eingeladen bist. Da gibt's wohl viel Weisheit und wenig zu essen? Oder nicht? Laß es Dir gut gehen und »wandle in Zucht und Fröhlichkeit«, wie der Pastor Knospe immer sagt. Si tu et Fräulein Schäffer (so heißt doch Deine Wirtin?) valetis, bene est, ego valeo. Sei nicht so faul und schreib mal und behalte lieb Deinen sich jetzt ins lateinische Domestikum stürzenden, Dich herzlich liebenden Bruder

Ben.«


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