Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einunddreißigstes Kapitel

Peter Pütz riß plötzlich die Tür am Korridor auf und ließ mit einer respektvollen Verbeugung, die im Buche des Prinzen Reuß wohl nur für Mitglieder regierender Häuser vorgesehen war, den vom raschen Gang leicht erhitzten Ben an sich vorbei. Hierzu hatte sich Peter Pütz weiße Baumwollhandschuhe angezogen und war, nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, außerordentlich zufrieden mit sich und seiner nach hohen Anweisungen geregelten Pflichterfüllung.

Bens Ausdruck war weniger glücklich.

Als wir allein waren, kam er mit einer Herzlichkeit auf mich zu, in der, so schien's mir, etwas wie versteckte Angst lag.

»Laß dich anschauen, Ben! Ganz braun bist du geworden –«

»Mein Gott, ja – Sonne hat mir genug auf den Schädel gebrannt. Man meint manchmal, es wär' da im Osten eine ganz andere Sonne – sie kann lästig werden, angriffslustig, feindlich.«

»Aber unter dieser östlichen Sonne bist du auch, darf man das sagen: männlicher geworden, Ben! Die kleinen Bartleisten an den Backen hast du wohl dem Theodor Körner abgeguckt? Ober läßt du sie zu Ehren deiner Biedermeiermöbel stehen?«

Ben überhörte das alles. Er schien nicht sehr auf Humor gestimmt und von Angelegenheiten reden zu wollen, die ihn ganz erfüllten.

»Zunächst sei nicht bös, Adi, daß ich dich warten ließ. Aber ich muß eben die Stunden wahrnehmen. Ich habe mich hier gleich in Arbeiten gestürzt, um . . .«

»In Arbeiten? In was für Arbeiten?«

»Nachher davon. Also du weißt, Adi, meine Reise hat in Konstantinopel, in dem ich nach meiner Rückkehr aus Kleinasien nochmals zwei Wochen war, nicht geendigt. Auch nicht in Athen, das mir in recht übler Erinnerung ist. Auf der Fahrt nach Eleusis am ersten Tag hab' ich mir den Leib erkältet . . . Erlaß mir das zu schildern, was es heißt, sich im modernen Hellas den Leib erkälten! Die geharzten Weine und das Olivenöl, mit dem statt der Butter gekocht wird, tun das übrige. Die Weltflucht, zu der einen das Leiden zwingt, macht den frömmsten Humanisten zum Tempelschänder. Man flüchtet in geborstene Heiligtümer und genießt Blicke auf den Golf von Salamis aus höchst unerwünschten Situationen. Eine Diät ist unmöglich. Im Hotel wurde ich in meinem hilflosen Zustand elend geneppt. Auf der Akropolis lief ich dem alten Leobschützer aus Offenbach in die Arme, der mit einer üppigen Korfiotin griechische Studien trieb. Ich bin zu Schiff von Piräus nach Triest geflüchtet, von Triest nach Venedig. Die ersten Menschen, die ich auf dem Markusplatz treffe, sind der Erbprinz und Herr von Birkhuhn. Diesmal Wienerinnen im Gefolge! Die Hoheit war sehr gnädig und hat sich für meine Reise interessiert. Ich habe gesagt, der Sultan läßt grüßen, und bin am selben Abend mit dem Nachtzug nach den oberitalienischen Seen gereist. In Lugano hab' ich Ruhe gefunden und bin gesund geworden. Die himmlische Schönheit dieses Sees wirkt nach der verwirrenden Märchenbuntheit von Stambul und Galata, nach der anspruchsvollen Romantik der Dogenstadt, nach der Fahrt die kahle, zerklüftete Küste von Epirus entlang, wie die lieblichste Ruhe. Nirgends anders hab' ich die beliebten Bilder der Poeten so als wahr empfunden: der Wind streichelt – die Sonne küßt . . . Nach der grellen Janitscharenmusik ein sanftes Mandolinenlied. Der Schmutz des Orients weicht der Sauberkeit der Schweiz. Die langweiligen Ölbäume, die ewig staubigen, fehlen; Pinien und Zypressen sind seltener – aber Oleander, Taxus, wilder Lorbeer und Rosen, Rosen, Rosen! Kreuz und quer hab' ich den See durchfahren. Herrliche Fußwanderungen hab' ich gemacht. Eines Tages bin ich von Lugano über Magliaso durch wundervollen Wald nach Badigliora hinaufgeschlendert. In einem sanft ansteigenden Naturpark hab' ich auf einer Bank gesessen, ganz allein, und über See und Berge hingeträumt. Da auf einmal – es war wie ein Blitz, der die Seele erleuchtet und in Flammen setzt zugleich – hab' ich's gefühlt und gewußt: du mußt Ev' kommen lassen! Hierher, an den See dort mußt du sie kommen lassen! Du bist in ihrer Schuld. Du dankst ihr den schönsten, reichsten Sommer deines Lebens. Du mußt ihr diesen Blick schenken, dies Erlebnis, diesen See und die Berge und – und dich selbst.«

