Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Sechstes Kapitel

Nach aufgehobener Tafel bildeten sich zwanglose Gruppen.

Das Hochzeitspaar war in aller Stille verschwunden, eine kleine Schweizerreise anzutreten. Die Mutter kam mit schlecht verwischten Tränenspuren, aber doch glücklich lächelnd, wieder zur Gesellschaft und hing sich in des Vaters Arm.

Tante Tüßchen winkte am Balkon einer gemütlich fahrenden Gepäckdroschke nach, von der sie irrtümlich annahm, daß sie das junge Paar entführe. Als sie entdeckte, daß ein Puppenwagen auf dem Dache der Droschke stand, brach sie die Begrüßung ab. Pfarrer Knospe verwickelte in einer Ecke Onkel Ammann in ein tiefschürfendes Religionsgespräch, das dieser nicht gesucht hatte. Malwine Tomasius schrieb sich an Vaters Schreibtisch nach dem Diktat Tante Emmas, die durch ihre Handarbeiten berühmt war, Adressen auf, wo man angefangene Stickmuster billig kaufen könne; was sehr umsichtig von ihr genannt werden muß, da niemand in ihrer Familie Talent oder Geduld zu solchen Arbeiten besaß. Der Schauspieler Erwin Schuster bedauerte, daß er – ganz gegen seine Gewohnheit – soviel gegessen habe, so daß es ihm schwer falle, jetzt unmittelbar nach dieser köstlichen Mahlzeit etwas Künstlerisches zur Unterhaltung der verehrten Anwesenden beizutragen. Er stellte aber bereitwilligst für eine spätere Stunde den Monolog Wallensteins in Aussicht. Tante Tüßchen sah darin eine unpassende Programmnummer für eine Hochzeit, da sie sich richtig erinnerte, daß dieser gesprächige Feldherr häufig in Eger von zwei talentlosen Episodenspielern gemordet wurde. Sie hörte aber überhaupt nicht gern vom Tode und schenkte sich deshalb – besonders seit ihr ein Plüschmantel in der Schauspielhausgarderobe vertauscht worden war – gern bei Trauerspielen den letzten Akt.

Mir war sonderbar zumute. Ich war, mein noch nicht allzu ernst genommenes juristisches Studium in Freiburg für drei Tage unterbrechend, von der Dreisam zum Main gekommen, die Schwester zu verheiraten. Die Feier, die Reden, der Weingenuß verstärkten in mir das wehe Gefühl, daß ich hier ein Stückchen Leben verliere. So herzlich und intim konnte ich, nachdem nun ein Mann fürs Leben von ihr Besitz ergriffen, mit der um ein Jahr Jüngeren wohl nicht mehr stehen. Wie hatten wir uns geliebt und vertraut! Ich war der erste, dem sie ihren leisen Verdacht mitgeteilt hatte, daß jenes merkwürdige Buch, das Kurt im Erdbeertempelchen zu Pyrmont gefunden haben wollte, überhaupt gar niemand verloren habe, sondern daß es von dem listigen Hauptmann käuflich erworben sei. Und sie war die erste, der ich gestanden hatte, daß ich nie im Leben ein schöneres, reicheres Blond gesehen habe, als das Haar, das Käthe Tomasius allmorgendlich zu einem leuchtenden Haarkrönchen auf ihrem hübschen Mädchenköpfchen ordnete. Mathilde würde mir schreiben, gewiß. Schon aus der Schweiz und auch später. Und ich ihr auch. Das war schon von Freiburg nach Frankfurt so gewesen. Aber sie zeigte vielleicht Kurt meine Briefe, der in seiner männlichen Reife mir überlegen und doch immerhin ein Fremder war. Und alles würde sie mir wohl auch nicht mehr schreiben. All die kleinen Scherze und Neckereien, die, oft von stichelnden Verschen gewürzt und pointiert, in unserem geschwisterlichen Leben eine so große Rolle gespielt, würden seltener, frostiger werden. Ein Dritter, den all das eigentlich nichts anging, würde mitlachen wollen oder erstaunte Fragen stellen, da er all die kleinen ulkigen Andeutungen und Beziehungen gar nicht verstehen konnte.

Ich kam mir mit einmal verlassen und bemitleidenswert vor, ein peinlicher Seelenzustand, der nach dem reichlichen Genuß ungewohnter, schwerer und guter Weine nicht selten beobachtet wird. Ich sehnte mich nach Ablenkung. Und da der Major Ottokar von Wüllich, dessen Galanterie bei den Backfischen anfing und bei den Urgroßmüttern noch nicht endete, gerade Käthe Tomasius, die bewundernden Blicke ins glitzernde Gold ihres Haarkrönchens senkend, mit allerlei Jagdspässen fesselte und ihre unverdorbene Munterkeit aus dem Lachen gar nicht herauskommen ließ, beschloß ich, erzürnt über diesen Aufschneider, der seelischen Genügsamkeit Käthes wie einer Untreue grollend, mein Brüderlein Ben zu suchen.

Im Salon war er nicht. In Vaters Zimmer, wo Pfarrer Knospe unter den Zigarren gerade die schwerste und schwärzeste suchte, war er auch nicht. Ein Blick ins verlassene Eßzimmer belehrte mich, daß er sich hier bei den Trümmern des Festmahls aufhielt und seine kleinen Damen Ruth und Elsbeth emsig darin unterwies, wie man aus den fast geleerten Champagnerkelchen, indem man ihre Neigen zusammenschütte und mit etwas Rotwein färbe, noch immer ein recht anmutiges Getränke gewinnen könne.

»Ben!«

»Ach, du bist's.«

Ben schien erleichtert. Er hatte wohl vermutet, der Vater suche ihn, der mehrfach über die Tafel hin schon beziehungsvolle Blicke von den Getränken zu seinem Jüngsten hatte wandern lassen.

»Was machst du denn da, Ben?«

»Wir spielen Kellermeister.« Der Pluralis bezog geschickt die harmlose Ruth in seine zweifelhafte Unternehmung ein.

Dem Mädel aber, in dessen sicheren Bewegungen schon die junge Dame sich leise andeutete, schien es richtiger, sich harmlos singend zur Gesellschaft zu begeben. Elsbeth folgte verlegen. Und so blieb ich mit Ben allein.

Der ungewohnte Genuß alkoholischer Flüssigkeiten hatte seinen Bubenkopf gerötet. Seine Augen glänzten noch lebhafter, als sonst, und seine Sprache nahm hier und da ein selbstgetürmtes Hindernis, das sie sonst nicht kannte.

»Wie ist dir zumute, Ben?«

»Wie einem Quintaner,« lachte er stolz.

»Ich meine, weil nun doch unsere Mathilde . . .?«

»Gott, sie hat's ja selbst gewollt.« Ben äußerte das mit der Miene eines grollenden Braven, der vergeblich sein Bestes getan hat, einen leichtsinnigen Kameraden vom gähnenden Abgrund zurückzuziehen.

»Hast du ihr noch gute Reise gewünscht?«

»Nein. Der Kurt wär' ja doch wieder dabei gewesen.«

Das war dieselbe Logik, die mich die Heimlichkeit der Abreise nicht hatte stören lassen.

»Du, weißt du,« Bens junge Stirne zog greisenhafte Falten. Er nestelte ärgerlich an seinem schon etwas angewelkten Myrtenreis im Knopfloch, »weißt du, der ist wohl jetzt immer dabei? Aber das weiß ich: wenn ich einmal heirate und meine Frau hat Brüder – also die, dann . . .«

Es wurde mir nicht ganz klar, was Ben in diesem noch nicht allzu nahgerückten Zeitpunkt Verständiges zu unternehmen gedachte. Doch schien es so, als ob er entschlossen sei, den Brüdern seiner Frau ganz erlesene Ehrungen vorzubehalten.

»Die Hauptsache ist, Ben – er liebt sie.«

»Gott, sonst braucht' er sie doch nicht zu heiraten.«

Das war ja nun wieder richtig. Denn Schätze hatte unser redlich sich mühender Vater nicht gesammelt, die etwa einen skrupellosen Mitgiftjäger locken konnten. Ein Kavalier, wie Kurt, grad gewachsen, Hauptmann, blond, konnte überall – in Frankfurt schon gar – wirklich ganz andere Partien machen.

»Hör, Adolf, wenn du mich nicht verrätst –«

»Hab' ich dich schon einmal verraten?«

»Nein. Ja und dann, wenn du mich – den Rest da noch austrinken läßt, dann erzähl' ich dir etwas.«

»Benchen, keine Bedingungen! Aber – wenn dein Herz daran hängt, trink' das Schlückchen noch. Ich seh' nicht hin.«

Ben nickte vergnügt, trank aus dem hohlen Fuß des Biedermeierglases die letzten matten Schaumperlchen, setzte behutsam hin und sagte, indem er mich verschmitzt ansah:

»Die Tante Leonie kann nächstens auch in die Schweiz fahren.« Dabei stand er auf einem Bein, wie ein Storch, und rieb sich listig blinzelnd die Nase.