»Ist sie gekommen?«

»Nein. Ich schrieb noch am Abend einen Eilbrief. Schrieb alles hinein, was ich empfand. Bekannte ganz ehrlich, wie's mir nach unserer Trennung – die sie gewollt hat, denn ich wäre bereit gewesen . . .«

»Ich weiß. Also was schriebst du?«

»Schrieb, wie's mir nach unserer Trennung erst schwer, so schwer, dann allmählich leichter gefallen, sie zu entbehren, ihr Lachen, ihre Anteilnahme, ihr Fragen, ihren Kuß. Damals – du weißt das nicht – damals ist mir Ruths Freundschaft viel gewesen. Ruth ist überhaupt ein fabelhaft verständiger Mensch. Dafür macht ihr Vater jetzt die Dummheiten. Sie hätte ein Mann werden sollen, mit ihr zu reisen, müßte wahrhaftig eine Freude sein.«

»Hast du das Ev' auch geschrieben?«

»Aber nein. Der Brief war überhaupt nicht lang. Und doch der erste seit vielen, vielen Monaten. Anderthalb Jahre hatten wir nichts voneinander gehört. Nichts. Das war so ausgemacht. »Jetzt gehst du fort,« hatte sie zuletzt zu mir gesagt, »ich dank' dir, daß du da warst. Ich hab' dir gehört. Mit Leib und Seele – und so gern. Jetzt gehör' ich meinem alten Vater. Er hat mir die Treue gehalten – jetzt halt' ich sie ihm. Schreib mir nicht – ich würde nicht antworten. Ich weiß, daß du noch oft an mich denkst – ich denk' noch oft an dich. Und wir wollen uns jung in Erinnerung behalten, da wir nicht zusammen alt werden können. Das ist auch was Schönes. Leb wohl, Ben!«

Er sprach das ganz langsam, jedes Wort betonend, wägend, nachkostend, als ob er einen alten Brief lese. Ich wußte, daß jedes Wort so gesprochen worden war; keines mehr, keines weniger.

»Verstehst du das – ich hatte so oft an sie gedacht, dankbar, verliebt, lächelnd, traurig. Und dann war ihr Köpfchen, das eben noch zum Greifen nah war, verblaßt vor anderer Sonne oder verschwunden hinter Wolkenwänden. Jetzt – hier – in dem sonnenwarmen Naturpark eines Tessiner Dörfchens, das noch kein Hotel hat und keinen Fremdenstrom, auf einer Waldbank mit dem Blick auf den Monte Rosa fällt mich plötzlich die Sehnsucht an. Mit einer Wolfsgier packt sie mich, schüttelt mich und würgt mich. Und am Abend sitz' ich im Hotel und schreibe. Nach achtzehn Monaten zum erstenmal. Schreibe, was ich ehemals täglich geschrieben, stündlich gedacht, allnächtlich geträumt: »Ev'! liebe, liebe Ev'!«

»Und ist sie gekommen?«

In diesem Moment trat Peter Pütz ein, der jetzt im Frack war, und brachte in türkischen Täßchen auf silbernem Brett den Mokka und Zigaretten. Das Buch des Prinzen Reuß schien umständliche Bräuche für diesen dem Laien einfach erscheinenden Fall der Bedienung vorzuschreiben, denn es dauerte lange, bis Peter Pütz, lautlos, wie er gekommen, wieder verschwunden war.

Ich schlürfte rasch ein Schälchen aus und hatte zu meiner Verwunderung den Mund dick voll breiigen Kaffeesatz.

Ben mochte mein unerfreutes Gesicht gesehen haben. »Das muß so sein,« sagte er, »das ist türkisch.«

Ich dachte mir, daß es türkisch sein möge, daß ich aber den Kaffee ohne den Brei der Tiefe vorziehe.

Ben ließ in nervösem Spiel den Hahn einer alten Reiterpistole knacken. Er betrachtete sinnend das verrostete Schloß, während er langsam sagte: »Sie ist nicht gekommen. Sie schrieb mir –. Und jetzt, Adi, jetzt brauch' ich dich als Bruder, als Menschen, als Juristen . . .«

»Als Juristen –?«

»Ja, du wirst das später verstehen. Sie schrieb mir: Ich kann nicht kommen, Ben, wenn ich auch möchte. Ich kann nicht von dem Vater fort. Er ist sehr alt geworden. Und ich kann nicht – von dem Kind fort. Es ist noch so klein.«

»Was für ein Kind?«

»Ihres. Meines. Unseres. Ich hab' nichts davon gewußt – nichts. Das ist doch selbstverständlich . . . ich hätte doch sonst . . . Acht Monate nach meinem Abschied von ihr ist es geboren. Ein Junge – er heißt Joseph. Ist blond und sieht mir ähnlich.« Und plötzlich ausbrechend, wie überwältigt von Erinnerungen, Gefühlen, Freuden, Besorgnissen, warf sich Ben an meine Brust, stürmisch, wie er seit Knabentagen nicht getan, und wiederholte in heißem Flüstern immer wieder: »Ich hab' einen Jungen – er heißt Joseph! Ist blond – und sieht mir ähnlich!«

Es klopfte. Es war Peter Pütz, der, korrekt an der Tür stehend, mit leichter Verbeugung fragte, ob er Licht machen solle.

Mir schien, daß Ben jetzt gewünscht hätte, die alte türkische Pistole sei nicht alt und verrostet, sondern neu, gut imstand und geladen, damit er sofort den Peter Pütz niederschießen könne. Aber dann war er wieder im Banne der Korrektheit des musterhaften Schülers des Prinzen Reuß und sagte bloß: »Machen Sie Licht!«

Als Peter Pütz mit priesterlichen Bewegungen die Lampen angeknipst und das Zimmer wieder verlassen hatte, erfuhr ich von Ben die Geschichte der ersten und einzigen Begegnung mit seinem Sohn, der Joseph hieß, Sepp genannt wurde, blond war und ihm ähnlich sah.