»Wie meinst du das? Die Tante Leonie –?«

»Pscht! Also –« Er dämpfte seine Stimme zum Verschwörerflüstern, »du, vorhin – daneben – der Doktor Honneff, der hat ganz allein mit ihr auf dem Sofa gesessen – unter dem langweiligen Gummibaum, der alle Jahre ein Blatt bekommt. Und er hat die Hand auf dem Herzen gehabt – also so – und hat ihr gesagt . . .«

»Ben, du hast dich doch nicht versteckt gehabt?«

»Aber ich kann mich doch nicht hinter dem einen Blatt von dem Gummibaum verstecken!« Ben war gekränkt.

»Aber du hast gehorcht?«

»Gehorcht! Er hat doch so laut gesprochen . . . Du, weißt du, ich glaub', der hat auch viele Gläser ausgetrunken – viel mehr, als ich.«

»Stell das Glas hin, Ben!«

»Ist ja nichts mehr drin. Also seine »Muse« wär' sie, hat er gesagt – eine von den neun, weißt du.«

»Ja, ich bin im Bilde.«

»Welche, weiß ich nicht mehr. Die haben alle so verrückte Namen. Und dann hat er einen Vers aufgesagt. Wahrscheinlich einen von sich. Ich glaube, Dichter sagen nie Verse von anderen auf. Vielleicht hat er ihn auch grad erst gemacht . . . Und die Tante Leonie ist ganz blaß geworden, genau wie manchmal, wenn sie zuviel Klavier gespielt hat . . .«

Ben unterbrach sich und lauschte.

Aus dem Nebenzimmer erklang Erwin Schusters kräftiges Organ zu tiefer Nachdenklichkeit gedämpft:

»Wär's möglich? Könnt' ich nicht mehr, wie ich wollte?
Nicht mehr zurück, wie mir's beliebt? Ich müßte
Die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht? . . .«

»Au, fein! Sie spielen drin Theater!« Bens Jungengesicht leuchtete verklärt auf.

»Schuster rezitiert bloß den Wallensteinmonolog.«

»Fein! Ich lauf' rasch durchs Ställchen – da komm' ich dicht hinter ihn.« Und fort war er.

Ich trat leise in den Salon, wo der Liebling der Frankfurter, Erwin Schuster, das gerötete Schlemmerhaupt versonnen gesenkt, den finsteren Blick in den Teppich bohrend, des Friedländers Unentschlossenheit in Schillerschen Jamben ausströmte.

Onkel Ammann liebte fünffüßige Jamben nach einer guten Mahlzeit überhaupt nicht, und sein Gesichtsausdruck vermochte das leider nicht zu verbergen. Pfarrer Knospe, dem sein geistlicher Beruf den Theaterbesuch nicht empfahl, genoß die Schönheiten einer langen, gebundenen Rede, die er mal nicht selber hielt, mit kindlicher Dankbarkeit. Margarete Morgenthau flüsterte leise Tante Emma ins Ohr, daß für sie »zu so was« doch das Kostüm gehöre, und daß sie ein Wallenstein störe, der bei hochverräterischen Erwägungen auf der prallen Frackweste mit der goldenen Uhrkette spiele. Meine gute Mutter aber sah still versonnen vor sich hin. Der Herzog von Friedland, das Grauen des Fatalisten in der Stimme, stellte in diesem Augenblick fest:

»Einmal entlassen aus dem sicheren Winkel
Des Herzens, ihrem mütterlichen Boden,
Hinausgegeben in des Lebens Fremde,
Gehört sie jenen tück'schen Mächten an,
Die keines Menschen Kunst vertraulich macht . . .«

Und er meinte damit, als der Wallenstein, den er vorstellte, seine »Tat«.

Meine Mutter aber hörte und verstand das anders. Der mütterliche Boden ihrer Seele war aufgewühlt. In ihren Augen blinkte es feucht, und ihr Herz saß, fern von Pilsen wie von Frankfurt, mit ihrem Kinde im Schnellzug und fuhr über Darmstadt nach Basel.

Als Erwin Schuster geendet hatte, entzog er sich in effektvoller Bescheidenheit rasch allen Ovationen durch das Versprechen, dem Wallenstein später Richard den Dritten folgen zu lassen, der ihm noch besser liege.

Ben hatte sich an mich herangepirscht. »Was macht er denn nun mit dem schwedischen Obersten, der Wallenstein?«

Gerade wollt' ich's ihm erklären, da trat Tante Leonie an uns heran. Sie war sichtlich erregt. Die Flügel ihrer schönen geraden Nase bebten.

»Habt ihr – habt ihr nicht den Doktor Honneff gesehen?«

Und da geschah das Grausame.

»Der liegt im Ställchen,« Ben sagte das, als ob es sich um ein vergessenes Wäschestück handelte und nicht um einen Menschen von Bedeutung. Seine Gedanken waren noch beim schwedischen Oberst vom blauen Regiments Südermannland.

»Wie denn –? Er liegt –?« Tante Leonie zuckte schmerzhaft zusammen. Sie nahm wohl einen Unglücksfall an. Ohne eine Antwort Bens abzuwarten, eilte sie nach dem Ställchen, das heute als Abstellraum für Schüsseln, Blumen und anderes Entbehrliche dienen mußte.

Ich folgte ihr, Übles ahnend, indem ich Ben an der Hand mitzog.

Auf dem Sofa im Ställchen lag er wirklich, der Dichter Otto Honneff. Hatte sich, nach dem reichlichen Weingenuß vom Schlaf übermannt, wohl nur zu flüchtiger Ruhe da niedergelassen. Wollte bloß ein Nickerchen machen oder nachdenken. Seine Natur aber hatte anders beschlossen. Er war zu schwerem Schlummer umgesunken und hatte sein Haupt sanft in einen bereitgestellten Kranzkuchen gebettet, während seine Linke, einen Halt suchend, in einer Schüssel Konfitüren lag. Aus seinem befriedeten Antlitz war das Geistige geflüchtet und sein Atem ging schnarchend in gewaltigen Stößen, als wollte er den von der gebauschten Hemdbrust gegen den Mund gestoßenen schütteren Bart gewaltsam an die Decke blasen.

Tante Leonie stand erstarrt. Dann wendete sie sich rasch und rauschte wortlos an uns vorbei.

Sie tat mir leid, und ich war sehr ärgerlich auf Ben.

»So was tut man doch nicht, Ben?«

»Was denn? Sie braucht ja nicht selber nachzusehen – ich hab's ihr doch gesagt, daß er da liegt. Wenn sie mir nicht glaubt . . .«

»Jetzt hast du vielleicht zwei Menschen für immer getrennt.«

»Wieso –?« Ben stutzte nachdenklich. Dann kam in sein sonst so fröhliches Gesicht ein finsterer Zug. »Warum hat nicht Kurt auch mal so gelegen . . . mit dem Kopf in einem Kranzkuchen?«

»Ben – jetzt schäm' dich aber!«

»Ich schäme mich schon,« sagte Ben, rotübergossen und haschte nach meiner Hand.

»Komm, Ben, er ist müde. Lassen wir ihn schlafen!«


Tante Leonie ist an jenem Abend nicht mehr heraufgekommen aus ihrer Wohnung im ersten Stock.

Sie hat die Kerzen angesteckt – eine andere Beleuchtung brannte sie nie – und hat aus ihrem Kaunitz ihr Testament vorgenommen. In diesem schon vor Jahren abgefaßten Schriftstück hatte sie ihre Schwester Emma zur Erbin eingesetzt. Jetzt überlas sie das einst Geschriebene aufmerksam, nahm die Feder, die jüngst erst die letzte Dichtung Otto Honneffs gewissenhaft in das Poesiealbum eingetragen, und schrieb in ihrer steilen, deutlichen, nur manchmal seltsam aussetzenden Schrift diesen wichtigen Zusatz:

»Stirbt aber meine geliebte Schwester Emma vor mir, so vermache ich alles, was ich besitze, meinem Neffen Benjamin Mewes, dem jüngsten Sohn meiner jüngsten Schwester, zum Dank dafür, daß er, als Kind, das mein Engel werden sollte, in unbewußter Fürsorge mich vor der größten Dummheit meines Lebens bewahrt hat.«

Ein paar Worte dieser Nachschrift, die ordnungsgemäß mit Unterschrift und Datum versehen ist, sind wie von kleinen Wassertropfen verwischt gewesen, als man das Papier fünf Jahre später fand.


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