Drei Stunden nach Empfang des Briefes von Ev' saß Ben im Zug und fuhr dem Gotthardt zu. Nirgends hielt er sich auf. Von Basel aus hatte er Ev' ein Telegramm geschickt und erbat Nachricht in Viktoriahotel in Heidelberg, wann und wo er sie und das Kind, möglichst sofort nach seiner Ankunft, sehen könnte. Im Hotel fand er am Abend spät ein Briefchen, das nur die Worte enthielt: »Ich bin mit dem kleinen Sepp morgen früh um neun Uhr am Scheffeldenkmal auf der Schloßterrasse.«

»Auf diese Weise,« sagte Ben, »erfuhr ich, daß mein Sohn, der Joseph hieß – nach wem wohl – »Sepp« gerufen wurde. Ich fand die Abkürzung nicht schön; fand sie bäurisch und hart im Klang. Aber in der Nacht – von Schlaf war kaum die Rede – hab' ich immer wieder vor mich hin gesagt: »Sepp – lieber Sepp – lieber, kleiner Sepp!« Eine wahnsinnige Zärtlichkeit in mir war erwacht für etwas Lebendiges, von dessen Existenz ich achtundvierzig Stunden vorher noch keine Ahnung gehabt. Für ein Menschlein, das zwölf Monate schon atmete, lachte, die Äuglein aufriß, ohne daß ich wußte: es ist da, es ist Blut deines Bluts, Atem deines Atems, Auge deines Auges. Ich malte mir aus, wie er aussehen könnte. Ein goldblondes Schöpfchen hatte er vielleicht – und Speckgrübchen in den Fingern – und Goldkäferschuhchen an den Füßchen, die noch so bewegliche Zehen hatten. Ob er auch manchmal die große Zehe in den Mund nahm, der Sepp? und ein Pfännchen machte und weinen wollte, wenn man sagte: »Ada gehn?« Alle Kinder, die ich klein gekannt, suchte ich mir vorzustellen, um ein Bild zu bekommen, wie etwa mein Junge aussehen könnte . . . Aber Elsbeth, die ich mich gut als Kind erinnerte, hatte schon ein blondes Zöpfchen, da ich, als Älterer, mit ihr spielte. Und das Davidchen erinnerte ich mich am besten in den ersten Höschen, an denen es immer die Knöpfchen zu schließen vergaß. Aber der einjährige Sepp trug doch noch keine Höschen . . . Und gegen Morgen kamen mir die ernsten Erwägungen: was wird nun? Die Freude in mir, ein Kind zu haben, so unsinnig sie sein mochte, da sie mich ohne jede Vorbereitung überfiel, war größer und stärker, als jedes andere Gefühl. Wenn mich jemand gefragt hätte: ob ich den Sepp, den ich nicht kannte, anerkennen wollte, ich hätte gesagt: »Sie Narr! Wie können Sie so dumm fragen! Meinen Jungen werd' ich verleugnen! . . .« So lag ich wach und warf mich herum. Ev's liebes rotbäckiges Gesichtchen, das ich im Wald von Badigliora zum Greifen nah vor mir gesehen, verblaßte neben dem Kinderköpfchen, auf das so viel Licht der Hoffnung, der Freude fiel, und dessen Züge ich doch vergebens zu erforschen suchte. Nebenan schnarchte eine alte Dame schrecklich. Ich hätte sie am liebsten geweckt und ihr zugerufen: »Wie können Sie schlafen, alte Dame?! Ich hab' einen Jungen, der Sepp heißt und blond ist und mir ähnlich sieht!« Es ward schon allmählich hell und hinter dem Berghang waren die Vögel munter, da fiel mir ein: Joseph Viktor von Scheffel! Joseph!! Daher! Sie hat ihn »Joseph« genannt – der Scheffel war Pate! An seinem Standbild, das ich mit enthüllt hatte und in nächtlichem Kellerfest gefeiert, haben wir die letzten Tage nach dem Examen, wie oft, gesessen. Und zu seinem Standbild hat sie mich bestellt, daß ich unterm Bilde des Heidelberger Paten zum erstenmal den kleinen Joseph sehe. Meinen Sepp, der blond ist und mir ähnlich sieht . . . Und so bin ich früh am Morgen, es war schon hell und die Amseln sangen – doch noch einmal eingeschlafen. Ganz fest, traumlos. Und hätte richtig – ähnlich dem alten Bunsen, der an seinem Hochzeitstag einen wissenschaftlichen Ausflug in die Berge gemacht hatte – beinah das Stelldichein mit meinem Jungen und seiner Mutter verschlafen.

Ohne Frühstück bin ich in eine Droschke gesprungen. Nach dem Schloß! Da fiel mir ein, ich muß doch dem Jungen was mitbringen. Kutscher – über die Hauptstraße! An einem Spielwarengeschäft halten! Das ältliche Fräulein im Spielwarengeschäft, das so früh noch keinen Kunden gewohnt sein mochte, war recht schwerfällig. Einen Fußball bot sie mir an für das Kind und einen Indianerbogen mit Pfeilen. Zwölf Monate, nicht zwölf Jahre, Fräulein! Schwerhörig war sie auch. Schließlich einigten wir uns auf einen Wollaffen und ein geographisches Lotto. Ich schämte mich schon in der Droschke. Ich beschloß, den Lottokasten im Wagen zu vergessen. Aber der Wollaffe war großartig! Er hatte eine rote Mütze auf und rote Höschen mit Goldborte an, und man konnte ihn an seinem Ringelschwanz aufhängen.

Am Schloßportal entlohnte ich den Kutscher. Der wird sich öfter solche Trinkgelder gewünscht haben. Es war ein wundervoller Herbstmorgen. Golden und blutrot hing das Laub um den gesprengten Turm. Es war, als ob er blute aus seinen Mauerwunden. Der Efeu kletterte in dunkelgrünen Schlangen dazwischen. Der Wind ging noch spätsommerlich warm durch die Wipfel. Hell lag die Sonne auf dem Pflaster des Schloßhofs, als ich vorbeikam.

Die Terrasse schwamm im Silberdunst der Frühe. Die feuchten Dächer der Stadt blendeten silbrig herauf. Ganz fein und fern hörte man Lärm und Stimmen der Straßen. Auf einer der Bänke am Scheffeldenkmal saßen zwei junge Engländer, rauchten aus kurzen Pfeifen und sahen gelassen nach den schweren Wanderstiefeln des Ekkeharddichters, der, den Kopf in der Sonne, all die Schönheit des Heidelberger Morgens zu baden schien.

Und jetzt dort – dort – – unter der Buche, an derselben Stelle, an der Willibald von Gollwitz den Entschluß gefaßt hatte, statt eines abermaligen Examenversuchs sich einer Expedition im schwarzen Erdteil anzuschließen – – Mein geographisches Lotto fiel mir ein – das jetzt in der Droschke wieder nach Heidelberg hinunterfuhr – So blöd ist der Mensch – – Dort stand ein Kinderwägelchen, ein Korbwägelchen!

Mein erster Gedanke – so blöd ist der Mensch – das hat der alte Ackerle selbst geflochten! Selbst – der alte Mann mit seinen zittrigen Fingern. Und du, Ben, Vater, Schändlicher, hast nicht gewußt, geahnt . . .

Ein kleines Menschlein umkrebst das Wägelchen, faßt mit den kleinen Händen nach Flechtwerk und Speichen, kräht laut vor Lust mit geschlossenen Äugelchen in die Sonne und tappst wieder in die Luft mit den Schuhchen – Richtig, Goldkäferschuhchen!

Der kleine Joseph – der Sepp – mein Sohn!!

Und hinter ihm, sorglich schützend die Arme ausbreitend, bereit, das Kerlchen zu stützen, aufzufangen, wenn er strauchelt, die blonde Ev'. Unverändert, vielleicht ein bißchen völliger, ein bißchen schwerer, mütterlicher – aber das Köpfchen noch so frei auf dem schlanken Hals. Und auf dem Köpfchen – also erinnerst du dich, die rosafarbenen Möwenflügelchen? Von einem Hut wanderten sie auf den andern – so sparsam war die kleine Ev'. Und die Flügelchen gehörten zu ihrem Hut, zu ihrem Köpfchen, zu ihr, wie dem Merkur seine am runden hellenischen Reisehut.

Mein Herz flog zum Zerspringen. Hämmerte, als ob ich den ganzen, weiten Weg vom Tessiner See über die Alpen hierher zu Fuß gelaufen wäre. Und dann plötzlich – plötzlich hatte ich etwas Weiches, Warmes in den Armen. Ein Körperchen, das strampelte, und sich's doch gefallen ließ, daß ich's an mich riß. Ein Menschlein, das große, blaue, erstaunte Augen machte und doch nicht losheulte, als ob es instinktiv fühlte, der Mann da gehört zu dir – der Mann da hätte längst kommen und dich in seine Arme nehmen müssen! Und dann hab' ich zwei kleine Lippen berührt, feuchte, weiche, kleine Lippen, wie Blumenblätter so nachgiebig – und der Kinderatem so rein, wie eine Blume . . .

Ich weiß nicht mehr, was wir zunächst gesprochen – weiß nicht, wer gefragt, wer geantwortet hat. Weiß nicht, ob ich Ev' einmal, ob ich sie zehnmal geküßt oder gar nicht. Ich hatte – muß ich mich schämen? Nein, ich muß nicht – ich hatte die Augen voll Tränen und meine Hände zitterten. Aber ich saß auf der Bank und hatte den kleinen Sepp auf dem Schoß; und der Affe streckte seine langen Wollarme in die Luft, als ob er auch irgend etwas auf den Schoß nehmen wollte . . .

Und auf einmal hört' ich Ev's liebe Stimme. Hörte mit einmal jedes Wort, als stünd' es, lange nachklingend, in der klaren Luft. Und die weiche, gute Stimme riß mir die alten Bilder aus der Herzenstiefe ans Licht. Ich sah das Mädel an den Vasen stehen, oben im Wohnzimmer in der Anlage, sah sie die Feldblumen aus den Sträußen mit den geschickten, rosigen Fingern umordnen und tränken und – genau im Tonfall, wie sie damals oft gefragt hatte: »Gelt, sie sind halt arg hübsch, die Maßliebchen und Kornblumen zwischen den Gräsern?« – hört' ich jetzt: »Gelt, 's ist ein arg lieb Büble, der Sepp?«

Die Engländer hatten gleichgültig ihre Pfeifen ausgeklopft und waren gegangen. Passanten mögen hier und da vorübergekommen sein. Zweier dicker Damen in Zugstiefeln und Lodenmänteln erinnere ich mich sogar noch, weil der Sepp ihnen grundlos zujauchzte und unbedingt der einen schlecht gewickelten Schirm haben wollte. Sonst sah und hörte ich nichts. Nichts als das Kind.

Wir spielten mit dem Affen, wir drei. Wir buken Sandkuchen. Ich hatte nasse Finger und die Halbschuhe voll Sand. Wir sammelten gelbe Blätter in meinen Hut und ließen sie, wie einen Goldregen, fliegen . . .

Wie lange? Ich weiß nicht. Die Zeit stand still.

Nur das eine weiß ich jetzt: viel zu kurz, viel, viel zu kurz!

Denn, Adi, kein Blick nach dem Bosporus mit all seinem Glanz, seinen Segeln, seiner Mythenherrlichkeit und dem Farbenreichtum seiner Ufer, keine Ausschau durch die geborstenen Säulen des Parthenon auf den veilchenblauen Salaminischen Golf, nicht die heiligen Reste der Tempel von Ephesus, nicht Miramare im Schmuck seiner verträumten Gärten – nichts, nichts hat mir die Seele erschüttert, gewärmt, mit Jubel und Wehmut zugleich erfüllt, wie der Anblick dieses blonden Bübchens. Dieses ahnungslosen Kindes, das zu meinen Füßen einen Wollaffen mit nassem Sand fütterte.«


 << zurück weiter >>